Horváth: Kasimir und Karoline; Staatsschauspiel Dresden
Als kürzlich eine Quoten-Regelung für das Berliner Theatertreffen ins Gespräch gebracht wurde, kam mir der gar nicht so abwegige Gedanke, was denn wohl geschehe, wenn neun der zehn besten, interessantesten, aufregendsten, spannendsten, mit der Premiere-Intelligenzija zu sprechen, Neu-Inszenierungen von Frauen gemacht worden wären? Müssten vier von neun Regisseurinnen zu Hause bleiben, damit auch fünf Männer paritätisch vertreten sind? Ich mag die Namen nicht erst aufzählen von jüngeren und jungen Damen, die Jahr für Jahr mit dem, was sie auf ihre jeweiligen Bühnen bringen, eine Einladung verdient hätten. Dass zu diesen Namen Nora Schlocker natürlich gehörte, hätte ich bis eben noch meinem Archiv entnehmen müssen als gute Fremdbotschaft. Jetzt bin ich aus eigener Anschauung überzeugt: diese Österreicherin des Jahrgangs 1983 verdient alle Aufmerksamkeit und noch eine gute Schippe drauf. In Dresden hat sie mit „Der gute Mensch von Sezuan“ debütiert, „Kasimir und Karoline“ ist ihre zweite Arbeit für das Staatsschauspiel. Die Frage nach dem guten Menschen - was ihn ausmacht, was ihn daran hindert, einer zu sein, ob überhaupt einer denkbar ist, wenn die Zeiten nicht danach sind - das alles und mehr konnte stehen bleiben. Und ich stelle in Zweifel, ob sie überhaupt je an Interesse verlieren wird. Dresden darf sich freuen.
Dass „Kasimir und Karoline“ ein starkes Stück ist, schrieb ich schon. Vieles, was ich zur Geraer Inszenierung vor mittlerweile fast sieben Jahren festhielt (hier in THEATERGÄNGE nachlesbar), könnte ich mit der Copy-Taste einfach übernehmen. Selbst die verdrückten Tränen, die ich in Ostthüringen sah in vermeintlich tränenfesten Gesichtern, sah ich auch in Dresden und ich selbst, warum es verschweigen, hatte im Parkett schon deutlich trockenere Jochbeine nebst Augenwinkel. Man muss die Regie nicht verdammen, die das erreicht, indem sie ihre Akteure zu wirkungsstarken Leistungen treibt. Nora Schlocker hat ihre fünf Damen und sechs Herren ganz offenbar so motiviert und instruiert, dass nach den reichlich zwei Stunden Spielzeit (Pause kam hinzu) die nicht allzu üppigen Bravo-Rufe aus den hinteren Parkett-Reihen als untertrieben bezeichnet werden dürfen. Drei Reihen vor uns saß einer, der in der kommenden Spielzeit mit „Macbeth“ sein Dresdner Regie-Debüt geben wird, ich sah ihn ziemlich heftig klatschen: Christian Friedel, als „Hamlet“ auf eben dieser Bühne immer noch allseits in bester Erinnerung. Und längst vom Film her natürlich auch. Kollegen-Beifall ist nicht der schlechteste Gradmesser, den es gibt, auch wenn ihn bisweilen nur die ganz gewöhnliche Höflichkeit animiert haben sollte, Höflichkeit ist alles andere als ehrenrührig.
Es gab Zeiten, da mutmaßten ausgewiesene Horváth-Kenner über die Schwierigkeiten, gerade dieses Volksstück auf die Bühne zu bringen - der Autor selbst nannte es später eine Ballade - weil es Dinge fordert, die Bühnen-Technik scheinbar oder tatsächlich überfordern. Wie etwa bringt man einen die Theresienwiese überquerenden Zeppelin auf seinem Weg nach Oberammergau vor die Zuschaueraugen, wie eine an den anderen Akteuren im Karussell vorbeidrehende Karoline? Sieht man die einfachen Lösungen von Nora Schlocker, möchte man beinahe erschrocken an der bescheidenen Vorstellungskraft der früheren Fragesteller zweifeln: Natürlich fliegt der Zeppelin unsichtbar über den Köpfen der Zuschauer, natürlich drehen sich die Karussell-Gondeln unsichtbar über den Köpfen der Zuschauer. Wer auf der Bühne steht, muss nur dorthin schauen und schon ist alles gegenwärtig. Niemand im Parkett ist überfordert, niemand wird allerdings auch wie ein Klein-Trottel an die Hand genommen, ein nicht vorhandenes Geheimnis zu lüften. Jessica Rockstroh hat eine Bühne bauen lassen, die als fast puristische Reminiszenz an die berühmte und wenig später oft dumm belächelte „Jessner-Treppe“ erinnert. Einfach Stufen von oben nach unten, die die Bühne in nahezu voller Breite ausfüllen, die Stufen oben kleiner und niedriger als unten, die oberen so drehbar, dass sie eine glatte Fläche zum Rutschen bilden können, Farbe zwischen gelb und grün.
Erich Kästner schrieb für die „Neue Leipziger Zeitung“ vom 17. November 1932: „Er hat die Fähigkeit, volksmundartig auszusprechen, was die Figuren eigentlich nur dumpf empfinden. Er kann das wahre Gefühl hinter dem gesprochenen Kitsch transparent machen.“ Kästner meinte die Uraufführung von „Kasimir und Karoline“ in Leipzig, die letztlich nichts anderes war als Probelauf für die Berliner Erstaufführung Tage später im Komödienhaus. Schon in Leipzig spielte das Ernst-Aufricht-Ensemble. Nora Schlocker setzt in Dresden kompromisslos auf eben die von Kästner (einem Dresdner) gelobte Sprache Horváths, sie lässt ihre Darsteller ihre Sätze so sprechen, dass sie für sich wirken. Denn es geht nicht nur um Gefühl hinter Kitsch, um dumpfe Empfindung hinter Volksmund. Es geht um sprechende Sprachlosigkeit, es geht um eine Besonderheit der Horváth-Dialoge, die sehr oft zitieren, auch wo sie scheinbar nicht zitieren: diese Redenden verfügen über keine eigene Sprache, sie sprechen Fremd-Sprache und in dieses Sprechen bricht bisweilen, genau dosiert, mag ich glauben, Sinn ein von einer Tiefe, die erschrocken machen kann. Das berühmteste Beispiel hier ist Karolines Satz: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen -“.
Viel traurigere Sätze in deutschsprachigen Bühnenstücken kann es kaum geben, bei Horváth selbst allenfalls müsste man nach ihnen suchen. In Dresden ist Karoline (Anja Laïs) fast am oberen Rand der Treppe angelangt, dreht sich nur halb nach hinten, als sie ihn sagt. Das Publikum ist da längst fast atemlos, das Lachen hat sich längst verloren: es ist wie in den besten Hollywood-Produktionen, die komplette Bandbreite von Slapstick-Schwank bis tiefste Tragödie wird ausgeschritten und nie liegt ein Ton daneben. Dass die Vorlage aus mehr als hundert einzelnen Szenen besteht, selbst die Pause hat Horváth zu einer eigenen Szene gemacht, kann eine Inszenierung kaum kenntlich machen, eine Akt-Einteilung fehlt ohnehin. Was aber in Dresden der Vorlage beispielhaft folgt, sind die stummen Szenen, die es gibt. Eine von Marcel Blatti besorgte Musik, von fünf Instrumentalisten zu Gehör gebracht, drängt sich nie vor, fügt sich ein, wie es Horvath selbst wohl durchaus gefallen hätte. Denn bei ihm ist Musik immer wichtig, nur eben heute kaum noch die, an die er selber dachte. Denn deren Symbolwert oder Bedeutung von einst erschließt sich heute keinem Zuschauer mehr ohne umfangreiche Einführung oder Studium. Dietrich Zöllner, Florian Mayer, Filip Sommer, Benjamin Arnold und Georg Wettin werden mit ihren Instrumenten sogar selbst zu Akteuren.
Es klingt lustig für Thüringer und Sachsen, wenn in einem Stück mit Oktoberfest in München auf der Bühne gesagt wird, einer stamme aus Norddeutschland, nämlich aus Erfurt. Noch lustiger, wenn in diesem Stück nach den Mädchen in Erfurt gefragt wird, die es angeblich kaum gibt. Nora Schlocker lässt den aus Weiden in der Oberpfalz stammenden Kommerzienrat Rauch (Jannik Hinsch) ziemlich eindeutige Bewegungen hinterm Lederhosenlatz machen, um die Antwort zu geben, was denn dann die Erfurter machen. Würde, wäre es nicht Kunst und ziemlich alte dazu, im Antidiskriminierungsamt überprüft, ob ein Fall von Erfurt-Bashing vorliegt. Auch der Berufsstand der Zuschneider kommt arg schlecht weg bei Horváth. Schürzinger ist der Zuschneider im Stück, gespielt von Raiko Küster, der sich demütigen lässt von seinem Chef, weil Aufbegehren in diesen Zeiten Arbeitslosigkeit bedeuten kann. Denn anders, als unser Grundgesetz behauptet, ist die Würde des Menschen antastbar und zwar leichter als etwa seine sekundären Geschlechtsmerkmale, da läuft die öffentliche Verurteilung rasch und unerbittlich und in fast allgemeinem Konsens. Keine Probleme sah das Oktoberfest Horváths mit dem Zurschaustellen physischer Abnormitäten: in Dresden ist die bärtige Juanita des Autors (Marina Poltmann) mit Ganzkörperbehaarung geschlagen.
Und sie kann keineswegs nur affenartige Geräusche abgeben in ihrer Rolle, sie kann, wie sich bald zeigt und wie der Ausrufer (Emil Borgeest) ausdrücklich anpreist, auch mehrere Sprachen sprechen, sie kann auf französisch singen. Das ist dann eine der filigranen Erfindungen der Inszenierung: Anja Laïs fällt in den Gesang ein und der wird zweistimmig, bis ihn die Tuba des Musikanten-Quintetts jäh zerstört. Das bierselige Singen der Zecher mit ihren Maßkrügen in den Händen wird zum starken Kontrast. Und Karoline, die fliegen will, schwebt an einem Seil, ganz heutig gesichert, nach oben, auch das ein starkes Bild. Eva Hüster und Tammy Girke sind Elli und Maria, die sich in letzter Konsequenz nicht entscheiden können, wie weit sie sich verführen lassen sollen, sie rutschen die Schräge hinab, sie kreischen und sind backfischlüstern, schrecken aber auch zurück, wenn ihnen alles zu nahe kommt. Karina Plachetka ist „Dem Merkl Franz seine Erna“, die scheinbar alles mit sich machen lässt, die scheinbar ganz flach und dumm ist, dann aber plötzlich und eindrucksvoll zeigt: Irrtum, die Oberfläche ist nicht alles. Sie spürt in Kasimir (Viktor Tremmel), was der in sich selbst verdrängt und unterdrückt, sie geht aber auch nicht einfach zu neuen Tagesordnungen über. Die drohende lange Haftstrafe für ihren tuberkulosekranken Merkl Franz trifft und betrifft sie tief.
Der notorische Kriminelle Merkl Franz (Ingo Tomi) zelebriert seine Szene mit dem wertlosen Diebesgut aus der aufgebrochenen Limousine: es sind Sex-Heftchen und Magazine, kein Geld, keine Wertsachen, die ihm in die Hände fielen. Rauch und Speer (David Kosel) geraten sich fast an die Wäsche, sie sind ohne auch nur das geringste schlechte Gewissen auf kurzes Vergnügen, auf die schnelle Nummer aus, Karoline kommt ihnen da eben so recht wie Elli und Maria. Es fallen Sätze wie „So ein Weib ist ein Auto, bei dem nichts richtig funktioniert – immer gehört es repariert.“ Wie unter Schock wiederholt ihn Viktor Tremmel. Das Parkett ist spürbar irritiert, als Karin Plachetka sagt: „Wenn ich ein Mann wär, dann tät ich keine Frau anrühren. Ich vertrag schon den Geruch nicht von einer Frau. Besonders im Winter.“ Und diese Erna sagt auch: „Aber die Menschen wären doch gar nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät. Es ist das eine himmelschreiende Lüge, dass der Mensch schlecht ist.“ Spätestens hier ist die Linie zu Brecht hörbar: rückwärts in die „Dreigroschenoper“, vorwärts zu „Der gute Mensch von Sezuan“. Dass der gute Mensch eine Frau ist, passt in diesen Zusammenhang. Wo Erna und Karoline hier, Marianne in den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ oder die anderen Fräulein bei Horváth „schlecht“ scheinen, sind sie es nicht.
Für das Programmheft hat Dramaturgin Julia Weinreich eigens den Text „Hinter der heimatlichen Fassade“ geschrieben. Daran zitiert sie den Kritiker Benjamin Henrichs, 1946 geboren, in die Feuilleton-Geschichte auch eingegangen, weil er mit Sigrid Löffler in der ZEIT-Redaktion, wie man so hübsch sagt, unüberbrückbare Differenzen entfaltete, mit der Aussage: „Die Stille ist die wahre Weltmacht in Horváths Theater, ihr unterwerfen sich alle, vor ihr verstummen sie alle: die Spießer mit ihrem biederen, die Liebenden mit ihren süßen Lärm.“ Schöner wäre eine Quellenangabe dazu gewesen. Noch schöner der Verzicht auf die verbrauchte Floskel von der Versuchsanordnung. Im Drama prallen Menschen auch aufeinander, wenn der Dramatiker keinen Versuch mit ihnen anordnet, es sind aber Bühnenmenschen. Die Bühne kein Labor, kein Schachbrett, man könnte nicht einmal reinen Herzens sagen, die Bühne sei der einzige Ort für Menschenversuche, der Ethikrat würde zu viele Taschentücher nass weinen. Im Staatsschauspiel Dresden, das muss ich loswerden, fielen mich zuletzt leise Zweifel an. Nora Schlocker hat mit diesem „Kasimir und Karoline“ alte Lust neu angefacht, das neue monochrom gelbe Spielzeitheft mit den haptischen Eigenschaften, von denen Pseudo-Buchfreunde gern reden, enthält außerdem schon jetzt unwiderstehliche Lockstoffe.
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