Williams: Endstation Sehnsucht; Landestheater Altenburg
Vielleicht muss man es tatsächlich noch einmal sagen: auch wenn Marlon Brando als erster Stanley Kowalski auf der Bühne, dort bald abgelöst von Anthony Quinn, mit der Rolle im Film von Elia Kazan weltberühmt wurde und eine Hemdenmode kreierte, die Hauptrolle in „Endstation Sehnsucht“ hat so vollkommen zweifelsfrei stets und immer die Darstellerin der Blanche Du Bois, dass es fast befremdlich wirkt, wenn ausgerechnet die Hemdenmode durch Rückblicke und Begleittexte geistert. Natürlich müssen Regisseure und Bühnenbildnerinnen etwas sagen, wenn sie interviewt werden, es gehört zu ihrer Stellenbeschreibung. Ob die Jeans auf der Bühne als Denim zu erkennen sind aus dem Rang oder Reihe 10 im Parkett, ist höchst zweifelhaft und das Operieren mit der Marke deshalb wohl so ziemlich das Bezweifelbarste an einer Kostümphilosophie, die ohnehin niemand braucht. In Altenburg (und nächstes Jahr in Gera) gibt es Anne Diemer zu sehen. Wie sie sich in der Rolle zunächst fast ärgerlich vergreift, um dann immer stärker und stärker und stärker zu werden, hinreißend, möchte man klischeeverliebt sagen, das ist das Erlebnis des Abends, das Ereignis. Anne Diemer hat mich schon als Karoline in „Kasimir und Karoline“ mehr als überrascht. Ich sah sie bei Dario Fo (Bezahlt wird nicht), in Brechts „Mutter Courage“, jetzt ist sie ein Glanz.
Natürlich muss sie das überzogene Gestikulieren der ersten zehn Minuten und danach reduzieren, das muss nicht so aufgetragen werden. Später, wo es kleinportionig fortlebt, dort als Kontrast zu vorher und nachher und ganz anders, da kann es passen. Sonst aber: was hat sie für ein Spektrum der Töne und Tonlagen. Das deutet fast mehr in Richtung einer Schizophrenie ihrer Blanche als auf die Neurasthenie, von der bei Tennessee Williams selbst die Rede geht oder von der Hysterie, mit der das Programmheft operiert und auf Freud lenkt. Die Grundkonstitution von Blanche Du Bois im amerikanischen Südstaaten-Drama aus New Orleans ist, eigentlich schwer, das zu übersehen und zu überlesen, man achte nur, wie sie Mitch ihren Namen erläutert, die aus Anton Tschechows „Kirschgarten“ bekannte der Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna. Die selektive Weltwahrnehmung, das unbekümmerte Umgehen mit allem Profan-Materiellen, insbesondere Geld, das Absehen von allem Irritierenden, die naive Gutgläubigkeit, Blanche ist in vielem Wiedergängerin von Ljubow. Aus Sicht der Repräsentanten des Profanen-Materiellen, der Tätigen und Praktischen ist so jemand immer an der Grenze der Zurechnungsfähigkeit. Die Norm der Normalen stempelt alle anderen ab, variabel ist lediglich das Etikett, das Prädikat, es wird immer für die finale Zwangsjacke offen sein.
Natürlich kann man, wenn man an New Orleans denkt, an den Hurrikan Katrina denken. Ich bin ehrlich: wenn ich auf einer Bühne Holzgenageltes sehe und Gabelstapler-Paletten, auf denen sich mildes Chaos ordnet, dann sind Naturkatastrophen nicht das Übernächste, was ich assoziiere. Bei Kowalski allerdings sehe ich auch ein paar Lopachins vor mir, nur hat Kowalski nicht die Zahlungskraft des Russen, auch ist das Gut Belle Reve, das Blanche Du Bois verloren hat, nicht das mit den alten Kirschbäumen. Laurel in Mississippi gibt es übrigens wirklich. Nun könnte man von der Übersetzung reden. Regisseur Akillas Karazissis nutzt die von Helmar Harald Fischer, die mich nicht davon überzeugen kann, dass es nahe liegt, sich von der von Berthold Viertel einfach für immer zu verabschieden. Oder macht es Sinn, Honey sagen zu lassen, wo bei Viertel Liebling gesagt wird, dafür aber die High Scool zum Gymnasium zu fälschen, das es in den Staaten nun wahrlich gar nicht gibt? Die direktere Drastik, vermutlich von Viertel absichtlich gemildert, ich habe das Original nicht herangezogen, hat ihr Provokationspotential aus der Zeit der Uraufführung am 3. Dezember 1947 längst eingebüßt. Da muss niemand mehr Mut spielen. Selbst deutsche Leitmedien nehmen längst das Wort „Ficken“ in ihre Hauptzeilen bei passender Gelegenheit.
Interessanter wäre schon der Vergleich der deutschen Fassungen, wo es um den sprachlichen Ausdruck für die Homosexualität des jungen, Gedichte schreibenden Mannes geht, mit dem Blanche ganz jung unwissend verheiratet war, der sich dann mit dem Revolver im Mund, da ist sie sehr direkt, den Hinterkopf wegschoss. Denn das gewählte Wort charakterisiert eben nicht die sexuelle Präferenz, wie man es heute nennen muss, sondern die Sicht der anderen auf diese Präferenz. Stella nennt jenen Allan degeneriert. Wir lassen den Hinweis auf die Homosexualität von Tennessee Williams beiseite. Der Schock für die junge und naive Blanche ist sehr gut vorstellbar, der Autor aber hat hinter die Verfassung seiner Protagonistin ja eben nicht nur diesen Schock gestellt, sondern auch den brutalen Selbstmord, an dem sich Blanche schuldig fühlt und das eben nicht grundlos. Sie lebt fortan nicht einfach in einer anderen Welt, sie baut sich eine solche. Dass es keine besonders finstere Rückständigkeit der Kleinstadt Laurel ist, wenn sie eine Lehrerin nicht an ihrer Schule dulden will, die ein Verhältnis mit einem Minderjährigen pflegt, muss kaum besonders betont werden, er bleibt genügend verlogene Moral, Verklemmtheit und Aggression übrig. Die Altenburger Regie hat von allem ausgerechnet den Alkoholismus von Blanche Du Bois entschärft.
Denn sie zeigt ihn, akzentuiert ihn aber nicht. Folgt man dem Text von Williams, dann ist seine Blanche zum Zeitpunkt, als Stanley nachts aus dem Krankenhaus heim kommt, weil sich die Niederkunft bei seiner Frau noch hinzieht, so extrem betrunken, dass sie eigentlich nur noch bewusstlos vergewaltigt werden kann. Da das Programmheft einen solchen Fall aus dem Jahr 2015 aufgenommen hat, darf man vermuten, dass die Spielleitung durchaus in diese Richtung dachte. Blanche Du Bois, die Lehrerin, die sich freut, im Zigarettenetui, das ihr Mitch hinhält, Verse von Elizabeth Barrett Browning zu erkennen, Verse aus ihrem Lieblingssonett, kann nur im eigenen Kopf die Welt machen, wie sie ihr gemäß wäre, im wirklichen Lebens muss sie sich anpassen, muss sie sich auch selbst verleugnen. Als sie mit ihrer Schwester Stella (grandiose Szene) über deren Status in der Ehe mit Stanley spricht, ist sie souverän in ihrem moralischen Weltbild. Als sie den Selbstbezichtigungen und Schüchternheiten von Mitch entgegen tritt, ist sie fast anbiedernd und das Große an der Rolle ist dabei und das spielt Anne Diemer auch, dass eben das von innen kommt und nicht gespielt ist. Verblüffend, dass in mancher Hinsicht die scheinbar so ganz andere Schwester Stella (Katerina Papandreou) so anders gar nicht ist. Auch sie hat einen klaren Blick auf Stanley.
Aber sie ist ihm sexuell hörig, sie genießt die Nächte mit ihm über alles. Die alte und dann doch nicht ganz so arrogante Weisheit: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, die gilt im Dreiakter von Tennessee Williams mindestens in dem Haus, in dem Blanche ihre Schwester als Mieter bei Eunice und Steve vorfindet (Öykü Oktay und Johannes Emmrich). Auch in der oberen Etage fliegen die Fetzen und dann folgt die Versöhnung auf der Matratze, dass die Sprungfedern quietschen. In gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen heißt es, das sei keineswegs nur in den so genannten bildungsfernen Schichten so. Am Ende kommen ein Arzt und eine Krankenschwester, die wirre Blanche abzuholen in eine geschlossene Anstalt. Stella ist, als ihr bewusst wird, was sie angerichtet hat, ein heulendes Elend. Denn sie war es offenbar, die mit der Nachricht, dass ihr Mann in der Nacht ihrer Niederkunft zu Hause die Schwägerin, ihre eigene Schwester vergewaltigte, nicht anders umzugehen wusste als davon auszugehen, das angebliche Opfer sei inzwischen so weit irre, völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen solcher Schwere zu äußern. Und da das scheinbar so hervorragend zu allen anderen Lügen und Lebenslügen dieser Blanche passt, kann sie weggesperrt werden. In Altenburg ist dem Finale die Brutalität des Ende aus der Textvorlage genommen.
Diese Krankenschwester (Mandy Röhr) wendet nicht die rohe Gewalt an, die Tennessee Williams vorgeschrieben hat, drückt Blanche nicht zu Boden. Immerhin: auch sie fragt, ob sie die Zwangsjacke anwenden soll. Der Arzt aber (Manuel Kressin) verneint es. An seinem Arm und dem der Schwester geht Blanche dahin, die eben noch träumte, auf hoher See an ungewaschenen Weintrauben zu sterben. Öykü Oktay spricht in dieser Inszenierung die Autorentexte von Williams und agiert zugleich wie ein Techno-DJ an der Scheibe. Manuel Struffolino gelingt ein Stanley in angenehmer Mitte zwischen allerlei möglichen Verzeichnungen, Thorsten Dara ist ein Mitch, der wirklich zu Blanche in der Verfassung dieses Sommers passen würde, er könnte der Spalt im Felsen sein, von dem sie spricht. Yasin Baig als vierter Poker-Bruder Pablo hat wenig zu spielen und zu zeigen. „Die Rolle der Blanche“, schrieb 1969 Christian Jauslin, „kann Schauspielerinnen leicht verführen, die krankhaften Züge besonders hervorzuheben.“ Der Regisseur dieser Inszenierung hätte seine wunderbare Hauptdarstellerin vor der Premiere bremsen müssen. Weniger kann mehr sein, sagt der gar nicht so dumme Volksmund. Lese ich, was mehr als dreißig Jahre vor Anne Diemers Geburt der Kritiker Walther Karsch über Marianne Hoppe als Blanche schrieb, dann denke ich, die Nachgeborene ist auf geradem Weg zu mancher Näherung an die ganz Großen.
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