Ernst Toller: Hinkemann; Meininger Staatstheater
Man will, war zu lesen, in Meiningen in dieser Spielzeit einen Expressionismus-Schwerpunkt setzen. Das ist eine Idee, die mich, noch ehe ich Näheres weiß, für sich gefangen nimmt. Las ich doch als Student, statt zu studieren, mit größtem Eifer Expressionismus: Prosa, Dramen, Lyrik. Die seltenen und für Sammler teuren Erstausgaben der Universitätsbibliothek Berlin, die ich nutzte, waren zum Teil fünfzig und mehr Jahre nicht mehr gelesen worden. Expressionismus zu lieben, hatte noch in den Siebzigern etwas leise Subversives, denn lange war er verpönt im Reich des real existierenden Sozialismus, es sei an die schon in der Dreißigern von Moskau ausgehende so genannte Expressionismus-Debatte erinnert. Und auch Ernst Toller zählte, obwohl er zur Spitze der kurzlebigen Münchener Räterepublik gehört hatte (oder: gerade weil) nicht zu den ersten Adressen der DDR-Erbepflege. Groß deshalb meine Freude, als ich den Jahresspielplan aus Meiningen sah: „Hinkemann“, dazu in der Regie von Tobias Rott. Ein doppeltes Versprechen, eine hohe Erwartung. Die Premiere aber, Resümee vorweggenommen, eine einzige vollständige, totale, für mich nur schwer überbietbare Enttäuschung. Fünf solche Inszenierungen in Folge und ich stehe am Ende meiner Liebe zum Theater. Ich gehe nicht mehr hin. Das muss ich mir nicht antun. Das nicht.
Wenn eine Regie sich entschließt, fünf von sechs Darstellern vier bis acht Rollen spielen zu lassen, hat das, wir wissen es seit Jahren, kaum mit künstlerischen Ambitionen zu tun, es ist eine Frage der Personalkosten wie in jedem beliebigen Pflegeheim. Wenn aber fünf Darsteller vier bis acht Rollen zu spielen haben, dann ist das, normalerweise, oder, um den gern umstrittenen Begriff der Normalität zu vermeiden, in einer signifikanten Mehrzahl aller Fälle, eine Gelegenheit für diese Darsteller, sich zu produzieren, Nuancen zu zeigen, ihr eigenes Spektrum auszuschreiten oder gar zu weiten. In Meiningen ist jedoch schon mit Kostüm und Perücke (Kerstin Jacobssen) eine Vorentscheidung getroffen: alle tragen ein verwaschenes helles Blau, alle tragen Perücken in einer Farbe und einem Zuschnitt, die man keinem Blinden nach einer Chemotherapie aufsetzen würde, um ihm einen zusätzlichen Schock über sich selbst zu ersparen. Kurz: Kostüm und Perücke sind anti-individuell. Sie charakterisieren die Personen nicht, sondern verhindern genau das. Die direkte Folge: man muss aufpassen wie ein Höllenhund, um keinen Rollenwechsel zu verpassen. Was freilich nur gilt, wenn man den Text kennt. Dann ahnt man, wer da wer sein könnte oder sollte. Wobei es eine ausgemacht nervige Idee ist, wieder einmal Männer- und Frauenrollen zu tauschen.
Ernst Tollers „Hinkemann“, ich habe den Selbstversuch am Premierentag unternommen, ist ein Text, der knapp hundert Jahre nach der Entstehung (1921/1922 in Haft in Niederschönenfeld) noch unter die Haut geht. Sein Untertitel „Eine Tragödie in drei Aufzügen“ bezeichnet ziemlich genau, was da geschrieben werden sollte. Der Titel „Hinkemann“ ist schon eine Reaktion Tollers auf wütende Proteste von rechts außen gewesen, als die Tragödie noch „Der deutsche Hinkemann“ hieß. „Die Hinkemanns“, wie das Programmheft behauptet, hieß das Stück nie und in keiner Fassung, das war die Überschrift für einen knappen Teil-Vorabdruck in einer Zeitschrift. Der Expressionismus ist in „Hinkemann“ nur noch ein Spurenelement, vor allem gegen Ende und in manchen Sätzen von Grete und Eugen Hinkemann. Überwiegend ist „Hinkemann“ ein durchaus realistisches Stück mit einer präzise akzentuierten Analyse einer für Ernst Toller auch ganz persönlich große Bedeutung besitzenden Problemlage: Warum ist die deutsche Revolution 1918/19 gescheitert, welche Umstände äußerlicher Art, aber auch welche Umstände in den Akteuren spielten eine Rolle? Wie Toller in seinem im proletarischen Milieu spielenden Drama die Arbeiter zeigt, um nicht gleich mit der DDR-Begriffskeule zu operieren: die Arbeiterklasse, ist höchst bezeichnend.
Seine Erkenntnis: mit solchen Menschen kann man keine Revolution machen. Da er auch Partei-Menschen zeigt, wird uns Älteren doppelt verständlich, warum „Hinkemann“ nebst Toller nicht sonderlich geliebt wurden im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Liest man heute das exemplarisch gute Nachwort von Roland Links in seiner Kiepenheuer-Ausgabe der Tragödie mit geübten DDR-Augen, dann sieht man: der bedeutende Verleger, der unter anderem auch ein Döblin-Experte ersten Ranges war, wies unübersehbar auf das subversive Potential des Textes hin. Und er lieferte, vierzig Jahre nach meiner ersten Lektüre überrascht mich das von unerwarteter Seite, auch noch wie ein Prophet eine Erklärung für das Scheitern Tobias Rotts an der Vorlage. Ernst Toller selbst hat einst geäußert, „Hinkemann“ werde wohl erst im Sozialismus richtig verstanden werden können. Nun ist es zwar im real existierenden Sozialismus zu solchem Verständnis nie gekommen, was aber nicht heißt, dass umgekehrt der real existierende Kapitalismus in den Farben der Bundesrepublik Deutschland nun plötzlich etwas können muss, was seine ähnlich farbigen Vorgänger auf deutschem Boden eben substantiell nicht können konnten, laut Toller. Die Analyse Tollers zu seinen Kampfgenossen fällt in „Hinkemann“ vernichtend aus: Phraseure aller Schattierungen, dazu fragwürdigste niedere Moral.
Wenn die zeitgenössische Kritik Toller gegen Brecht abwog, dann war das keine Frage des persönlichen Geschmacks. Beide Dramatiker gingen in ihren Stücken bisweilen sehr ähnlichen Fragen nach. Die Frage nach dem „guten Menschen“ war nur eine. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Masse eine andere, die Frage nach der materialistischen Moral eine weitere. Auch Ernst Toller kam und zwar vor Brechts final klassischer Formulierung zu der Einsicht: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Nur: Toller deprimierte das eher, während Brecht es fast belustigt konstatierte, zynisch für manche, die bis heute die Welt ausschließlich moralisch betrachten und also falsch. Was aber wird in Meiningen aus allem? Realismus habe ich keinen gesehen, Expressionismus auch keinen, Naturalismus noch weniger natürlich. Ein Bühnenbild (Christian Rinke), kammerspielsparsam bestehend aus einem Haufen Stühle, einer Spüle mit echtem Wasseranschluss, einem Rohr von oben, aus dem viermal im Verlaufe des Theaterabends Undefinierbares flatschte und platschte, ein weißes Wandteil mit vier drehbaren Türen. Dazu zwei Reihen Schießbuden-Blumen in Form von Tulpen, ein Skelett, leicht überdimensioniert, vorn ein Mikrofon auf Ständer. Die Tulpen wurden später, Toller folgend, Astern genannt, blöder Gag.
Musik gab es auch. Und zur Musik wild-hektisches Gezappel. Schon das kunstvoll-künstliche Gruppengelächter zu Beginn, es sollte vermutlich auf die zentrale Rolle des Lachens, genauer: des Auslachens, vorausdeuten, erklärt sich keinem, der das Stück nicht kennt. Warum Textteile am Mikrofon ins Publikum gesprochen werden? Keine Ahnung, warum, erkennbar jedenfalls wird es nicht. Also dieser Eugen Hinkemann, dem sein Geschlechtsteil weggeschossen wurde im Krieg, ist mit Grete verheiratet, offenbar irgendwie auch mit der Arbeiterbewegung verbunden. Was bei Toller erst sehr dezent, dann in hinreichender Deutlichkeit zur Sprache gebracht wird, braucht in Meiningen die heruntergelassene Unterhose. Das kann man machen, in die Schublade mit den guten Ideen gehört es nicht. Sprechend sind bestimmte kleine Streichungen: etwa der Hinweis auf die Nationalität des Schützen: bei Toller gab es noch keine sprachliche Correctness-Panik, da hieß der Franzose Franzose und der schwarze Mann, der im Dienste der Kolonialmächte im Weltkrieg wie seine weißen Kameraden geopfert wurde, nur noch ahnungsloser, war ein Neger. Toller war, als er „Hinkemann“ schrieb, längst bekennender Pazifist, er wurde von vielen Seiten alles Möglichen verdächtigt: unerlaubter Sprache nicht. Noch nie in der Geschichte ist ein Problem seiner Lösung näher gekommen, in dem es in eine andere lexische Hülle gekleidet wurde zur Selbsttäuschung.
Lichtblick des trüben Abends ist Vivian Frey. Er ist der einzige Akteur des Abends, der tut, was des Schauspielers ist: er benutzt seine Stimme, um mit ihr seinen Text plastisch zu machen. Er benutzt uralte, bewährte Mittel dabei: er setzt Pausen zwischen den Worten, er verlangsamt oder beschleunigt sein Sprechtempo, er hebt und senkt die Stimme, er variiert die Lautstärke. Ich finde es kaum übertreffbar schlimm, das hier hinschreiben zu müssen: das ist, eigentlich, nur Handwerk. Leider aber und das fällt am krassesten bei Peter Bernhardt auf, der, laut Programmheft, acht Rollen spielen muss, von denen er in kaum mehr als zweien auch nur ansatzweise identifizierbar ist: die bekannte und bewährte, durchdringend markante Stimme spricht ohne die allergeringste Nuance alles, was sie zu sprechen hat. Björn Boresch, vor allem als Paul Großhahn, spricht viel zu schnell, viel zu monoton hochtönig. Den Phrasen dreschenden Arbeiter, der übergangslos zum Strizzi wird, der die Frau seinen Freundes und Genossen nicht nur verführt, sondern sie auch, wie man heute sagen würde, psychischer Gewalt aussetzt, den nimmt man ihm nicht ab. Ernst Toller hatte die in der gesamten Literaturgeschichte höchst regelmäßig eher unglückliche Idee, „sprechende Namen“ für seine Figuren zu wählen, das bringt unfreiwillige Komik, zum Glück nur für den Lesenden.
Der Budenbesitzer (Yannick Fischer), eine gefährliche Figur bei Toller, ist in Meiningen eine seltsame Witzgestalt mit Gold-Leggings, seine wie die meisten Sinn und Bedeutung tragenden Sätze gehen in der akustischen Monotonie des Abends unter. Ich gehe so weit zu sagen, dass Tobias Rott ein seltenes Kunststück gelungen ist: er hat, bei weitgehender Beibehaltung der Toller-Dialoge und -Monologe, diesen Substanz, Tiefe, eigentlich alles, was sie heute noch aktuell hält, entzogen. Das Stück spricht, wenn man es liest, durchaus auf vielen Ebenen noch an: es ist analytisch, es setzt markante Gedanken und es hat, alles in allem, eine ergreifende, also den alten Sinn einer Tragödie erfüllende, starke Geschichte, die mit Plot, siehe oben, nicht besser benannt wäre. Ist diese Grete Hinkemann, die so schnell und dann so schnell sehr schlechten Gewissens, sich verführen lässt, auch nur ansatzweise als Arbeiterfrau, mit all ihrer Not, mit all ihrer Gedrücktheit durch Zeit und Geschlechterrolle, erkennbar? Nora Hickler spielt ein leicht weinerliches Mädchen, auch sie bis fast zum Ende ohne Nuancen. Ihre Tragödie, die in ihren Selbstmord mündet, ist, aus der Distanz gesehen, schon bei Toller fast die größere. Was soll aber zum Schluss, wo bei Toller ihre entstellte Leiche gebracht wird, das sie ersetzende Skelett auf den Armen der Männer, während Hickler im Hintergrund Armbewegungen fernöstlicher Tempeltänze macht? Symbolik für Fortgeschrittene?
Ernst Toller hat, vermutlich sogar ohne Absicht, in „Hinkemann“ etwas demonstriert, was der Tragödie in heutigen Inszenierungen zusätzliche Tiefe, auch Aktualität geben könnte: er zeigt, wie eine bestimmte Antwort auf die Frage: Wann ist ein Mann ein Mann? verheerende Wirkungen haben kann, weil sie falsche Werte installiert. Diesem Männer-Bild folgen alle im Stück vollkommen unreflektiert, sie nehmen es als gegeben, als quasi natürlich an. Das wissend, war mir, noch ehe ich in letzter Sekunde das Theater erreicht hatte, man schildert in Meiningen wichtige Umleitungen bei Straßensperrungen nicht aus, die Besetzung zumindest erklärlich. Wobei sie, selbst bei unterstellter Absicht in dieser Richtung, nicht funktionierte. Peter Bernhardt, halten zu Gnaden, Jahrgang 1945, einen sieben Jahre alten Jungen spielen zu lassen, der seine 13-jährige Schwester anbietet für Sexualdienstleistungen, die stickende Mutter der Titelfigur, eine Dirne, einen weiteren Jungen, das erschließt sich nicht. Nora Hickler muss als Peter Immergleich breitbeinig fläzen mit angeklebtem Schnurrbart, weil das eben Männerbild ist. Hatten wir das mit seinen Nebenwirkungen nicht eben? War Georg Grohmann als Michel Unbeschwert Parteimann, Funktionär? Eher ein Atze-Schröder-Imitat. Allenfalls Yannick Fischer gab Sebaldus Singegott Prägnanz, auch sprachlich. Wie schon im „Urfaust“ ist Vivian Frey monologisch deutlich stärker als dialogisch, dennoch ein Glanz.
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