Eugene Scribe: Das Glas Wasser; Theater Rudolstadt

Ist es pure Bosheit, einen Mann des Jahrgangs 1951 wie Herbert Olschok permanent als Altmeister zu bezeichnen, als hätte er schon in der Saison 1957/58 in Rudolstadt „Das Glas Wasser“ inszeniert und sei nun in seinen späten Jahren an den Ort seiner frühen Triumphe zurückgekehrt? Tatsächlich hieß damals der Regisseur Eberhard Richter, das Bühnenbild verantwortete Fritz Werner und die Kostüme Monika Vogel. Gisela Kister spielte die Königin Anna, Elisabeth Braun die Herzogin von Marlborough, Willy Schweighöfer den Viscount of Bolingboke. Masham und Abigail waren Walter Fritzsche und Eva Korsikowski. Wie viele Theaterfreunde leben wohl noch in und um Rudolstadt, die sich an das Spiel damals erinnern können oder auch nur noch wissen, dass sie es sahen? Eugene Scribes Lustspiel mit Musik passte DDR-Theatern gut ins Konzept, wie mir die Programmhefte des Deutschen Nationaltheaters Weimar, des Elbe-Elster-Theaters Wittenberg oder der Städtischen Bühnen Halle anzeigen, die mit dem Rudolstädter gemeinsam meinen gesammelten Altbestand verkörpern. Es war lustig, man konnte es als Kritik am faulenden, sterbenden Feudal-Absolutismus deuten und hatte außerdem fast mühelos noch ein Kolleg in Sachen Kriegsursachen, Kriegsgewinnler und politischer Moral sowie bürgerlicher Presse. Was für ein Angebot!

Kurios: daran hat sich bis heute wenig geändert. Wenngleich ich sofort einräume, dass mir der Gedanke, angesichts dieses Lustspieles die Namen Donald Trump, Angela Merkel, Bill Clinton und Monika Lewinsky assoziieren zu müssen, im trunkenen Traum nicht gekommen wäre. Das Publikum der fünften Vorstellung, oder war es schon die sechste seit der Premiere am 12. November, war mit all den offenbaren Aktualitäten herzlich zufrieden, es gab immer wieder beifälliges Lachen, es gab Szenenapplaus und zweimal wurde es richtig laut, zunächst, als Ulrike Gronow Marcus Ostberg fragte: „Darf ich Arthur zu Ihnen sagen?“ und er antwortete: „So heiße ich ja mit Vornamen.“ Und dann, als Matthias Winde Anne Kies riet: „Flieh deine Verwandten, sobald du ihrer ansichtig wirst.“ Nein, die hohe Politik hinter und zwischen den Zeilen war es nicht, die schließlich einen langen und herzlichen Schlussbeifall herausforderte. Es war Sommertheater im Winter und ich will gar nicht erst so tun, als überraschte mich das. Ich bin der zu Füßen der Heidecksburg wenig beliebten, aber keineswegs unbegründeten Ansicht, dass auf diesem weiten Felde liegt, was in Ehren ergraute Lehrerinnen heute Kernkompetenz nennen müssen dürfen. Für jüngere Altmeister: das können sie eben, die Rudolstädter, anderes leider nicht immer.

Verena Blankenburg hätte mir schon, als ich sie zuletzt in der Nebenrolle des Daniel in Schillers „Die Räuber“ sah, anderthalb Strophen Lobgesang entlockt, heute nenne ich sie zuerst, weil sie einfach großartig war in ihrer wesentlich umfangreicheren Rolle als Königin Anne Stuart. Eine Königin, die sich langweilt, die nicht Herrin ihrer selbst ist, das kennen wir von englischen Königinnen besonders prägnant aus Schillers „Maria Stuart“, wo die große Elisabeth es tief beklagt. Anne aber ist keine große Königin, sie ist auf dem Thron streng genommen eine glatte Fehlbesetzung, aber eine mit Sehnsüchten, eine mit Ängsten, eine, die eher zaudert als zupackt. Und dann ist da dieser Arthur Masham (Marcus Ostberg), den das gehobene Ladenmädchen Abigail (Anne Kies) liebt, das er auch liebt. Auf den hat die Königin ein Auge geworfen, auf den hat die Herzogin von Marlborough ein Auge geworfen. Wie Verena Blankenburg dieses Hin- und Hergerissensein spielte, wie sie Höchstform gerade dann vorführte, wenn sie ohne Text nur spielte, alle Achtung. Und Ostberg oszillierte zwischen tumber Torheit, naiver Gockelhaftigkeit, erfrischender Unbedarftheit, Begriffsstutzigkeit, entwaffnender Ehrlichkeit und infantiler Vertrauensseligkeit. So einer ist stolz auf die Grube, die er sich voller Schwung selbst gräbt.

Eine Seite des Lustspiels, das am 17. November 1840 erstmals im Théâtre français in Paris aufgeführt wurde, könnte noch heute eine schöne Debatte befeuern und ist keineswegs nur für Menschen interessant, die mit der Losung „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“ leben durften in den Jahren, als eine Friedensbewegung auf der anderen Seite noch sechsstellige Menschenzahlen auf die Beine brachte. Kann es sein, dass auch Menschen für den Frieden sind, die die politische Unmoral gepachtet haben, Intriganten, Schleimer, Manipulatoren? In „Das Glas Wasser“ ist der Hauptfriedenstreiber ein schlimmer Finger, ein zugegeben herrlich schlimmer Finger. Man mag einräumen, dass zu Zeiten des Spanischen Erbfolgekrieges die Kriege und die Frieden noch anderen Kalibers waren, ihre jeweiligen Vertreter auch deshalb unterschiedliche Charaktermasken trugen, dennoch: Denken wir bei Frieden nicht immer an Kirchenkeller und Baskenmützenträger, die sich an Zäune ketten? Und nun dieser von Matthias Winde exzellent verkörperte Bolingbroke als Apostel Intrigantus auf Friedenspfaden? War übrigens auch eine der Edel-Szenen in Rudolstadt: wie Verena Blankenburg die Rhetorik Windes mit den Wirkungen des Krieges auf England repliziert: Kosten einer einzigen Schlacht, Tote eines einzigen Sieges.

Ein 1951 geborener Früh-Altmeister, der noch fünf gemeinsame Lebensjahre mit einem anderen Altmeister hatte, einem in Augsburg geborenen Verfremdungs-Praktiker namens Brecht, der baut dann auch schon mal einen guten alten V-Effekt ein in den vierten Akt und zieht die Lacher auf die Seite von Joachim Brunner (Thompson) und Jochen Ganser (Marquis von Torcy). Das Publikum geht mit, wenn es direkt angesprochen wird von der Rampe, und es geht auch mit, wenn da über die tote Zeit in der Kantine gesprochen wird, bis der nächste kurze Auftritt einen der beiden Nebenrollen-Mimen ruft. Es geht mit, wenn der Bolingbroke mal so aus Spaß Buddenbrook genannt wird. Das ist halt Komödie, deshalb spielt man sie. Die Gardinenpredigt im Theater erfrischt zwar den korrektheitsgeschüttelten Kritikus Miniaturis, aber weinen kann ich auch zu Hause, wenn ich Zwiebeln spalte. Alle, denen es gefallen hat, können Heiligabend an Eugene Scribe denken, da ist sein 225. Geburtstag, und sich sagen: da hat er nun 460 Stücke, sechzig Opernlibretti und Romane geschrieben, da liegt er in Paris auf dem Friedhof Pere Lachaise, aber viel mehr als „Das Glas Wasser“ ist von ihm nicht geblieben. Als ob das wenig wäre nach so langer Zeit. Da gibt es Träger schönster Preise, deren herrliche Werke nach einem Jahr in den Ramschkatalogen landen.

Hätte Volker Klotz sein Buch „Bühnen-Briefe“ nicht schon 1972 veröffentlicht, sondern jetzt erst mit den Vorarbeiten begonnen, dann wäre ein Theaterabend in Rudolstadt ergiebig für ihn geworden. Was hat der verfrühte Altmeister Olschok da nicht alles in die riesigen Ärmelaufschläge von Kostümbildnerin Teresa Monfared verstaut, vor allem eben Briefe. Sie tauchen auf, man setzt sich auf sie, man schiebt sie sich in den Ausschnitt, man faltet sie zusammen und wieder auseinander, man unterschreibt sie und nimmt sie nicht zur Kenntnis, man unterschlägt sie. Bei Klotz taucht der Name Scribe nur ein einziges Mal auf, nicht aber der Briefe wegen. Man war auch damals schon nicht perfekt. Anne Kies musste als Abigail keineswegs nur immer „Oh Gott!“ sagen, obwohl sie es fast so oft sagte wie, nein den Vergleich mit Nine-Eleven verkneife ich mir. Sie ist eine ins Chargieren Geratende, der das Faustdicke hinter den Ohren hervorleuchtet. Man muss das so mögen und ich mochte das so. Warum ich Opern meide, habe ich selten reflektiert. Annika Rioux bestätigte mit ihren Sopran-Partien meine Vorurteile. Ich verstehe einfach nichts, egal in welcher Sprache diese Sopraninnen singen, warum aber singen sie Text, wenn den einfach die Tonhöhe verschluckt. Ich bin ein schrecklicher Banause, mit diesem unehrlichen Bekenntnis schließe ich.
www.theater-rudolstadt.de


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