Lessing: Minna von Barnhelm; Staatsschauspiel Dresden

Der große spanische Maler Francisco Goya y Lucientes (30. März 1746 – 16. April 1828) schuf seine „Caprichos“, insgesamt achtzig Aquatintablätter in Federstrichmanier, in den Jahren 1797 und 1798, da war Gotthold Ephraim Lessing schon mehr als anderthalb Jahrzehnte tot. Die Nummer 43 des Zyklus benutzen Michael Talke (Regie) und Barbara Steiner (Bühne und Kostüme) für das Bühnenbild ihrer Inszenierung von Lessings „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“ im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Die bühnengroße Vergrößerung des graphischen Blattes, dessen spanischer Originaltitel Bestandteil des Bildes selbst ist und sich damit von den anderen des Zyklus auffallend unterscheidet, ist nicht irgendeine Idee, um die verbreitete mehr oder minder naturalistische Wirtshausszenerie der Komödie in ihrem Anfang zu vermeiden. „El sueño de la razón produce monstruos“ führt mitten hinein in die Lesart, die dem Zuschauer nahe gelegt werden soll. Die gängige Übersetzung dafür lautet: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, doch sollte vorsorglich bei jedem Interpretationsversuch dieser, um es gleich zu sagen, für mich rundum stimmigen, rundum gelungenen und über längere Phasen geradezu berauschend komödiantischen Inszenierung, bedacht werden, dass „el sueño“ eben auch „der Traum“ heißt.

Das Goya-Blatt zeigt, man muss kein Experte sein, um das zu erkennen, einen Künstler, seine Utensilien sind deutlich sichtbar. Die Ungeheuer, auch das ist deutlich zu erkennen, sind Eulen, Fledermäuse, eine schwarze Katze und ein Luchs, nachtaktive Tiere, an deren Namen bestimmte, aber nicht in allen Kulturen gleiche Assoziationen gebunden sind. Wie auch immer: in Dresden beginnt das Spiel mit einer Verdopplung der Konstellation: wir sehen vorn nahe am Bühnenrand eine Kiste, auf der ein Mann in der Pose der Goya-Figur verharrt: schlafend, träumend, beides, wir wissen es (noch) nicht. Dann rufen ihn Stimmen, Finger, Hände, Arme durchstecken, durchreißen eine Papierwand, der Träumer, Schläfer wird für den Moment festgehalten, dass es beinahe wie eine Kreuzigung aussieht. Was folgt, ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich zitiere Otto Basil im Anschluss an eine Burgtheater-Inszenierung 1954, Regie Leopold Lindtberg: „Über Lessings „Minna“ kann man nur die längst zum klassischen Gemeinplatz gewordene Formel zitieren, dass es sich um „das beste deutsche Lustspiel“ handelt. (Das will heißen: um die beste deutsche Komödie neben dem „Zerbrochenen Krug“.)“ Dem ist nichts hinzuzufügen, Michael Talke ist eher auf den originellen Beweis als auf eine Relativierung aus. Was er spielen lässt, hat viel vom klassischen Stummfilm.

Die begleitende Klavier-Musik (Andreas Dziuk) deutet in diese Richtung. Das Spiel der auf sechs Darsteller beschränkten Geschichte aus der Zeit nach Ende des siebenjährigen Krieges nutzt jene mimische und gestische Überdeutlichkeit des frühen Films, der Texte oder gar Dialoge allenfalls zu Untertiteln machen konnte. Auch die Masken beider Frauen und der vier Männer sind, wenn man will, aufdringlich, sie drängen sich, heißt das, in eben der Überdeutlichkeit auf wie das Spiel selbst. Die Grundidee der Regie gebiert hier keine Ungeheuer, sondern eine Fülle prächtiger Folgeideen, die Spaß bereiten und das nicht etwa nur den Zuschauern, sondern sichtlich auch den Mimen. Die Aufführung gut fünf Wochen nach der Premiere demonstrierte, was es bedeutet: eingespielt. Und sie zeigte, was vor knapp 100 Jahren der Kritiker Georg Britting in Regensburg sah: „Der Major von Tellheim, verabschiedet, ist ein Fadian. Sag ihm ein menschliches Wort, er ruft: Offizier! Versuchs, ihm zu helfen, er schreit: Die Ehre! Biete ihm Geld, zartfühlend, mit Samtpfoten streichelnd, er röchelt: Es ziemt sich nicht! Dieser unerträgliche Mensch ist eine Gefahr für das Lustspiel. Heut fühlt man sich von einem leichten Ärger gekitzelt, wenn diese deklamierende Uniform auf der Bühne steht. Aber die Heiterkeit, das Leben und Lachen um ihn herum lässts wieder vergessen.“

Was zweifelsfrei zutrifft: dass dem Lessing-Klassiker Aktualität zuwächst genau in diesem „um ihn herum“. War aber der Major von Tellheim in seiner fast menschenverachtenden Moralität und Ehrauffassung tatsächlich je eine geeignete Identifikationsfigur? „Minna von Barnhelm“ heißt das Stück, knapper und klarer kann man nicht sagen, was dazu zu sagen ist. Sie und ihre Franziska, gleichaltrig, gemeinsam aufgewachsen und aufgezogen, verkörpern wache Vernunft. Sie verkörpern auch die List der Vernunft, aus der später ein gewisser Hegel einen der großen Kerngedanken seiner Geschichtsphilosophie machte, sie sind, was man im umgekehrten Falle „Frauenversteher“ nennen würde. Sie sind „Männerversteher“ in jenem zeitlosen Sinn, dass Frauen eben wissen, dass Männer das Kind in sich nie ganz loswerden, trotzköpfische Hahnenkämpfer, bockige Prinzipienreiter bis zur physischen Selbstvernichtung. Alfred Kerr nutzte 1904 eine Max-Reinhardt-Inszenierung der „Minna“ zur Formulierung einer Urwahrheit: „Wir sitzen im Theater als Menschen, nicht als Geschichtsforscher. Und dreimal selig, wer uns verhilft, das Menschliche eines Großen, befreit von Resten, an unser Menschliches klingen zu lassen. Es kommt nicht darauf an, eine Oberlehrerminna zu spielen, noch dass wir uns einreden, ein Vergnügen zu haben, wo wir keines hatten.“

Ich hatte ein Vergnügen, brauchte mir keines einreden. Wohl viermal musste ich das Taschentuch zücken, Tränen, die ich lachte, seinem textilen Zwischenlager anzuvertrauen. Vornweg natürlich diese beiden: Ursula Hobmair und Birte Leest: Minna und Franziska mit ihren wilden Perücken, sie stöckelten und stackelten, sie trippelten und trappelten und am Ende war es doppelter Männerfang. Für Minna das von Beginn unverrückbar feststehende Ziel, für Franziska etwas wie Beifang, sie wird Wachtmeisterin an der Seite des Wachtmeisters, soll zehn Jahre später, welche Aussicht, Generalin sein oder Witwe. Diesen Wachtmeister spielte Thomas Eisen und zu den tollen Einfällen, von denen ich schrieb, zähle ich obenan die ballettreifen Schwanentänze des Paares im Wissen um die Aussichten ihrer Lieben auf den ersten Blick. Drei Türen im Bühnenhintergrund ermöglichen jene unverwüstlichen Slapstickeinlagen, die auch die beste (oder zweitbeste) deutsche Komödie keinesfalls verunzieren. An Türen kann man lauschen, sich Nasen blutig schlagen lassen, man kann zum falschen Zeitpunkt erscheinen, zum noch falscheren verschwinden. Von ihnen unabhängig, doch durch sie zusätzlich komisch: das Spiel Oliver Simons als Just mit dem Pudel, dem spät, aber nicht zu spät der Name „Ephraim“ zugeordnet wird, Simon ist auch die Dame in Trauer mit Geld.

Geld, das der Major nicht hat oder haben will, spielt im Kleinen Haus eine kleine Hauptrolle: der Dame in Schwarz wird es in den Ausschnitt gestopft, aus Kisten wird es geschüttet, vom Boden wird es geklaubt, den gierigen Wirt zu schmieren. Zweimal kommt ein Mikrofon zum Einsatz: ganze Textpassagen werden souffliert und synchron vorgetragen dabei: weitere Gelegenheit zum Spiel im Spiel, hübsch bis herrlich. Einmal geht die Frage ins Publikum: „War das jetzt zu schnell?“ Und der Text wird, fast zum Mitschreiben, wiederholt. Szenenapplaus holte sich Wachtmeister Thomas Eisen, den ausgerechnet seine künftige Wachtmeisterin mit einem Leuchter zu Boden schlägt: Er rafft sich hoch und fällt wieder, rafft sich hoch und fällt wieder. Auch Birte Leest kann herrlich umfallen und, als die Perücke einmal ins Rutschen geraten ist, ist sie kaum noch zu bremsen. Am Ende sind übrigens beide Damen-Perücken außer Aktion, sie haben ihre Schuldigkeit getan. Auch Tellheim, also Philipp Grimm, bekommt eine Chance, Lacher zu fabrizieren: er will, angestachelt von der Lügengeschichte der Enterbung, die Minna von Franziska tränenreich unterstützt erzählt, seinen Arm aus der Binde befreien, was ihm immer nur gelingt, indem er dabei den anderen Arm einwickelt. Das finale Happy End leitet wieder Birte Leest ein mit Sekt, Konfetti, Papierschlangen.

Sogar ein gutes altes Kofferradio fand sich im Fundus, es spielt den Hochzeitsmarsch. Aber nur an. Und was war mit dem Ring, an dem sich hier in Dresden die ganze Begriffsstutzigkeit des Majors immer wieder festmachte? Er war plötzlich verschwunden: alle krochen am Boden zwischen den Geldscheinen und den Faschingsartikeln umher, ihn zu suchen. Ob die Vernunft, von Minna gerufen, nachdem sie das Goya-Capricho nach oben in den Schnürboden schob, auf die Bühne kam? Noch einmal zitiere ich, weil ich ihn mag, Georg Britting: „Vielleicht in abermals 150 Jahren wird man das Stück nicht mehr spielen können, weil dann zwar die Minna und die Franziska, der Werner und der Just noch aus vergnügten und listigen Augen schauen, der verabschiedete Major aber vergreist und verschimmelt sein wird, am schlotternden Arm die Dame in Trauer.“ Sven Hönig soll natürlich auf gar keinen Fall vergessen werden: als einer der vier erst seit dieser Spielzeit fest zum Staatsschauspiel Dresden gehörenden Akteure des Abends (Philipp Grimm, Ursula Hobmair und Oliver Simon die anderen) trug er in der Doppelrolle des Wirtes und des spielsüchtigen Riccaut de la Marliniére zum Erfolg des Abends nicht nur bei, er setzte kräftige Tupfer ins farbige Geschehen vor dem schwarzweißen Goya. Dankbare Rollen spielen sich eben auch nicht von ganz allein.
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