Ibsen: John Gabriel Borkman; Meininger Staatstheater
Erst wenige Jahre ist es her, da schien Ibsens Drama „John Gabriel Borkman“ das ideale Stück zur Finanzkrise. Landauf, landab hoben es Intendanten in ihre Spielpläne, landauf, landab inszenierten es Regisseure, die am Puls der Zeit sein wollten. Heute ist die Finanzkrise ein Phänomen, in dem das Wort Klima nicht vorkommt, folglich aus dem Sinn wie aus den Augen. Wenn es jetzt in Meiningen gespielt wird, hat es beste Chancen zu zeigen, dass es keines Aktualitätszertifikats vom Zeitgeist-TÜV braucht. Es ist einfach ein spielbares, es ist ein gutes Stück, das weder vom Sockel gehoben, noch vom Staube befreit werden muss, ganz nebenbei bewährt es sich auch innerhalb des Ibsen-Werkes. In Meiningen hat die Inszenierung von André Bücker (Jahrgang 1969) eine lokale Zusatzfunktion: sie bietet Hans-Joachim Rodewald (Jahrgang 1954), seit 1980 am Haus und somit fast 40 Jahre, eine letzte große Rolle als festes Ensemble-Mitglied, als Gast wird man ihn wohl auch künftig erleben dürfen. Und das gleich vorweg: Rodewald glänzt wie fast immer, er gibt der Rolle des John Gabriel Borkman sein spezielles, sein unverwechselbares Profil. Und seinen sechs Mitspieler/innen genügend Raum und Gelegenheit, nicht nur um ihn zu sein, sondern mit ihm.
Regisseur Bücker ist kein Ibsen-Neuling, als Augsburger Intendant hat er zuletzt „Peer Gynt“ auf die Bühne gebracht und die FAZ befand, er habe „im Kulturmüll zurück zur Natur des Erzählens“ gefunden. Das ist ein Vorschusslorbeer für Meiningen, der meinem Theatersinn wohltut. Also auch das noch vorweg: Dieser „John Gabriel Borkman“ ist vor allem für das Publikum, das nach den Premieren kommt, von denen es an der Werra immer zwei gibt, also für Menschen mit einem Abo, die im Bus anreisen aus Bad Kissingen oder woher auch sonst und keine Abende voller Wirrnis, akustischer und optischer Experimente, Genderspielchen erwarten, sondern ein Theatererlebnis, das zum Wiederkommen animiert. Wer hier das Rüsselchen rümpft, sei sicher, dass er für das Ende des Theaters denkt und fühlt, denn Theater stirbt, wenn kein Publikum mehr kommt, weil es sich auf den Arm genommen, für dumm verkauft oder höhnisch von oben herab betrachtet fühlt. Kunst ist auch, wenn man das Stück erkennt, das gespielt wird, Kunst ist auch, wenn die Akteure so sprechen, dass die meist älteren Damen und Herren im zweiten Parkett oder auf den Rängen verstehen, was gesprochen wird. Bad Kissingen hinter mir war allein deshalb von diesem Ibsen sehr, sehr angetan.
„John Gabriel Borkman“ ist kein Stück, wo jeder Ü-60-Besucher schon jeden Kernsatz mitsprechen kann und bei jeder dieser Gelegenheiten sich über sich selbst freuen wie unlängst beim „Urfaust“ in Weimar. Hier kann so ziemlich jeder dem Geschehen folgen wie im Kino und das auf überklare Symbolwirkung setzende Bühnenbild von Jan Steigert hat ebenso wie die Kostüme von Suse Tobisch nicht die Funktion, ablenkende Grübeleien im Parkett zu erzeugen. Der nach allen Seiten offene Kubus auf der Drehbühne, dessen blaue Treppe in der Mitte auf eine obere Spielebene führt, sieht von fast allen Perspektiven aus wie das Logo der Deutschen Bank. Weniger Deutlichkeit hätte mir auch genügt, aber ich bin halt ich, in diesem Punkte wie die Titelfigur des Abends. Fast vierzig Minuten sehen wir sie oben, vermummt in mehrere Schichten Oberbekleidung, denn es ist kalt und diese Kälte sieht man in Meiningen tatsächlich, ehe sie zum ersten Mal auch zu hören ist. Rodewald oben ist angekettet, theaterpraktisch wohl zu seiner eigenen Sicherheit, von der Wirkung her aber auch symbolisch. Später nutzt Anja Lenßen die Kette oben für Körperpositionen, die ohne diese feste Verankerung gar nicht möglich gewesen wären. Es macht Effekt. Theater braucht Effekte.
Also dieser John Gabriel Borkman hat ein lebendes norwegisches Vorbild gehabt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, doch das muss uns jetzt nicht interessieren. Die Bühnengestalt hat, als das Stück anhebt, nicht nur fünf Jahre Gefängnis hinter sich, sondern weitere acht Jahre in gefängnisähnlicher Isolation im eigenen Haus: er oben, die Gattin Gunhild (Ulrike Walther) unten. Man redet nicht miteinander, beide sind verbittert. Er sinnt auf Neubeginn, er sinnt nach über seine Schuld, sie ist, weil er den Ruf der Familie zugrunde richtete, voller Bitterkeit, ja Hass. Sie richtet all ihre Hoffnungen auf den gemeinsamen Sohn Erhard (Christopher Heisler), der sich aber dem als vergewaltigend empfundenen Zugriff seiner Mutter zu entziehen trachtet. Als das Stück anhebt, ist hierzu eigentlich alles entschieden und geregelt, es muss nur noch sichtbar werden für die Beteiligten wie das Publikum im Theater. Erhard ist über Jahre bei seiner leiblichen Tante Ella (Anja Lenßen) aufgewachsen, die ihn wie einen eigenen Sohn liebte. Sie ist die unverheiratete Zwillingsschwester Gunhilds und erscheint im ersten Bild des Abends erstmals wieder im Borkman-Haus, das ihr gehört und so nicht als Eigentum des Schwagers John Gabriel zu pfänden.
Alles Bühnengeschehen in zweieinhalb Stunden Spielzeit mit Pause ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Vergangenheit, die in den Dialogen sichtbar werden muss, denn Ibsen hat weder Rückblenden noch Zeitsprünge vorgesehen für seinen Vierakter. Handlungszeit und Spielzeit sind, so steht es in jedem Theaterführer, nahezu identisch. John Gabriel Borkman hat einst, es auf den juristischen Begriff zu bringen, Gelder seiner Bankkunden in Größenordnungen veruntreut, er hat unterschlagen, in den Sand gesetzt, ruiniert. Sich selbst und seine Familie mit Ausnahme von Ella auch. Das hat ihm eine lange Haftstrafe eingebracht, ihn arm gemacht, seinen Namen irreversibel beschädigt. Sein Startkapital einst war das Geld seiner Gattin Gunhild, das ihn seine eigentliche Liebe zu deren Schwester Ella verraten ließ. Ohne dieses Geld hätte er seine, wie er es nennt, Mission nicht erfüllen können, an der er später, wie er es nennt, nur haarscharf knapp gescheitert ist. Die hintersinnige List des Autors Henrik Ibsen bei der Zeichnung seiner Personen steckt unter anderem darin, dass er nun auch Gunhild von Mission reden lässt: sie spricht also die Sprache ihres gehassten und verachteten Gatten, den sie am liebsten, wie sie mehrfach laut sagt, tot sehen möchte.
Ella Rentheim ist, als sie in seltsam tänzerischen, wie in Zeitlupe choreographierten Schritten die Bühne betritt, unheilbar krank, es bleiben ihr nur wenige Wochen oder Monate. Welche Krankheit es ist, sagt Anja Lenßen als Ella zwar auch, am deutlichsten aber wird es, als sie ihre Kapuze vom Kopf zieht: er ist kahl, wie man es von Chemotherapien her kennt: Mutprobe für eine Darstellerin mit den langen dunklen Prachthaaren, mit denen man sie kennt. Lange sind nur beide Schwestern Gunhild und Ella im Dialog: Gunhild auch hier aggressiv, verbittert, böse: sie fühlt sich abhängig von ihrer Schwester, die als einzige Kundin der Bank John Gabriel Borkmans ihr Vermögen nicht verlor und nun eine reiche Frau ist. Ella will den Sohn Erhard für sich, Gunhild ihn auf keinen Fall hergeben, denn er soll die Mission erfüllen, den Namen Borkman mit neuem und möglichst sogar größerem Glanz zu erfüllen als er je hatte. Beide Schwestern ignorieren blind, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, was Erhard selbst will. Und der will mit Frau Fanny Wilton (Evelyn Fuchs) weggehen von zu Hause, sein eigenes Leben leben, selbstbestimmt, wie er meint und sagt, aber eben auch beinahe hörig der Geliebten, die deutlich älter als er ist, eine femme fatale.
Evelyn Fuchs legt ihre Figur mit einem kräftigen Schuss Karikatur und Selbstironie an, Christopher Heisler ist der Mann des Abends, der die meisten Lacher provoziert. Sein Erhard ist freiwillig-unfreiwillig komisch, schon allein wegen der Tonlage, in der er spricht. Komisch wirkt auch Peter Liebaug überwiegend, der den Wilhelm Foldal gibt, einen Hilfsschreiber einer Behörde, wie das Personenverzeichnis von Stück und Programmheft identisch ausweist. Er versorgt den Dach-Bewohner John Gabriel Borkman mit Essen, das dieser fast gierig löffelt. Er gehört zu den Opfern des Finanzgebarens von Borkman, hilft ihm aber dennoch. Und das nicht zuletzt, weil er eine Tochter hat, Frida Foldal, die Borkman gelegentlich oben besucht, ihm vorspielt. Borkman behandelt Foldal verletzend, großspurig, ohne jeden Reue von oben herab. In diesen Dialogen, die ein Herr-Knecht-Motiv einbringen, kommt am ehesten zum Vorschein, was frühzeitig an Ibsens Drama als Nietzsche-Einfluss gesehen wurde. Das Meininger Programmheft wartet mit fünf Seiten Nietzsche-Zitaten auf und gibt so dem Publikum die Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Falls John Gabriel Borkman ein „Übermensch“ sein soll, denn ist er auf jeden Fall kritisch gesehen.
Es ist wichtig für diese Figur, eben nicht eindeutig und klar verurteilbar zu sein. Das wäre allzu leicht, wäre er nur als skrupelloser, sich selbst verkennender, selbstherrlicher Mann gezeichnet, der buchstäblich oder wenigstens im übertragenen Sinne über Leichen geht. Nein, dieser Mann ist auch einer, der Visionen hat, der nicht nur für sich selbst, nicht in erster Linie der persönlichen Bereicherung verpflichtet agiert. Dieser Mann ist einer, der Liebe wecken kann, eine so starke Liebe sogar, das man sie noch sieht in der Bühnenhandlung, wenn etwa Anja Lenßen Hans-Joachim Rodewald vorsichtig, fast scheu, berührt. Sie hat nichts vergessen, sie ist nicht blind gegenüber der Vergangenheit und allem, was Borkman ihr antat. Aber sie versteht ihn auch und Anja Lenßen versteht es, das sichtbar zu machen. Im Dialog mit Ulrike Walther dominieren ausweichende Blicke, wechselnd dann aber auch mit Aggression und Lautstärke. Die Zwillingsschwestern sind sich äußerlich nicht ähnlich, dann aber gibt es Gesten (beide auf Knien nebeneinander), ist denen die nahe Verwandtschaft sehr deutlich sichtbar wird. Ihren Kampf um den Sohn Erhard verlieren beide, nur Ella aber kann sich, wenn auch voll Schmerz, in seine Lage versetzen, ihm zustimmen.
Erhard Borkman und Fanny Wilton verlassen die Schwestern, den Vater und sie nehmen auch Frida (Katharina Walther) mit. Bei der hastigen Abreise überfahren sie beinahe Wilhelm Foldal, der dann hinkend und verbunden am Bein bei Borkman erscheint. Diese Wendung erfüllt, was vor Jahren Georg Hensel zu „John Gabriel Borkman“ schrieb, bezogen auf Titelrolle und Stück gleichermaßen: „Das Komödiantische in der Rolle des verbitterten alten Mannes ist so stark, dass es mit dem Altern des Stückes die geheime Komödie, die in ihm verborgen ist, zum Vorschein gebracht hat.“ „Ist es nicht Betrug auf Gegenseitigkeit, was man Freundschaft nennt?“ heißt es einmal und ich glaube, dass es genau solche Fragen und Sätze sind, die einem Stück Überlebenskraft verleihen. Ich sah einen Hans-Joachim Rodewald, den ich noch oft und in vergleichbar großen Rollen sehen möchte. Alles, was er und alle sieben Darsteller des Abends zeigten und hörbar machten, war so wohltuend anders als der verpatzte „Hinkemann“, den ich zuvor in Meiningen sah. Labsal für mich schon der „Urfaust“ in Weimar, nun aber Meininger Spezial-Labsal: dieser Ibsen. Denn eigentlich komme ich gern nach Meiningen, auch wenn mein Buch mit Rodewald vorndrauf dort konstant übersehen wird.
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