Lessing: Minna von Barnhelm; Meininger Staatstheater

Nein, der Dreißigjährige Krieg war es nicht, der Lessing zu „Minna von Barnhelm“ animierte, wie man hinter mir mutmaßte, als vorn zu Klavier-Begleitung schwarzweiße Dokumentarfilmsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt wurden. Es war der Siebenjährige Krieg, es war allerhand Ewald von Kleist, im Programmheft erfreulich informativ nachzulesen. Letztlich wissen wir von diesem Krieg weniger als von fast allen Kriegen unserer deutsch-preußischen Vorfahren, er springt deshalb auch nie aus der Assoziationskiste, wenn uns das Wort Krieg begegnet. In Dresden, wo ich zuletzt eine „Minna von Barnhelm“ sah, wurde Goya ins Spiel gebracht mit seinen Capricchios. Dem Theaterhimmel sei Dank: Regisseur und Intendant Ansgar Haag ließ nach der Weltkriegs-Ouvertüre weiteren Ehrgeiz in dieser Richtung komplett fallen und heraus kam ein wahrhaft runder Lessing-Abend mit dem, was im Theater wichtiger als wichtig ist: Schauspieler-Leistungen. Nora Hickler, geboren an meinem 15. Hochzeitstag, anmutend ein wenig wie Mala Emde, gab als Kammerjungfer Franziska meinem sehenden und spähenden Auge Labsal ohne Ende. Das ging so weit, dass ich mich ärgerlich nach rechts und links reckte, wenn Dagmar Poppy als Minna und/oder Björn Boresch als Tellheim meine freie Mittelplatzsicht auf die stumm brillierende Franziska schnöde verdeckten.

Hinter mir stellte jemand die leise Frage, wie denn dieser Tellheim eigentlich mit Vornamen heiße und ich fühlte mich auf dem linken Fuß erwischt: ja, wie heißt er denn eigentlich? Namen sind Lacher, wie in Meiningen erlebt werden konnte, als Franziska den ihren nannte: Willig. So sind wir, wir lachen, wenn eine Frau Willig heißt und aus den fachlichen Erläuterungen der fachlichen Lessing-Erläuterer wissen wir, dass Just, der Bediente des Majors (Georg Grohmann in Meiningen) ebenso ein „sprechender“ Name ist wie eben „Willig“. Tatsächlich dauert es ja nicht die fünf Akte Lessings, bis diese wunderbare Franziska, ich wiederhole mich: diese wunderbare Franziska, willig ist, den Wachtmeister Paul Werner, der hat einen Vornamen, so liebenswürdig zu finden, dass sie ganz fibbelig wird darüber, herrlich fibbelig. Ich las er dieser Tage eine Kritik neu, in der der bis heute unvergessene Otto Brahm für sich festhielt, „dass man selbst das Schweigen der Zofe lieber sah, als dass man auf das redende Fräulein hörte.“ Das ging damals freilich zu Lasten der später als komische Alte berühmt gewordenen Adele Sandrock in der Minna-Rolle. In Meiningen, das war für mich sehr wohltuend auffällig, ging Nora Hickler nicht zu Lasten von Dagmar Poppy. Und im Zusammenspiel beider fehlte ebenso wohltuend alles, was an Fallstricken für beide denkbar wäre.

Oft genug in der Inszenierungsgeschichte der „Minna von Barnhelm“ musste gerügt werden, dass im Verhältnis von Herrin und Bediensteter ebenso zu viel Vertraulichkeit vorgeführt wurde wie zwischen dem Major, seinem Burschen und seinem Wachtmeister. Bei den Männern war in Meiningen seitens der Regie nicht alles getilgt, was besser getilgt worden wäre: kein preußischer Major bettet sich den Kopf seines Burschen auf den Schoß und streicht ihm beruhigend durch die Haare. Das machen vielleicht Väter mit Söhnen, eher Mütter aber mit Töchtern und Söhnen. Zwischen Dagmar Poppy aber und Nora Hickler, da war das Maß so genau austariert, dass Ansgar Haag allein dafür einen speziellen Szenerie-Beifall verdient. Einen weiteren für die Leitung seines Tellheim Björn Boresch. Der nicht nur einen verwundeten, sondern gar einen weggeschossenen Arm zu zeigen hatte, zunächst ein wenig nach Black-Metal-Wikinger aussah, aber sehr schnell etwas vorführte, was einem Bühnen-Tellheim nur gut tun kann. Boresch machte aus der traditionell „undankbaren“ Rolle des ehrfixierten Majors außer Diensten eine dankbare Rolle. Das ist viel eher eine Leistung als die des Vollblutkomikers Renatus Scheibe, der den Leutnant Riccaut mit dem endlos langen Namen, mit der Spielsucht und der Dreistigkeit des Charmeurs natürlich so spielte, wie man es erwarten durfte: der einzige heftige Szenenapplaus des Abends gebührte logisch ihm.

Ich lasse einen meiner leider nicht als Markenzeichen innerhalb der Theaterkritik geschützten Fußball-Vergleiche folgen: Scheibe ist der Mittelstürmer und Torschützenkönig, von dem man erwartet, dass er trifft. Boresch war in diesem Fall die hängende halbe Sechs, der Bälle vorlegen soll und Regie führen im Mittelfeld: wenn der aus vierzig Metern ins linke obere Eck feuert, wird er „Man of the Match“, auch wenn der andere einmal mehr traf. Der Vergleich hinkt, aber er hinkt hübsch. Boresch hatte viele kluge Bewegungen und Nicht-Bewegungen: mal steif rückwärts, mal in letzter Sekunde den Minna-Kontakt meidend. Auch die natürlich nervende Begriffsstutzigkeit der Figur, die jähen Übergänge im Umgang mit Paul Werner (Yannick Fischer) und Just kamen fast nie unglaubwürdig im Parkett an. Dagegen legte sich Georg Grohmann mit seinem viel zu lauten Einstieg selbst einen Stein vor die Füße, ich will meinen in Zusammenhang mit einer anderen „Minna von Barnhelm“ zitierten Hinweis nicht wiederholen, wonach Lautstärke etwas mit in diesem Moment fehlender spielerische Lösung zu tun hat. Nora Hickler war übrigens auch noch die „Dame in Trauer“, die gern gestrichen wird. Da deutete sie einen Kuss-Versuch an, den ich auch unter die starken Ideen des Abends rechne. Es ging um Dankbarkeit, um mangelnde Übung darin.

Das Programmheft (Redaktion Gerda Binder) erläutert auf den Seiten 58 bis 61, ein Bild dazwischen, die verwirrenden Namen der Geldsorten: Pistole, Dukaten, Taler, Louisdor. Das verdient Sonderlob: sachliche Information statt der oft üblichen Mode-Philosophie-Präsentation, die nur die Oberseminar-Kenntnisse der Verantwortlichen vorführen soll. Es lebe das Programmheft, für dessen Lektüre man kein Historisch-philosophisches Wörterbuch in vierzehn Bänden braucht und am Ende trotzdem nicht weiß, warum genau das und nicht irgend etwas ganz Anderes den Zuschlag bekam: zweimal Schopenhauer und einmal Thomas Hobbes passen bestens. Ansgar Haag hat die zeitkritischen Sätze Lessings nicht getilgt, er hat aber auch aus der besten deutschen Komödie (oder der zweitbesten) kein Antikriegs- und/oder Antifeudaldrama gemacht. Liest man heute dagegen etwa die Kritik des unweit der Weimarer Fürstengruft bestatteten Walther Victor zu einer Zwickauer „Minna von Barnhelm“ im Jahr 1931, dann sieht man, wie weit die Klassenkampf-Brille einen Kritiker blind machen kann. Ich kenne niemanden, der diesen Lessing so radikal missverstanden hat wie dieser doch sonst durchaus ehrenwerte Victor, der das Lustspiel in Bausch und Bogen verwarf und nicht einmal bemerkt hatte, dass es ein Lustspiel war. In Meiningen nimmt das Lustspiel zur Premiere sogar zehn Minuten länger in Anspruch als angekündigt: kein Problem nach der Pause.

„Minna von Barnhelm“ in Meiningen bewältigt auch jene bekannten Längen der Vorlage mit ziemlicher Bravour, die im Lauf der Jahre immer wieder einmal bemängelt wurden. Man schrieb sie Lessing zu, weil der kein Dichter gewesen sei, man schrieb sie der bisweilen trockenen Sprache des Aufklärers zu. Die Geschichte mit den Ringen stand besonders oft in der Kreide und sie zieht sich auch an der Werra arg hin. Dort aber hatte man, siehe oben, sobald man den Blick auf sie frei hatte, eine ununterbrochen agile Nora Hickler, die auf dem Sofa den Hintern hochreckte (sah man schon andernorts), die unters Sofa kroch, die über den Sofa-Rand äugte, die an den Fingern knispelte, die Augen verdrehte, die Skepsis und Zustimmung, Freude und Mitleiden zeigte, dass der Rest auf der Bühne an Auffälligkeit einbüßte. Natürlich gibt es auch unter Ansgar Haag die Pointe mit der Wachtmeisterin, wie Witwe wird oder Generalin. Sie hält die Höhe alles vorigen. In das sich auch Peter Bernhardt mit seiner durchdringend markanten Stimme fügte als Wirt. Die Stimme allein bewirkte, das man diesem Wirt anmerkte, dass die Gefährlichkeit, die er früher hatte, wie er von sich selbst behauptet, keineswegs nur oder vorrangig die Gefährlichkeit für Frauen um ihn war. Nach solcher Saisonabschluss-Premiere darf man sich reinen Herzens auf die neue Spielzeit freuen.
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