Gogol: Der Revisor, Hess. Landestheater Marburg
Die wirklichen großen Komödien der jüngeren Weltliteratur scheinen mit Revisionen zu tun zu haben. Auch der Gerichtsrat Walter in Kleists „Der Zerbrochne Krug“ ist ja eine Art von Revisor, nur dass ihn von Beginn an niemand verkennt, während bei Gogol dieser keineswegs vornamenlose Chlestakow nur ein gewöhnlicher Windhund ist, den alle für etwas halten, das er selbst nie zu sein behaupten würde. In der Regie von Matthias Faltz ist alles auf Rasanz gebaut, es ist straff gestrichen worden und dennoch wird nach 48 Minuten „wegen des Klempners“ eine Pause eingelegt. An Frauenrollen sind nur zwei verblieben, Frau und Tochter des Stadthauptmanns, der bei Gogol den zugegeben schwer aussprechlichen Namen Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowski trägt. Das Landestheater Marburg hat diesen Namen komplett ausgeblendet, ebenso die Namen des Krankenhausdirektors, der Kreisrichters, des Schulinspektors und des Postdirektors (er ist bei Gogol nur Postmeister, die Hessen haben ihn befördert). Lustig genug fanden Regie und Dramaturgie dafür Bobtschinski und Dobtschinski, auch sie freilich mit Vornamensamputation. Wir wollen nicht spekulieren, ob je drei amerikanische Vornamen bei Chargen des Mittelwestens aus Gods Own Country in das Programmheft gerettet worden wären.
Chlestakow also hockt im verwanzten Hotel, kann seine Rechnungen nicht bezahlen und leidet dafür Hunger. Er ahnt nicht, welche Rolle er unfreiwillig spielen wird. Und findet sich um so rascher hinein. Die Partien mit dem Diener Ossip, den er immerhin bei sich hat im Komödientext, liefern keine Spaßvorlagen, denn der Diener Ossip ist gestrichen. Petra Straß hat ein überschaubares Bühnenbild gebaut, das Slapstick und Clownerie fast ununterbrochen Futter gibt. Ein Doppelporträt fällt ständig vom Nagel, ein Stuhlstapel lässt sich nicht in einzelne Stühle zerlegen, die Weltkarte an der hinteren Bühnenwand über dem mobilen Kamin verliert alleweil den Kontinent Afrika und bisweilen ganz oder halb Südamerika. Die Treppe nach oben, über die sich Abgänge und Auftritte fast zwanghaft komisch abwickeln, leidet zuletzt unter dem Verlust von drei großen Stufen, alle stürzen aus ihrer Halterung und provozieren kuriose Akrobatiken der Darsteller. Die sind samt und sonders (Jelena Miletic) albern kostümiert, tragen auffallend blöde Frisuren, die nicht verhehlen, Perücken zu sein, es wimmelt von optischen Zitaten.
Die Inszenierung trägt also, kurz gesprochen, dick auf. Das Gogol-Stück verträgt dickes Auftragen sehr gut und es leidet auch dann nicht an Auszehrung, wenn ein Dutzend Nebenrollen einfach wegfallen. Da inzwischen hinter den Bergen bei den bis zu dreizehn Zwergen selbst Theaterkritiker von Profession von überlangen Abenden schreiben, wenn sie inklusive ausführlicher Pause drei glatte Stunden auf die Premierenfeier warten müssen, ist Spielfilmlänge heute immer öfter die erste Vorgabe der Macher an sich selbst. Noch ist der Schwenk auf den Einakter als Komplettprogramm kein Kreativziel gesamtdeutschen Intendierens, hinterlassene Tapsen im Spielplansand aber weisen klar in Richtung Häppchentheater. Dies alles soll freilich nicht auf diesen „Revisor“ gemünzt sein. Der lief vom musikalischen Hupfballett des Entree bis zum Standbild des Schlusstableaus, das alten Quellen zufolge Gogol selbst mit dem Bleistift skizziert haben soll, wie am geölten Schnürchen. Es glänzte wie Zucker-Ei vor allem der namenlose Stadthauptmann, der sich fast in einen Rausch spielen durfte (Sebastian Muskalla). Es glänzte auch Charles Toulouse als Chlestakow, ein Männchen, das dem Bild auch nicht annähernd entsprach, das sich alle anderen von ihm machten. Die beiden Damen Uta Eisold und Gergana Muskalla waren als Mutter und Tochter auf der komischen Höhe ihrer verführbaren Rollen und sehr schnell sogar rollig.
Daniel Sempf war der Krankenhausdirektor, dem durch Anwendung so gut wie keiner teuren Medikamente die Kranken wie die Fliegen gesundeten, Ogün Derendeli ein Kreisrichter, den man mit Hundewelpen bestechen kann und der über fehlenden Treppenstufen furchtsam Nebenlacher produzierte, Postdirektor Sven Mattke stand als Dauerfragezeichen und Freund des transparenten Postgeheimnisses auf der Bühne, während der Schulinspektor Tobias M. Walter seinen Höhepunkt als Mann ohne Oberleib im mobilen Kamin hatte und außerdem noch den Dobtschinski spielte. Jürgen Helmut Keuchel war Bobtschinski. Allesamt trugen sie, auch als sie sich in fünf maulende Kaufleute mit Schnurrbärten und Akzent verwandeln mussten, ohne Ausfall dazu bei, dass diese Komödie auch ohne forcierte Aktualisierungen nicht wie Biedermeier daherkam. (Einst beklagte der sonst durchaus urteilsstarke Erich Kästner so etwas an russischen Revisor-Gastspielen der frühen 30er Jahre in Berlin). Die Bestechungsorgie läuft, der vermeintliche Revisor hält um die Hand der Tochter an, nachdem er eben noch die Mutter in den Hüften geschüttelt hat, als wolle er eine Sturzgeburt einleiten. Dann entfernt er sich gen Saratow.
Schon schwelgt die Familie des Stadthauptmanns in den tollsten Aufstiegsphantasien, als der Postdirektor mit dem verräterischen Brief erscheint, den er von höchster Stuhlhöhe zu verlesen beginnt. Im Handumdrehen stehen alle wie die Deppen da, der Oberdepp ist immerhin hell genug, sich als solchen auch zu erkennen. Dann öffnet sich das Tor hinten und der tatsächliche Revisor kündigt sich an. Man erstarrt buchstäblich zu einem farbigen Salzsäulenensemble. Ein leidlich gefülltes Theater im Schlossgarten Arnstadt, das ohne eine Busfüllung aus Suhl nicht ganz so leidlich gefüllt gewesen wäre, klatschte tapfer dem Gastspiel aus Marburg. Nach „Dantons Tod“ im Oktober und vor „Der gute Mensch von Sezuan“ im April zeigte das Hessische Landestheater einen quicklebendigen Nikolai Gogol. Klick auf: Gefällt mir.
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