Büchner: Leonce und Lena; Meininger Staatstheater
Will ich eigentlich aus dem Theater gehen mit einem fassbaren Erkenntnisgewinn, etwa der Art: Leberwurst essen ist klimaschädlich? Oder: der rechte Rand ist von der anderen Seite betrachtet der linke Rand? Ein Journalist konstatierte kürzlich im Blick auf den Spielplan der kommenden Saison die Abwesenheit echter Klassiker. Ich habe zwar seit langem eine relativ umrissene Vorstellung davon, was Klassiker sind, was echte Klassiker aber wären, ahne ich nur. Büchner, das will ich meinen, ist ein Klassiker, wenn wir uns darauf einigen können, dass es klassische Eigentore gibt, die nicht von Goethe oder Schiller in der sechsten Minute ihrer Nachspielzeit geschossen wurden. „Leonce und Lena“ ist zuerst und vor allem ein herrlicher Text. Ein hyperintellektueller auch, denn er birst vor Anspielungen, überbordend in alle Richtungen, falls das als denkbar durchgeht. Beim Lesen schon bietet der Dreiakter pures Vergnügen, es sei, man hat eine historisch-kritische Fassung vor Augen, die alle Varianten und Lesarten in einem Druckbild zu bieten Ehrgeiz entfaltet. Da geht einem eher der Hut hoch, virtuell gesprochen. Man kommt dabei jedoch unter Umständen zu der, ha, verstörenden Erkenntnis, dass philologische Textarbeit und Bühnenpraxis im Umgang mit dem Text weiter auseinander liegen als schnarchende alte Ehepaare in getrennten Schlafzimmern.
Als ich, lang ist es her, im nämlichen Meiningen die Inszenierung von Kleists „Amphitryon“ sah, hatte ich das Urerlebnis Renatus Scheibe als Diener Sosias. Danach sah ich den Mann in weiteren neun Rollen, sein König Peter ist jetzt meine Nummer 11. Und ich behaupte mit älter werdender Dreistigkeit: wieder ein Urerlebnis. Im Handbuch für Urerlebnisse finde ich den gut gemeinten Hinweis, es sei gut, wenn Urerlebnisse nicht zu dicht aufeinander folgen, denn je dichter eine Reihe von Gipfeln, um so mehr ähnele sie einer normalen Ebene, nur halt etwas weiter vom Meeresspiegel entfernt. Wenn ein Regisseur, diesenfalls der französische Bulgare Galin Stoev, es schafft, in seinen Mimen (und Miminnen, von den restlichen Geschlechtern fiel mir in den Kammerspielen keines auf) Spielfreude von der Kette zu lassen, dann ist schon fast alles gewonnen. Das Programmheft ordnet fünf Namen fünf Rollen zu: Georg Grohmann ist Leonce, Nora Hickler Lena, Sven Zinkan Valerio, Renatus Scheibe König Peter und Evelyn Fuchs die Gouvernante. Bei Büchner, es lässt sich nachschauen, kommen außerdem noch ein Hofmeister, ein Zeremonienmeister, der Präsident des Staatsrates, der Hofprediger, der Landrat, der Schulmeister, Rosetta sowie Bediente, Staatsräte, Bauern etc. vor. Ein Gemälde als hinterer Rundhorizont ist bei ihm nicht vorgesehen. Passt aber.
Der Klappentext der von Burghard Dedner herausgebenen kritischen Studienausgabe von „Leonce und Lena“ beginnt mit zwei rhetorischen Fragen: „Satirische Abrechnung mit dem Ancien régime oder Vorwegnahme des absurden Dramas? Vollendung des romantischen Lustspiels oder Zufallsprodukt eines zeitweiligen Konformismus?“ Allein die beiden „oder“ machen die Fragen anrüchtig. Und es geht kaum besser weiter: „Unter Büchners Werken ist Leonce und Lena nicht das bedeutendste, wohl aber das am stärksten umstrittene. Daher bedarf es vielleicht am meisten der Interpretation.“ Das „vielleicht“ entlässt aus aller Verantwortung für die eigene (Pseudo)-These. Georg Büchner hat, es muss wiederholt werden, auch wenn es nervt, nicht einmal seinen 24. Geburtstag erlebt. Alle, aber auch wirklich alle Aussagen, die aus der rein zeitlichen Abfolge der Werke, aus ihrem Neben- und Nacheinander gewonnen wurden und werden, sind mehr als fragwürdig, denn wir wissen einfach nicht und können anhand des vorliegenden Lebensmaterials auch nicht gehaltvoll darüber spekulieren, was weiter aus diesem höchstbegabten jungen Mann geworden wäre. Selbst eine rein wissenschaftliche Karriere ist nicht völlig auszuschließen. Es ist nicht sagbar, ob er mit Prosa, mit Drama weiter gemacht hätte, mit Lustspiel oder Tragödie.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass gerade „Leonce und Lena“ ihm eine Perspektive gewiesen hätte. Doch ist diese meine private Meinung nicht mehr wert als die Antwort auf die üblichen Inquisitoren-Fragen aller pseudokritischen Aktivisten: Können Sie ausschließen, dass? Nein, niemand kann das, selbst Gott musste sich von seiner eigenen Schöpfung überraschen lassen. An Lustspielen aber, und dass lässt sich geradezu gerichtsfest aussagen, ist die gesamte deutsche Bühnenliteratur arg karg bestückt. Sie gilt es zu hegen und zu pflegen und zu spielen zum Vergnügen aller, die zum Kichern nicht in den Keller gehen. Galin Stoev hat, wenn ich das richtig las, an den ersten Häusern Frankreichs inszeniert und kehrt dennoch regelmäßig nach Bulgarien zurück, um auch dort zu arbeiten. Das unterscheidet ihn von etlichen Bulgaren, die ich kenne. Wir haben hierzulande keine Entsprechung der Comédie-Francaise und ihres Umgangs mit den Klassikern Frankreichs. Deshalb ist buchstäblich jeder, der in diese Schule ging, von größtem Interesse. Stoevs Arbeit mit den Meiningern für diese Festwoche, das steht mir außer allem Zweifel, ist durch ihr mit heftigem Premierenbeifall belohntes Produkt „Leonce und Lena“ mehr als beglaubigt. Es war ein Vergnügen, diesem Spiel zuzuschauen, zuzuhören: dieser Text lebt und lebt.
Dabei ist es, auch diese offene Tür renne ich gern ein, schaue allenfalls nach, ob sie überhaupt noch in ihren Angeln hängt, vollkommen gleichgültig, wo genau denn die Königreiche Popo und Pipi zu verorten wären, deren Königskinder erst auf einem mittelleichten Umweg zueinander kommen. Dass Popo und Pipi ziemlich komische Namen für Königreiche sind und dennoch keine umfangreichen Feldforschungen der einschlägigen Philologie auslösten, ist von selbiger Philologie kritisch angemerkt worden. Wie verständlich und aufklären es dabei zugeht, sei mit einem Zitat belegt: „Leonce und Lena sind die Kinder, die Erben und Kronprätendenten von Popo und Pipi. Das ist klar. Dich sie sind nicht nur zeremoniell und dynastierechtlich einander verbunden, sondern auch metahistorisch schon auf einer semantischen Analogie- und Assonanzebene, nach dem Gesetz phonetischer Symmetrie. Die Assonanz der Individualnamen Leonce und Lena wird durch die Alliteration ihrer Dynastie- und Territorialnamen Popo und Pipi verstärkt und beglaubigt.“ Abgesehen davon, dass es keineswegs klar ist, ob Lena in Pipi Kronprätendentin ist, mir ist bei Büchner nichts über weibliche Erbfolgen aufgefallen, ist das starker Tobak. Immerhin erfahren wir, dass man auf Popos Nordgrenze spazieren kann, in der DDR ging das in keiner Himmelsrichtung.
Klein waren die Königreiche, die uns imaginiert werden und hatten dennoch Staatsräte, die freilich in Meiningen von der unsichtbaren Sorte bleiben. Letztlich sind Könige, die bei Verheiratung ihrer Kinder die Krone ablegen und sich nur noch dem Denken widmen wollen, noch heute seltener als weiße sibirische Tiger, die schnurren, wenn Wladimir Putin mit dem Gewehr durch die Büsche streicht. Zurück zum runden Hintergrund, gebildet nach einem Gemälde von Claude Lorrain. An dem pinseln die Meininger Mimen herum, bevor sie in Aktion treten, dabei ihre grauen Mäntel ablegen, unter dem sie mehr oder minder spielgerecht gekleidet sind. Renatus Scheibe trägt die klassisch weiße Unterwäsche darunter, unten mit Eingriff. Rechts auf der Bühne gibt es einen Glaskasten mit Schiebetür, darinnen diverse Bierkästen, auf denen man sitzen, aus denen man sich bedienen kann. Links auf der Bühne ein Musikapparat, den man früher Juke-Box nannte. Auf ihm schallt dann passend zur Italienvision der Backpacker Leonce und Valerio italienisches Liedgut, aus der Zeit, als die Deutschen mit ihren VW Käfern über den Brenner töffelten. In der Bühnenmitte ein zweistufiges Gestell, hinten vor dem Rundbild ein variabel nutzbares mobiles Aluminium-Gerüst. Verantwortlich dafür Mathieu Lorry-Dupuy, verantwortlich für die Kostüme Kerstin Jacobssen.
Vom Büchner-Text sagt der Regisseur: „Er ist sehr komplex und extrem anspruchsvoll und verlangt einen anderen Ansatz. Aber was ich vor allem an dem Text mag, ist, dass immer eine Art Mysterium bleibt und man es nie schafft, ihn eindeutig zu erklären. Man kann ihm keinen Stempel aufdrücken, das ist es, was mir heute sehr daran gefällt.“ Das unterscheidet Büchners Text sehr wohltuend und sehr tatsächlich von anderen Lebensmitteln, denen sich eine hyperaktive Öffentlichkeit gleich mit ganzen Stempel- und Farbkennzeichungssystemen nähert, damit allein das Selbstwertgefühl der Konsumenten, nicht aber die Qualität des zu Konsumierenden beeinflusst. Es glänzen in Meiningen sozial unausgewogen ein König und eine Gouvernante. Denn neben dem Scheibe, der ein Komödiant ist, wie er im Buche steht (vier Euro in Münzen ins Phrasenschwein) ist auch Evelyn Fuchs eine Füchsin der Spielfreude, wenn sie das defensive Mittelfeld verlassen und ihre Rolle nach vorn interpretieren darf (vier weitere Euro hinzu). Man achte auf ihr Tun und Lassen im Glaskasten, auf dem Rasen nennt man es Spiel ohne Ball. Die anderen Rollen haben es, das liegt an Georg Büchners Kunst, in unterschiedlichem Maße schwerer. Leonce ist Hauptträger der paradox-grotesk-absurden Langeweile-Rhetorik. Die will so gesprochen werden, dass sie im Parkett und auf den Rängen überhaupt ankommt und auch noch verstanden wird. Also nie zu schnell.
Georg Grohmann hätte sich vielleicht da und dort eher neben als hinter seinen Text stellen sollen. Sven Zinkan gab seinen Valerio zu oft gehobenes Kinnes und unbewegten Gesichtes. Im möglichen Wechselspiel bis zur späten Aussicht auf einen echten Ministerposten in Popo unter Neu-König Leonce bliebt Luft nach oben (vier Euro). Und Lena? Nora Hickler? Eher unauffällig im Mittelfeld, auffällig mit Plissérock. Es gab zu viele grandiose Spielideen, die nicht sie, wohl aber Renatus Scheibe und Evelyn Fuchs zelebrieren durften. Wenn Scheibe seinen Stock würgt nach einem Dialog mit ihm, der auf jeder Comedy-Bühne als Glanz- und Solo-Rolle bestehen würde, dann ist das mein Spieler des Abends und hätte selbigen allein gerettet, wenn der sonst missraten wäre. Genau das aber ist er nicht. Knoten ins Taschentuch dafür. Und das neue Wissen gewonnen: man kann mit einem geknoteten Taschentuch im Zweifel sogar Golf spielen. Weil das der erste Schauspielabend der Festwoche war, die bis 14. April andauert, sprach vorher die Botschafterin Frankreichs, Anne-Marie Descôtes nach dem Intendanten Ansgar Haag. Sie sprach so klug, so gut, dass Crista Mittelsteiner, die Festivalleiterin, nichts mehr hinzufügen wollte. Neunzig Spielminuten danach hielt die Hochstimmung an. Möge sich die Festwoche in Meiningen fest/festlich etablieren.
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