Schnitzler: Professor Bernhardi; Staatsschauspiel Dresden
Tatsächlich, unter dem Titel „Professor Bernhardi“ steht bei Arthur Schnitzler „Komödie in fünf Akten“. Es ist deshalb nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, dass just diese Charakteristik im Programmheft der Dresdner Inszenierung von Daniela Löffner auffällig fehlt. Die 1980 in Freiburg im Breisgau Geborene ist mit Beginn der neuen Spielzeit Hausregisseurin und ihr erstes Probestück ist ein starkes Signal. Auch wenn sie mit dem Österreicher Schnitzler noch keine Erfahrungen zu haben scheint, sie hat dieses in mehrfacher Hinsicht anspruchsvolle Textangebot souverän in eigene Hände genommen. Aber eben nicht in der ja auch nie undenkbaren Art, der Vorlage profilfixierte Gewalt anzutun, sondern im Vertrauen auf einen starken Text, der nach rund drei Stunden als genau solcher hörbar und in Spiel umgesetzt eindrucksvoll sichtbar geworden ist. Die Inszenierung vermittelt erstaunliche Einsichten: man kann ein Debatten-Stück auf die Bühne stellen, das nicht langweilt, nicht überfordert. Man kann uralten dramaturgischen Gesetzen folgen: Gegenspieler begegnen sich auf Augenhöhe und mit Argumenten, von denen eben nicht die einen zur Ablehnung, die anderen zur Akklamation freigegeben werden. Allein das schon ist wohltuend an diesem Abend.
Natürlich hat Daniela Löffner auch in Text und Personal eingegriffen. Der eingreifendste Schnitt betrifft die bei Schnitzler durchweg männlichen Rollen. Der einzigen Frauenrolle bei ihm, der Krankenschwester Ludmilla, gibt die Regisseurin fünf weitere bei, zwei davon werden von einer Darstellerin, Karin Plachetka, gespielt. Sie nimmt allen Medizinern, die bei Schnitzler Professoren sind, diesen Titel nicht im Dialog, wohl aber im Personenverzeichnis, das zusätzlich auf die nähere Beschreibung des Fachgebietes und der Situierung in der akademischen Hierarchie verzichtet. So verwandeln sich die Doktoren Löwenstein, Schreimann und Adler, in dieser Reihenfolge Dozenten für Kinderkrankheiten, Halskrankheiten und pathologische Anatomie aus Schnitzler-Männern in Löffner-Frauen, Unterrichtsminister Professor Dr. Flint wird Frau, Journalist Kulka ebenfalls. Eine mögliche Rezeptionsebene des Originals, dies als Bild einer reinen Männergesellschaft kritisch zu sehen, ist damit allerdings vergeben. Bei Gelegenheit der Münchner Premiere von „Professor Bernhardi“ am 13. August 1972 erkannte Armin Eichholz, dass „im gesellschaftlichen Keimzustand zu besichtigen“ sei, was später KZ-Arzt (nie Ärztin!) oder Reichssicherheitshauptamtsleiter wird.
Dem 1931 gestorbenen Schnitzler kann man solche Weitsicht bei aller Hellsicht auf den spezifisch wienerischen, spezifisch österreichischen Antisemitismus nicht gutschreiben. Das 1912 in Berlin uraufgeführte Stück, das zuvor für Wien verboten wurde, legt für den späteren Blick Wurzeln frei, die aber nur als solche erkennbar sind, wenn man die spätere, die fürchterliche Entwicklung kennt, zu der dieser Antisemitismus führte. Hitlers Judenhass selbst hat nicht nur, aber sehr stark, seinen Nährboden genau hier. Der Österreicher George Tabori hat das exemplarisch gestaltet. Ein Verdienst der Dresdner Inszenierung von Daniela Löffner ist ihre Zurückhaltung. Sie stößt keinen Zuschauer mit der Nase auf die auffallenden Implikationen des Textes. Und bietet zunächst einmal Komödie. Die auf dem Wasserspender ausliegenden Einladungen zur großen Mediziner-Party, bei Schnitzler höchst marginal in Erscheinung tretend, verwandeln sich im Staatsschauspiel zum Auslöser eines Running Gag, den das Publikum auch folgsam mit regelmäßigen Lachern quittiert. Die orgiastische Kostümfete am Ende des Aktes ist reine Zutat und die Regie lässt alle Beteiligten sich ausführlich austoben. Als Kontrast gibt es auch immer wieder verlangsamte Bewegungsabläufe, Zeitlupen.
Schwer vorstellbar, wie das Stück-Ende in Dresden gewirkt hätte ohne eine gewichtige Streichung: den Bühnen-Wahlsieg der Sozialdemokraten gibt es zwei Tage vor dem noch nicht manifest gewordenen Hardcore-Debakel der sächsischen SPD glücklicherweise nicht. Bei Schnitzler liefert er den Untergrund für einen Wandel der öffentlichen Meinung, erklärt er, nicht allein freilich, die Begeisterung über die Haftentlassung des Professor Bernhardi nach zwei Monaten. Die Journalistin Kulka will nun im Auftrag ihres Chefs Material beschaffen für den Abschuss der Ministerin (heute würden am Wahlabend kommende Untersuchungsausschüsse angedroht) und ich bin mir keineswegs sicher, ob es nicht immer noch Chefetagen in der Medienbranche gibt, in denen an verborgener Stelle eine Kerbe für jeden Gestürzten in Holz geschlagen wird. Gestrichen ist am Ende auch das Schnitzler-Wort „Viech“, auf das noch jede Kritik des Stückes mindestens einen Satz verwendet hat. Der Hofrat Winkler, zeitgemäß in einen Staatssekretär verwandelt, sagt „Idiot“ statt „Viech“. Auch hier gesondertes Lob: wie leicht, wie unverschämt leicht wäre es gewesen, in diesem ein wenig zum Vorzimmerlöwen degradierten jungen Mann eine wohlfeile Karikatur zu installieren.
Stattdessen aber billigt die Regie sowohl der Ministerin wie auch ihrem Staatssekretär große Klugheit zu, große rhetorische Begabung, Souveränität. Beide lassen sich auch von guten Argumenten nicht ins Bockshorn jagen. Man sieht: das in Mode gekommene Lächerlichmachen politischer Akteure ist nicht alternativlos. Köstlich geradezu eine Wirkung: die Theater-Ärzte auf der Bühne wurden hinter mir gesehen und kommentiert, als wären da echte Ärzte in Aktion, aus tiefster Tiefe artikulierte sich Empörung über diesen Dr. Ebenwald (Dominik Maringer), aus eben solcher Tiefe sah sich der Kommentator an der Seite des moralischen Empörers Dr. Pflugfelder (Moritz Dürr). Den gesamten ersten Akt über immer wieder Lacher über eine vermeintliche Selbstentlarvung eines doch jedem bekannten Medizin-Betriebs. Sollte das beabsichtige Wirkung gewesen sein, dann wohl in der keineswegs verwerflichen Sicherheit, dass ein Lachen, das im Halse stecken bleiben soll, dort hinein ja erst gebracht werden muss. Man muss gar nicht das in die Jahre gekommene Deutungsmuster „ernste Komödie“ aufrufen, um zu sehen, dass das wahrscheinlich diesem Fünfakter auch nicht gerecht würde. „Professor Bernhardi“ ruft nicht nach einer Schublade.
Renate Wagner schrieb in ihrer 1981 erschienenen Schnitzler-Biografie: „Dass der „Professor Bernhardi“ trotzdem bis heute brisant ist, scheint erst einmal auf die absolute Authentizität zurückzuführen zu sein, mit der hier österreichisches Milieu gezeichnet wird“ und sie setzt dem noch eins auf, wenn sie behauptet: „Das Ewige in „Professor Bernhardi“ ist das Österreichische.“ In Berlin ist die Uraufführungs-Inszenierung vom 28. November 1912 hundertmal wiederholt worden, wobei unter den Premieren-Kritikern einer (Julius Hart) der Meinung war, er habe tatsächlich nichts als eine Komödie gesehen, der Professor habe den Aufenthalt im Gefängnis wie einen Urlaub genossen. Wie gewaltig Hart sich irrte, als er behauptete: „Nein, Lessingsche Ringe braucht man heute nicht mehr zu predigen“, muss man nicht belegen. In Dresden ist man dennoch nicht einmal auf die Idee gekommen, etwas wie Predigt auf die Bühne zu stellen. Man hat stattdessen auch der im Text präsenten Deutung von der „Tragikomödie des Eigensinns“ Raum gelassen. Man zeigt beispielsweise am Dialog zwischen dem Pfarrer Franz Reder (Philipp Lux) und Professor Bernhardi (Raiko Küster), was es heißen soll, wenn im Stück von Wirkungen des Zuhörens die Rede ist.
Die Ministerin Flint (Birte Leest), sie ist in Dresden, scheinbar nahe liegend, Gesundheitsministerin, bei Schnitzler ist der Mann Dr. Flint Unterrichtsminister, sagt: „Und wenn man einem nur wirklich zuhört, kann man ihm nicht mehr ganz unrecht geben.“ Das ist auf Schnitzler-Zuschauer gerade dieses Stückes anzuwenden: Hören sie dem, was die einzelnen Figuren auf der Bühne sagen, wirklich zu, die Betonung liegt auf wirklich, dann entfällt jede Verteilung von Haltungsnoten, dann wird vielleicht auch deutlich, dass die wohlfeile Pauschalverurteilung von Politik, wie sie Moralist Dr. Pflugfelder vorträgt, sehr bequem ist. Weil sie so bequem ist, fand diese Stelle, teilt Renate Wagner ihren Lesern mit, bei jeder Inszenierung, die dem nicht vorbeugte, in Österreich starken Beifall. Die Ministerin Dr. Flint ist da deutlich weiter, auch ihr sollte man sehr genau zuhören, ihrem etwas zynischen Staatssekretär (Hendrik Heutmann) nicht weniger. „Denn es will nicht viel besagen, lieber Bernhardi, sich in irgendeinem unbeträchtlichen Einzelfall korrekt oder, wenn du willst, überzeugungstreu zu benehmen, es handelt sich darum, der immanenten Idee seines eigenen Lebens mit Treue zu dienen.“ Sagt diese Ministerin und sie charakterisiert auch Bernhardi präzise.
Was wie Zynismus klingt, ist eben keiner: „Was dir fehlt, Bernhardi, das ist der Blick fürs Wesentliche, ohne den alle Überzeugungstreue doch nur Rechthaberei bleibt. Denn es kommt nicht aufs Rechthaben im einzelnen an, sondern aufs Wirken im Großen. Und solche Möglichkeiten des Wirkens hinzugeben für das etwas ärmliche Bewusstsein, in irgendeinem gleichgültigen Fall das Rechte getan zu haben, erscheint mir nicht nur klein, sondern im höheren Sinne unmoralisch.“ Das ist doch eine wirklich interessante Frage: Kann das auf den ersten und zweiten Blick Moralische, sogar Hochmoralische, im höheren Sinne unmoralisch sein? Es kann. Arthur Schnitzler wird mit solchen Überzeugungen dennoch kaum zum Sonntagsschulthema werden. Verlockend ist, was der Bernhardi-Freund Pflugfelder sagt: „Die Welt ist überhaupt nur dadurch weitergekommen, dass irgendjemand die Courage gehabt hat, an Dinge zu rühren, von denen die Leute, in deren Interesse das lag, durch Jahrhunderte behauptet haben, dass man nicht an sie rühren darf.“ Nur findet in der „Komödie in fünf Akten“ gerade kein Kulturkampf im bismarck-deutschen Sinne gegen den Katholizismus statt, wenngleich die deutsche Toleranz 1912 für Deutschland nicht viel bewies.
Daniela Löffner hat eine Ensemble-Leistung inszeniert in Dresden. Die schon mit der Premiere nicht einmal durch einen Notfall im Publikum auf der Hinterbühne aus der Fassung zu bringen war. Der Ruf nach echten Ärzten im Publikum wurde schnell erhört (man durfte staunen, wie viele Mediziner da im Parkett und auf der Bühne saßen, und dann ging es wie im Fernsehen nach einer Werbe-Unterbrechung: das Ensemble spielte den Schluss von vor der in diesem Fall unfreiwilligen Pause komplett noch einmal und es gab keinen Bruch. Alle sechzehn Darsteller (für achtzehn Rollen) trugen mit solider Darbietung zum Gelingen bei, es gab keinen Ausfall. Ich mag mir auch nicht verkneifen, einen Satz von Friedrich Torberg zu zitieren, der 1965 „Professor Bernhardi“ im Wiener Akademietheater sah: „Es macht eben doch einen Unterschied, ob man ein ursprünglich für die Bühne geschriebenes Stück auf der Bühne zu sehen bekommt oder einen ursprünglich als Roman geschriebenen Film im Fernsehen“. Den Roman auf der Bühne als Massenerscheinung, auch Daniela Löffner hat zum unguten Trend schon beigetragen, kannte Torberg noch nicht, starke Stücke allerdings mehr als nur dies. Arthur Schnitzler ist gut, jeder Beweis dessen verdient Beifall.
Ach ja: Es ging in „Professor Bernhardi“ um einen Internisten, der zugleich Direktor einer Privatklinik ist und einem Pfarrer den Zutritt zu einem sterbenden Mädchen verweigert, weil das Mädchen von seinem unmittelbar bevorstehenden Tod nichts weiß und deshalb aus seiner Sicht glücklich und unbelastet sterben soll. Was der schwarze Mann mit den Sakramenten unmöglich gemacht hätte. Das wird zum Fall, der sogar mit einer Anklage, einer Verurteilung und Haft endet, weil es Menschen gibt, die den Fall benutzen. Der Fall ist nicht irgendeiner, denn der Professor ist Jude. Die Anklage lautet auf „Religionsstörung“. Früh ist an Schnitzlers fünf Akten bemängelt worden, es sei nicht ins letzte durchgearbeitet, Beleg dafür die nicht weniger als zehn Diener-Auftritte mit der Karte der jeweils Anzukündigenden. Daniela Löffner hat die Diener einfach gestrichen. In Dresden treten die Darsteller von unten auf die Bühne, sie harren ihres jeweiligen Auftritts in den ersten Reihen der beiden Zuschauerblöcke. Das funktioniert inklusive Kostümwechsel vor aller Augen problemlos. „Gegenüber anständigen Juden gibt es keinen Antisemitismus.“ Mit solchen Sätzen im gesenkten Kopf geht man aus dem Staatsschaupiel.
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