Schiller: Die Räuber; Meininger Staatstheater
Wäre ein postkonventioneller Chemielehrer im Grundkurs Chemie der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule, 7. Schuljahr, auf die Idee gekommen, den Unterschied zwischen einer Verbindung und einem Gemisch am Beispiel von Schillers „Die Räuber“ zu erklären, hätte zwar kein Schulinspektor hinten an der Wand sitzen dürfen, ich aber hätte verstanden: „Die Räuber“ sind eher ein Gemisch als eine Verbindung. Denn bei letzterer gehen ursprüngliche Bestandteile eine nämliche derart ein, dass sie anschließend nicht ohne weiteres mehr zu trennen sind, während man bei einem Gemisch diverse Elemente noch sortieren kann, mit Sieb, Magnet, Wasserzugabe und was dem Chemiker halt so einfällt, um zu sehen, was drin ist in der krümeligen Wundertüte oder dem klebrigen Brei. So weit, so schlecht. In jüngster Zeit entdecken diverse Theater, wenn sie mal keinen Roman auf die Bühne bringen wollen, nicht nur Schiller wieder, der ja schon wegen der Schulklassen nie gänzlich aus dem Blickfeld rutscht, sondern von Schiller besonders „Die Räuber“. Das scheint ein für Jugend wie gemachtes Stück zu sein, weshalb in Meiningen nun gleich 40 (in Worten: vierzig) aus ihren Reihen als Klein-Räuber, pardon, Räuber-Kleindarsteller mitwirken.
Es gleich vorweg zu sagen: die Idee war die schlechteste nicht, wenngleich das chorische Sprechen ab einer gewissen Menge Beteiligter aus der Voll-Synchronität rutscht mit der Nebenfolge der Unverständlichkeit dessen, was der Chor so artikuliert. An Räubern mangelte es in Meiningen demnach nicht, nur bei den namentlich von Schiller benannten ist ein Schwund zu verzeichnen. Die Herren Grimm, Schufterle und Schwarz stehen obenan auf der Abwesenheitsliste, was im Falle von Schufterle folgenreicher ist als im Falle von Grimm und Schwarz. Auf die Abwesenheitsliste gerutscht sind auch die Herren Daniel und Hermann, Diener der eine, „Bastard von einem Edelmann“ der andere. Die Vertreter der christlichen Kirche, der gute Pastor Moser und der weniger gute „Ein Pater“ fehlen auch, was manchen Übergang in der schließlich drei Stunden mit Pause verbrauchenden Inszenierung von Gabriela Gillert eher stolprig macht, man könnte auch von Verlust an Szenen-Motiviertheit sprechen, wenn man dergleichen mag. Etwa, um ein Beispiel zu nennen, das dem Premierenpublikum Lacher entlockte: wenn der eben noch Franz seiende Franz, die Canaille also, plötzlich mit blöder Perücke und Frank-Zander-Stimme den Hermann macht.
Die optische Anmutung, wir lassen zunächst den Rahmen beiseite, der den Schiller eben rahmt, ist, vorsichtig gesprochen (Bühne und Kostüme Helga Ullmann und Anna Luise Vieregge) irritierend: die großen Räuber fuchteln mit Bierbüchsen und wanken einher, als hätten sie einen Auftritt in der „Fledermaus“, die kleinen Räuber erinnern, mit Verlaub, an den schwarzen Block diverser heutiger Demonstrationen in ihrer Form als Demo. Nun habe ich, vielleicht bin ich einfach nur zu alt, bei Bierbüchsen-Grölern und schwarzem Block eher weniger revolutionäre Assoziationen, wobei noch erschwerend hinzu kommt, dass im gesprochenen Text von Flaschen und gelegentlich sogar Wein die Rede ist. Sollten die großen Räuber Weinbüchsentrinker gewesen sein, dann wäre alles kaum besser. Das war die Gruppendynamik. Die Einzeldynamik beginnt schockierend: Kaum hat Karl von Moor, der Edle, der Gute, vom tintenklecksenden Jahrhundert angefangen, geht er zu einer Tirade gegen „DIE Eliten“ über und landet im Handumdrehen bei Putin. Armer Schiller. Ich meine, man hätte dann konsequenterweise vom twitternden Jahrhundert reden sollen, mehr Anachronismus wäre das auch nicht gewesen. Oder kleckst irgendwo noch jemand mit Tinte, spitzt Bleistift nebst Ohren?
Da ist also ein sehr junger Mann, der in Leipzig, zum Glück nicht Dresden, über die Stränge schlägt, Schulden macht, er ist erbrechtlich gesehen Privilegierter, denn er erbt, der Erstgeborene, während der Zweitgeborene leer ausgeht, was ein wirklich guter alter Graf von Moor natürlich selbst im finstersten Mittelalter per Testament auch hätte anders verfügen können. Dann aber wäre aus dem tradierten Thema der feindlichen Brüder, auf das Schiller ungeniert zurückgriff, nicht „Die Räuber“ geworden. Schillers Erstling weist diverse Stellen auf, die Willkür verkörpern, ihre Logik einzig aus dem Willen des Dichters beziehen, nicht aus dem wirklichen Leben. Das etwa für einen Kritiker wie Theodor Fontane der oberste Bezugspunkt war, weshalb er, je älter er wurde, um so kritischer sah auf Karl, Franz und Co. Der sehr junge Mann führt in der Kneipe, die in Meiningen nicht erkennbar wird, aufrührerische Reden. Würde man ihn einen Maulhelden nennen, hätte er vor Gericht wenig Chancen, mit einer Beleidigungsklage. Er ist ein Renommist, der von Größe schwafelt, sich Ideenlegitimationen bei Plutarch holt, was in Meiningen nicht deutlich wird. Er nimmt sich, das geht bei jungen Männern mit Geltungsdrang bis heute immer glatt durch, übertrieben wichtig.
Immerhin hat er genügend kleinere Geister um sich, denen er imponiert, fragt sich allenfalls, wenn er ein Student ist, wie es kommt, dass er keine studentischen Freunde um sich hat. Die Frage geht allerdings an Schiller. Da hat dann auch ein Spiegelberg, der in Meiningen nur ein Strippenzieher mit Eigenehrgeiz, ein Intrigant der günstigen Situation ist, eine Chance, die Truppe in Räuber zu verwandeln. Am Ende ist alles mehr Romantik als klare Entscheidung. Der Karl sieht zudem, siehe optische Anmutung, von Beginn an aus wie aus dem Heuhaufen geflüchtet oder vom Balkon gesprungen. Was macht ihn so selbstverständlich zum Hauptmann, zum Anführer? Sein Adel, sein großes Maul? Ein irgendwie revolutionärer Ansatz, der in mancher Ecke immer gern mit „Die Räuber“ verbunden wird, ist weit und breit nirgends zu sehen. Einer, den sein Vater verstößt, wird gleich zum Gewalttäter? Natürlich, so wie er am Ende, kaum hört er den Namen Amalia, alles aus der Hand fallen lässt und nach Hause will. Das eine bedingt das andere, das eine macht das andere erklärlich, dieser Karl ist politisch von Umsturzgedanken weiter entfernt als nur irgendwer. Da kann er von Republik faseln, so viel er will. Bei Schiller tut er es ohnehin nur ein einziges Mal, anfangs.
Was haben wir also: Gemisch. Ein Familiendrama, eine Liebesgeschichte, ein wenig Sturm und Drang mit allen Verweisungen auch, und, das haben etliche Interpreten auf alle Fälle energisch behauptet, wir haben ein moralisches Aufklärungsspiel von Tugend und Laster, schließlich einen reuigen Sünder, der dem Manne hilft, dem geholfen werden kann. Dass dieser Schluss-Klassiker nicht gestrichen ist, ist eher bedauerlich, denn er hängt in der Luft ohne seine in Meiningen gestrichene Vorgeschichte. Dafür aber gibt es den Rahmen. Der Rahmen ist, wie in der Fabel der Aufklärung, die angehängte Moral von der Geschicht', hier so aufdringlich und überdeutlich, dass einem jeder Spaß vergeht. Es ist im übrigen reiner Köhlerglaube, dass die Kinder mehr und besseres „Feeling“ für Welt haben, dass man sie nur fragen muss, ihnen nur zuhören muss, und alles würde besser. Die Kinder haben die dumme Eigenschaft, erwachsen zu werden, die wenigsten von ihnen werden das als Prozess von Verblödung, Erblinden und Ertauben sehen, bei sich selbst ohnehin nicht und bei anderen anständigerweise auch nicht. Am Rande stehen und dazu weltfremd sein, kann guten Gewissens nicht als Lösung für irgendetwas verkauft werden, es reicht aber für Kunst.
Schiller hat, einer der Späße, die sich der müpfige Ex-Karlsschüler gönnte in „Die Räuber“, die sehr berühmte Ring-Parabel aus „Nathan der Weise“ persifliert mit seiner Geschichte von den Ringen an Räuber Moors Hand. Nur hat er die in Meiningen einem christsozialen Minister, einem Finanzrat und einem Verfassungsschutzpräsidenten abgenommen. Geht das in irgendwelchen Köpfen tatsächlich als Aktualisierung durch oder sind das einfach nur dumme Einfälle? Wenn jemand jemanden im Regen stehenlässt im übertragenen Sinne, verbildlicht man das auf einer Bühne des 21. Jahrhunderts dadurch, dass es dort von oben regnet und dann, Überraschung, plötzlich aufhört, als sich drunten ein Kuss ereignet? Wir wären bei Klischees: Warum, um alles in der Welt, trägt der alte Graf Moor längs gestreiften Schlafanzug mit Bademantel, wo er doch schon so schön mit dem Goldfischglas hantierte? Zitieren wir den alten Fontane von 1889: „... es geht auch nicht, den alten Moor einfach als guten, taprigen alten Mann auf die Bühne zu bringen. Geschieht das, so kommt etwas Ödes und Drähniges in die Rolle, das nicht bloß langweilt, sondern auch falsch ist.“ In Meiningen gibt es zum Glück Hans-Joachim Rodewald, der rettet, was zu retten ist an dem Alten.
Der Klassiker „Die Räuber“ ist im Grunde nicht einmal ein sortenreiner Sturmunddrangiker, das Stück selbst widerspricht jeder stabilen Einzelthese, die schon im Aufgestelltwerden zu fallen beginnt. Am ehesten will man heute eine sehr frühe Attitüde von Bürgerschreck-Gebaren erkennen, apart schon deshalb, weil es noch gar nicht so richtig ein Bürgertum zum Erschrecken gab. Aber Sprach-Drastik, wie sie Schiller wagte, wir gehen freilich davon aus, dass zu seinen Lebzeiten das meiste davon nie wirklich gesprochen wurde auf den Bühnen, die den Fünfakter spielten, die ging als Trainingsfeld durch. Warum eigentlich nehmen alle Inszenierungen hin, dass Amalia ihren Karl nicht erkennt, weder an Gesicht noch auch nur Stimme, während Vater und Diener mit weniger auskommen? Dass Franz, der Böse, seine eigene Hässlichkeit beschwört wie alle Fränze, die ich bisher sah, nie jedoch wirklich hässlich aussieht, wohl aber ausgerechnet schwarzafrikanische Physiognomien zitiert, geht das bei Schiller durch, während andernorts umgehend die Rassismus-Keule geschwungen würde? Nein, das war nur eine rhetorische Bemerkung. Schlimmer ist auf jeden Fall, dass einer, nur weil ihn sein Vater verstößt, gleich den ganzen Ozean vergiften möchte.
Wer nur ein wenig genau hinhört, wenn die Räuber sich gegenseitig aufmuntern, Mut machen, sich Absolution erteilen für ihre Übeltaten, sie gar feiern rückblickend oder sich wenigstens nicht schämen, der hört auch die schlimme Formel „Freiheit oder Tod“. Der hört auch die Drohung, dass der gute Karl strenge Musterung halten will in den eigenen Reihen. Hier scheint, wie von allein, sich das Lenin-Stalinsche Prinzip der Einheit und Reinheit der Partei mitten in ein gar nicht sehr politisches Stück geschlichen zu haben und wir finden rückblickend die berühmte Piscator-Idee mit dem Spiegelberg als Trotzki viel weniger an den Haaren herbeigezogen als im allgemeinen zu Schillers vermeintlichen Gunsten angenommen wird. Gefangenenbefreiung als Hauptakt eigenen revolutionären Tuns, da muss man in jüngerer Geschichte keine 50 Jahre zurückgehen, Revolution aber ist ja kaum in den „Räubern“. Eher schon Mühsams Revoluzzer, im Zivilstand Lampenputzer. Wir wollen froh sein, dass Kosinskys missbrauchte, opferbereite Braut in Böhmen auch Amalia hieß und nicht etwa Kunigunde oder Thusnelda, „Die Räuber“ wären glatt versandet in den böhmischen Wäldern. Versteht zudem jemand, warum sich Schweizer tötet, als Franz tot ist? Frage an Schiller.
Die Meininger „Räuber“ bekamen ein vereinzeltes Bravo aus dem II. Parkett rechts, die üblichen Fanblock-Quietscher natürlich auch. Schon nach der zweiten Premiere wird der Anteil Verwandter und Freunde am Gesamtbeifall keine Rolle mehr spielen, Eltern und Mitschüler gehen gemeinhin nicht zweimal in ein und dasselbe Stück. Was kommt unter den Strich: die feindlichen Brüder Karl (Vivian Frey) und Franz (Björn Boresch), die Schiller einander nie auf der Bühne begegnen lässt, können sicher mehr aus der Widersprüchlichkeit ihrer Rollenvorlagen herausholen, vor allem bei Boresch hatte ich länger das Gefühl, er fürchte das Klischee mehr, als gut ist für die beste Rolle des Spiels. Mira Elisa Goeres ist eine jener neueren Amalias, die den Vorwurf der Blässe an die Rolle blass aussehen lassen. Sie schwebte im Kronleuchter herab. Unter den Räubern agiert Michael Jeske sicher und souverän wie immer, wenn er auf dieser Bühne steht, auch er entging dem Klischee, das jedem Spiegelberg droht, etwas mehr Diabolik und Zynismus freilich hätten kaum geschadet. Die anderen waren Georg Grohmann (Roller), Peter Liebaug (Razmann) und Sven Zinkan (Schweizer). Als ein Kollege mir in der Pause das Wort „Agitprop“ zuflüsterte, widersprach ich nicht.
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