Schiller: Die Jungfrau von Orleans; Bühnen der Stadt Gera

Der Anfang unter Brüdern und Schwestern: Schillers Johanna hat mit jener Johanna, die man in Frankreich Jeanne d'Arc nennt, nicht wirklich sehr viel zu tun. Er hat in die Geschichte gegriffen, einen Stoff gesehen, eine Person, die es tatsächlich gab, und dann geschrieben, was er schreiben wollte. Es ist müßig, von Details zu reden, die das Leben der Kunst voraus hat. Dass Schiller einen Anstoß nahm an einer Darstellung der Jungfrau, die der ewige Spötter und Demonteur Voltaire provokant in die Theaterwelt gesetzt hatte, ist heute von mäßigem Interesse. Nur die Verfasser so genannter Interpretationen, die gemäß ihrer meist aus Frankreich kommenden jeweiligen Leit-Philosophie am Text turnen und aus Zeitmangel offenbar selten bis nie ins Theater kommen, um zu sehen, wie so genannte Praktiker das praktisch, bühnenpraktisch, interpretieren, was ihnen selbst unter den Händen wie Hefeteig aus dem Philologeneimer quillt, klammern sich an dergleichen. Wobei es vielleicht, vielleicht, wenn dann doch einmal alle die Nase voll haben sollten von den ewigen Romanen auf den Bühnen, ein Experiment wert wäre, den Voltaire und den Schiller in eine Spielzeit zu packen und nacheinander, voreinander, hintereinander zu spielen und zu kontrastieren.

In Gera hatte jetzt Premiere, was in Altenburg bereits Ende April vorigen Jahres Premiere hatte, eine „Jungfrau von Orleans“ von zwei Stunden Länge und ohne Pause. Das ist also eine eingespielte Inszenierung, man merkt es. Man merkt es und außerdem ist es eine schlüssige Inszenierung. Wer hat eigentlich die Welt mit seinen Zweifeln belästigt, man könne diesen, speziell diesen Schiller nicht mehr spielen? Man kann. Wenn ich in meinem Programm-Heft der Michael-Thalheimer-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin blättere (Premiere am 27. September 2013), habe ich zwar das Gefühl, auch in Altenburg/Gera sei darin geblättert worden, aber letztlich ist die Idee, eine Jungfrau in Weiß mit einem Langschwert auf die Bühne zu stellen, ja schwerlich etwas, das unter ein Urheberrecht zu ordnen wäre. Dass ein im schwäbischen Pietismus mehr oder minder unstreng erzogener Dichter nicht verdächtigt werden sollte, stille katholische Propaganda zu treiben, müsste Konsens sein. Warum ihn eine Wunder-Geschichte interessierte, muss uns nicht wesentlich stärker beschäftigen, als warum wir uns einen „Avatar“ im Kino anschauen oder den Kollegen Harry Potter, ohne uns dabei ins Weltanschauungshemd zu machen. Schiller wollte eine starke Story.

Sehen wir doch mit unseren heutigen Augen da auf der Bühne einfach einmal eine Gotteskriegerin, die halt im speziellen Falle ihre Anweisungen zwar wie alle Gotteskrieger nicht buchstäblich und tatsächlich von oben bezieht, spätestens im übertragenen Sinn aber doch. Diese sehr junge Johanna, die eben noch ihren Stiefel putzenden Vater die Lage der Nation bereden hört nahe der Rampe und wie im Selbstgespräch, stummen Mundes, starren Gesichtes, in unbewegter Haltung, diese Johanna bricht auf, weil sie sich berufen fühlt. Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt, haben wir alle irgendwann einmal gehört oder gelesen. Johanna fühlt sich berufen und ist auserwählt. Sie hat den geschichtlichen Beruf, diesem Dauphin auf den Thron zu helfen, der in einer aussichtslosen und ausweglosen Lage nahe daran ist, alles hinzuwerfen. „Dem Manne kann geholfen werden“, wissen wir, wenngleich das die Überzeugung eines sehr jungen Schiller war und mit diesem Manne wenig zu tun hatte. Johanna gewinnt ihm die Schlacht, Johanna gewinnt ihm den Krieg und das wirkliche Wunder besteht darin, dass selbst der Erzbischof nur knapp unter der Oberfläche seiner berufsmäßigen Wunderaffinität tatsächlichen Wundern gegenüber mehr als skeptisch aussieht.

In Gera (und vorher Altenburg) ist eine Johanna zu sehen (Katerina Papandreou), die unfassbar lange sich weder bewegen darf noch etwas sagen. Wenn es aber aus ihr herausbricht, dann bricht es aus ihr heraus. Sie spricht diese Schiller-Verse auf eine Weise akzentuiert, die nicht nur mit dem Umstand zusammenhängt, dass die deutsche nicht ihre Muttersprache ist. Gerade das befähigt sie zu
einer wirklich überraschenden (mich überraschenden) Diktion. Diese Johanna ist nicht das Hirtenmädchen aus Domremy, diese Johanna ist das Werkzeug ihres Auftrages. Plötzlich gehen auch alle Schiller-Sätze, die sonst von Strichfassungs-Fabrikanten in die Tonne getreten werden. Hier geht Johanna und kommt nie wieder. Diese Johanna referiert den Befehl der Gottesmutter wie einen Befehl auf einem deutschen Kasernenhof. Das ist eine Lesart, Christian Schmidt, Regisseur. Das sieht man gern und hört es wohl. Und man vermisst keine einzige denkbare Applikation aus der Kiste mit den Aktualitäten der letzten neun ARD-Brennpunkte. Wohin ist in Gera eigentlich der gern in Schillers Negativsaldo gerechnete vorgebliche Nationalismus verschwunden? Vielleicht hätten sogar dessen Zitate hier ihre Biertischpotenzen verloren, falls sie sie je hatten?

Sieben Darsteller spielen in Gera vierzehn Rollen, Katerina Papandreou ist die einzige Frau auf der Bühne, die Frauenrolle der Königin Isabeau übernimmt Philipp Reinheimer, der auch und vor allem der Dauphin ist, der dann zum König Karl der Siebente wird. Ich sah, meine wählerische Anwesenheit in Gera und Altenburg relativiert das hoffentlich nur peripher, nie einen intensiveren, einen präsenteren Philipp Reinheimer. Der da in langer Schlabberunterhose auf Strümpfen in einer Dekoration, die nach Möbelpfandleihe aussieht (Bühne und Kostüme Hannes Hartmann), ein Bild des Jammers gibt, keine Hausmacht, keine Finanzen, ringsum Feinde, selbst die eigene Mutter zu ihnen gehörend, der dem Ernst der Lage nicht einmal annähernd gewachsen ist und noch die schon siegreich gewesene Johanna prüfen zu müssen glaubt, ob sie ihn erkennt. Das ist ein Karl, der auf den ersten bis sechsten Blick keineswegs auf einen Thron von weltpolitischer Relevanz gehört. Ihm wird Macht und Herrschaft gesichert. Ihm müsste man eigentlich einen Vergnügungspark mit auskömmlich flüssigen Mitteln bieten, in der Hoffnung, er möge nie zu wichtigen Entscheidungen berufen werden müssen. Als Königin Isabeau kostümiert ihn ein Reifrock-Gestell, mehr nicht.

Nach all den kruden Debatten, die sogar die Haupt- und Staatsmedien erreichten, wo sie ein natürlich falsches, natürlich passendes, ihnen passendes, Bild von Altenburg erzeugten, wirkt es wie eine irre Ironie, dass ausgerechnet Ouelgo Tené, der Schauspieler aus Burkina Faso, den schwarzen Ritter spielen darf (außerdem den Talbot und La Hire). Tené ist inzwischen längst als schwarzer Hauptmann von Köpenick in fast alle Theaterschlagzeilen gekommen. Bei Schiller ist er in seinen drei Rollen nicht mehr und nicht weniger als ein Darsteller, der seine Sache mit inzwischen hörbar verbesserter Sprachfertigkeit gestaltet. Er ist einer der Männer, die plötzlich zur Gruppe werden auf dieser Bühne, als diese Johanna scheinbar entbehrlich geworden ist. Schon ausdrückliche Betonung, er gehöre dazu und stehe nicht etwa daneben, wäre ein falscher Zungenschlag. Die Spielfassung verzichtet auf Agnes Sorel, die Geliebte des Königs, sie verzichtet auf Johannas Schwestern, auf ihre Freier. Sie verzichtet, natürlich, auf den Krönungszug, auf Ketten im Turm. Auf den Turm. Die Inszenierung ist so, dass die Striche nicht schmerzen. Und die Wiederholungen stark wirken: „Bin ich strafbar, weil ich menschlich war? Ist Mitleid Sünde?“ Immer wieder fragt das Johanna.

Johannes Emmrich hat die Rollen des Dunois, der Johanna gern heiraten würde, und des Lionel, den Johanna nicht mehr töten konnte, als sie in seine Augen gesehen hatte, von Henning Bäcker übernommen. Manuel Kressin ist Du Chatel, dessen Kopf der Herzog von Burgund als Preis fordert, wenn er mit dem König ein Bündnis eingehen soll und er ist der Herzog von Burgund, den Johanna mit Worten bezwingt. Ioachim Zarculea ist Montgomery und teilt sich die Rolle des schwarzen Ritters mit Ouelgo Tené. Man ist am Ende kurz verunsichert, wenn Philipp Reinheimer Johanna verurteilt, er tut es als Königin-Mutter, nicht als Karl der Siebente. Volk gibt es auf der Geraer Schiller-Bühne keines. Wenn Dunois also sagt: „Für seinen König muss das Volk sich opfern, / Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt.“, kann der Satz nur im Publikum verhallen. „Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!“ sind die letzten Worte, die Schiller seiner Heldin gönnte. Dass er am Ende seines kurzen Lebens diese „Jungfrau von Orleans“ lieber gelesen sehen wollte als gespielt, ist eine Überinterpretation. Man soll sie spielen, man darf auch ein Stündchen mehr dran geben. Das Publikum in Gera zeigte sich auf hörbare Weise angetan, wenngleich nicht euphorisch.
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