Sophokles: Antigone; Landestheater Coburg

Die gute Nachricht nach vorn: Konstanze Lauterbachs Inszenierungsidee funktioniert. Man kann sich natürlich fragen, ob eine „Antigone“ ohne irgendeine Art Vorspiel hinfort nicht mehr denkbar sein darf, weil aus unterschiedlichen Gründen angenommen wird, man könne ohne Vorgeschichte diese Tragödie einfach nicht spielen. Dann müsste man sich grundsätzlich von jedem Vorhaben, eine dieser Tragödien für sich auf die Bühne zu stellen, verabschieden, denn es gibt schlicht und ergreifend keinen einzigen überlieferten Text, der einen Mythos zur Gänze beinhaltet. Man müsste hinfort den Stoff, nie das Stück inszenieren. Was aber wäre der Stoff? Alles, was irgendwann beliebig vielen Autoren eines beliebigen Zeitraums etwa zu Antigone aus der Feder floss? Spätere Deutungen dazu oder keinesfalls dazu? Es gibt ja, um zwei der bekanntesten neuen Fassungen nur zu nennen, eine Antigone von Jean Anouilh, eine von Walter Hasenclever. Es gab eine von Euripides, die dummerweise nicht erhalten ist, deren Fragmente aber nach Auskunft von Experten eher eine schwächere Fassung annehmen lassen als es die des Sophokles war (und ist). Wie auch immer: Regisseurin Konstanze Lauterbach (Jahrgang 1954) hat sich für ihre vierte Regiearbeit in Coburg dazu entschieden, Motive aus „Die Phönizierinnen“ des Euripides in eigener Fassung dem Sophokles-Text in der modernen Übertragung von Peter Krumme voranzustellen.

Der Zuschauer erlebt also gespielte Labdakiden-Sage als Teil 1 des Abends und vor der Pause noch den Beginn des Sophokles, den Dialog zwischen den Schwestern Antigone und Ismene. Die eine will, man weiß es dann doch, den Befehl ihres eben zur Macht gekommenen Onkels Kreon missachten, der die Bestattung des toten Polyneikes (Thorsten Köhler) bei Todesstrafe verbot. Die andere fügt sich dem Spruch des neuen Königs und verweist auf ihre mangelnde Kraft. Antigone (Anne Rieckhof) ist hart und bereit, den Tod als Preis für ihre Widersetzlichkeit auf sich zu nehmen. Ismene (Sarah Zaharanski) sieht keinen Sinn im drohenden Opfer ihrer Schwester. Was sie sagt, kann nur bekennender moralischer Fundamentalismus einfach beiseite schieben und verächtlich machen. Die Bühne (Ariane Salzbrunn) wird von Badewannen beherrscht. Ein solches Utensil deutet eher in Richtung der Atriden-Sage, wird doch der heimgekehrte König Agamemnon von seiner Gattin im Bade getötet mit all den Folgen, die auch wieder diverse überlieferte oder nur dem Sinn nach aus Fragmenten bekannte Tragödien nach sich zog. In Coburg sind die Wannen multifunktional: der Chor kann in ihnen verschwinden, der tote Polyneikes kann in einer knien. Auf umgedrehte Wannen kann man sich stellen, auf umgedrehten Wannen kann man sitzen, ein Eimer tut es im ersten Teil für Mutter Iokaste (Dorothea Arnold) auch. Als sie die Söhne bremsen will.

Der erste Teil bis zur Pause führt immerhin vor, dass der mörderische Streit der Brüder Polyneikes und Eteokles (Frederik Leberle) die einseitige und im eigenen Interesse vorgetragene Darstellung des Königs Kreon nicht trägt. Denn es gab eine Absprache zu einer Art Königs-Rotation, an die sich Eteokles nicht nur nicht hielt, sondern die er auch zusätzlich brach, indem er Polyneikes verbannte. Wenn dieser also mit Verbündeten sein Recht gewaltsam durchsetzen will, ist das nicht irgendeine Aggression von außen. Konstanze Lauterbach bringt allerhand Blut auf die Bühne, in der Antike vollkommen undenkbar, undenkbar auch die Dopplung eines Botenberichts mit bebilderndem Spiel. Wobei der große Vorhang im Bühnenhintergrund mit dem Bild des König Ödipus, der sich beide Augen ausriss, dennoch eine starke Idee ist, man hätte vielleicht nicht zwingend auch noch den Namen Ödipus mit hinschreiben müssen. Es soll Zuschauer geben, die eine Assoziation gern selbst haben und sich freuen, eine gehabt zu haben, die ihnen einen preiswerten Stolz auf sich vermittelt. Bei Sophokles aber, dies zur Erinnerung, kommt dies alles gar nicht vor. Die attischen Tragiker setzten auf allgemeines Vertrautsein mit den Hauptmythen ihres Volkes. Die attischen Tragiker mussten auch mit keiner Verwunderung über einen Chor rechnen. In Coburg gab es nur ganz kurze Irritationen, als der Chor der thebanischen Frauen aus Männern mit schwarzen Perücken bestand.

Die Inszenierungsidee der Regisseurin funktionierte auch, weil Achim Gieseler eine Bühnenmusik zu allem lieferte, die das Geschehen fast wie eine dezente Filmmusik begleitete, nie in die aggressive Symbolhaftigkeit verfiel, wie sie derzeit auf vielen Bühnen gepflegt wird mit dem Abspielen von Filmmusik, die die Kenntnis der entsprechenden (Kult-)Filme voraussetzt und vor allem die fortgeschrittene Kenntnis der englischen Sprache. In seiner äußerst empfehlenswerten Darstellung „Die griechische Tragödie“ (Stuttgart, Reclam 2000) hat Gustav Adolf Seeck die allgemein bekannte und immer neu reproduzierte Lesart der Antigone als Symbol für Widerstand gegen staatliche Willkür eine „sehr vereinfachende Interpretation“ genannt. Konstanze Lauterbach inszeniert ihre „Antigone“ sichtbar und hörbar gegen diese vereinfachende Interpretation. Und sowohl Niels Liebscher als Kreon wie auch Anne Rieckhof als Antigone setzen es mit starken Akzenten um. Dass beide, ohne damit penetrante Sinngebung zu zelebrieren, mehrfach „Ich!, Ich!, Ich!, Ich!“ schreien dürfen, ist mir der prägnante Beleg für eine nicht nur gedachte, sondern für eine durchdringende Verarbeitung des Sophokles-Textes. Antigone ist keine Vorwegnahme christlicher Bergpredigt-Ethik, sie ist auch nicht das Gute im Gegensatz zum Bösen. Das gezeigt zu haben, auch wenn es natürlich keine neue Einsicht ist, ist ein gewichtiges Verdienst dieser Coburger „Antigone“.

Niels Liebscher war der facettenreiche Neu-König Kreon, im ersten Teil noch der Nur-Bruder der Iokaste (Dorothea Arnold zeigte sich in dieser Rolle ganz stark, als Eurydike nach der Pause blieb ihr weniger Spielraum), der dann im Dialog mit seinem Sohn Haimon (Oliver Baesler) und in der Reaktion auf die Punkt für Punkt eintreffende Weissagung des Sehers Teiresias (abermals Dorothea Arnold, im Programmheft seltsamerweise für diese Rolle ungenannt) zu erschüttern vermochte, das nun ganz und gar im antik-aristotelischen Tragödiensinn. Oliver Baesler und er trieben sich gegenseitig zu starker Wirkung, Baesler sollte vielleicht darauf achten, das Melodramatische in der Körpersprache, wenn er nicht steht, zu dämpfen. Er erinnerte phasenweise an Uwe Seeler nach der Niederlage 1966 im Wembley-Stadion und woran „uns Uwe“ damals erinnerte, war Schmiere. Auf dem Platz neben mir erhielten Liebscher und Baesler die Höchstnoten des Abends. Thorsten Köhler war außer Polyneikes auch noch Bote und Wächter. Ihn unterzog Kreon einer Art Waterboarding, eine der Wannen enthielt tatsächlich Wasser. Den thebanischen Ratsherren Niklaus Scheibli, Jörg Zirnstein, Thomas Straus und Boris Stark trug Kreon die Grundsätze seiner Staatsführung vor, woraufhin sich alle unter Balkonrasenmatten verkrochen. Dabei waren seine Maximen, und sind es auch unverändert, alles andere als durchweg verurteilenswert oder ausschließlich tyrannisch.

Ich zitiere Rudolf Schottlaender, der den berühmtesten Satz der „Antigone“ so übersetzt: „Mitfeindin war ich nie, Mitliebende seit je.“ Er beharrt darauf, dass bei Sophokles nichts von Aufgabe oder Bestimmung (mitzulieben bin ich da, bin ich geboren oder wie auch immer in dieser Art) steht: „Es handelt sich um ein persönliches Nichtanderskönnen, das durch Geburt und Entwicklung determiniert ist. Aber eben dies Soseinmüssen befindet sich in Übereinstimmung mit jener heiligen Pflicht, dass die Schwester den Bruder zu bestatten hat.“ Dazu ergänzend eine Frage von Gustav Adolf Seeck: „Vielleicht ist sie nur eine Egoistin, die gern besser als andere Menschen sein möchte?“ Die Coburger Inszenierung lenkt in diese Richtung, ohne die antike Heldin gleich zur Spottgestalt penetranten Gutmenschentums zu degradieren. Nur als Möglichkeit formuliert es der damit letztmalig zitierte Seeck: „Sophokles könnte vielleicht am Beispiel Antigones und Kreons vor ethischem Rigorismus gewarnt haben.“ Selbst wenn das seine Absicht nie gewesen wäre, dem Spiel kann man diesen Sinn, ohne dem Text Gewalt anzutun, durchaus abgewinnen. Auch der erste Teil mit seiner vor den Augen der Mutter scheiternden Versöhnung der Brüder lenkt den Blick in solche Richtung. Wenn Antigone vom „schönen Ruhm“ spricht, formuliert sie da nicht eine „Ästhetik des Widerstands“? Am Ende pusten alle den Staub/die Asche vom Boden. Verdient starker Beifall.
www.landestheater-coburg.de


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