Tschechow: Der Kirschgarten; Staatsschauspiel Dresden

Ideen haben die nicht prinzipiell löbliche Eigenschaft, sich selbst dann fortzupflanzen und zu verbreiten, wenn sie keine guten sind. Sprich: fade Ideen folgen ebenso der Devise: seid fruchtbar und mehret euch. So etwa die, Tschechows „Der Kirschgarten“ nicht als Experimentierfeld zu betrachten, was schlimm genug bliebe, sondern als Implantierfeld für Fremdtexte beliebiger Art. Man erschrickt schon vor Ankündigungen, der Abend dauere mit einer Pause knapp drei Stunden, wobei dies zu akzeptieren wäre angesichts eines jeden verzweifelten Versuchs, Textmassen zu bewältigen, die zu außerparlamentarischen Nachtsitzungen führen würden. Was aber, wenn aus der gar nicht so unmäßigen Vorlage Rollen und Text gestrichen sind, ohne zu weniger Abendspielzeit zu führen? Nicht weniger als drei Fremdbrocken hat Andreas Kriegenburg seinem „Kirschgarten“ ein- respektive aufgepfropft, zwei davon bestens geeignet, im Publikum Fluchtreflexe auszulösen wegen schierer Länge plus schierer Nervigkeit. Das Nervige zuerst: Tochter Anja (Eva Hüster) hat das Wutkind zu spielen, Neuauflage des Wutbürgers in Zeiten steigender Meeresspiegel und schmelzender Gletscher. Einmal sagt sie gar den Namen Greta und nur ein zu vermutender Stoß in die Rippen aus unmittelbarer Nachbarschaft im Parkett verhindert symptomatischen Szenenapplaus.
 
Gott, wohin sind wir gekommen? Die schiere Länge gleich auch noch benannt: der Kontorist Semjon Pantelejewitsch Jepichodow (Viktor Tremmel) trägt am Boden sitzend vor der eigentlichen Spielfläche eine Endlos-Fabel von der Traurigkeit vor, um schließlich auf die Billig-Pointe vom „Kind der Traurigkeit“ hinzureden. Tremmel macht das gut, keine Frage, der Text ist gut, keine Frage, doch hätte es dem Programmheft gut gestanden, die Quelle zu nennen, dafür hätte man den Genderhinweis Seite 30 gern ungedruckt lassen können. Dass Begriffe für alle Menschen gelten, war so lange selbstverständlich, bis Menschen auf die marktfähige Idee verfielen, das sei eigentlich nicht so. Und sonst so trotzige Berufsgruppen wie Künstler und andere Intellektuelle beugen sich dergleichen Diktaten mit einem kuriosen Masochismus. Am ehesten zu tolerieren ist noch der Stopftext für den ewigen Studenten Pjotr Sergejewitsch Trofimow (Simon Werdelis), der schon im Tschechow-Original salonrevolutionären Phrasenmix artikulieren muss, nur war er eben einst eine zeitgenössische Figur, mit der Besucher des Moskauer Künstlertheaters etwas anzufangen wussten: heute sind solche Schwätzer im 18. Semester eher nur ein Gegenstand universitärer Strafgebühren.
 
Sonst ist durchaus Tschechow übrig geblieben in Dresden, man sieht sogar ein wenig Kirschgarten, versetzt aus dem Hintergrund, der sonst meistens gestrichen wird, an die Decke des Bühnengebildes als Projektion. Das ist dann schon fast wie echtes Blätterrauschen und Blütenrieseln. Auch in Dresden kommt die Gesellschaft von Ljubow Andrejewna Ranewskaja (Anja Laïs)  aus Paris. Auf dem Grund und Boden der Dame ohne Realitätswahrnehmung liegen Schulden in solcher Höhe, dass nicht einmal die Zinsen bezahlt werden können: Ausweg wäre allein eine Verwertung mit klarer Gewinnaussicht. Einen entsprechenden Vorschlag hat Jermolaj Alexejewitsch Lopachin (Oliver Simon) parat, man könnte das Grundstück parzellieren, für Sommerfrischler bebauen, die dann vielleicht sogar Landwirtschaft betreiben würden. Niemand hört ihm zu, er kommt nicht einmal wirklich zu Wort, man dreht sich weg von ihm, er bekommt auf einfachste Fragen keine Antwort, obwohl seine Warnungen eigentlich weder zu überhören noch nicht zu verstehen sind: ohne seinen Vorschlag kommt alles unter den Hammer, es wird verkauft, der Kirschgarten wäre verloren. Stattdessen klammert man sich an allerlei aussichtslose Ersatzideen: Tanten, Wunder.
 
Karin Breschke beginnt ihren Originaltext für das Programmheft nicht zufällig mit einem Zitat von Tschechow selbst: „Das nächste Stück, das ich schreiben werde, wird unbedingt komisch. Sehr komisch, zumindest im Plan.“ Es scheint, als hätte Andreas Kriegenburg haargenau das auf die Bühnen bringen wollen. Er lässt so sehr komisch beginnen, dass man meint, in einem Commedia del’Arte-Revival zu sitzen. Lopachin und das Dienstmädchen Dunjascha (Karina Plachetka) toben sich auf der Spielfläche aus wie von Furien gejagt. Ein Charakteristikum des Abends kommt hier bereits bis an die Grenzen des Erträglichen zum Tragen: die Wiederholung, hier freilich nicht als Mutter der Porzellankiste, sondern als Feldversuch mit Publikum. Worte, Satzteile, ganze Sätze werden wiederholt und wiederholt und wiederholt. Im Krimi würde das Zeit bringen für eine Fangschaltung, auf der Bühne funktioniert es, es funktioniert auch zweimal, dreimal, dann aber ist es Manier, Marotte, Leerlauf. „Sehr komisch, zumindest im Plan“ tritt in seine Rechte. Denn schon bei Tschechow selbst ist es ja so sehr komisch nicht, was er sehr komisch gespielt sehen wollte. Wobei Kriegenburg auf einige der Chancen, die der Text ja böte, sicher absichtsvoll verzichtet.
 
Die Ansprache an den Schrank, der im Staatsschauspiel ein bemaltes weißes Tuch ist: verschenkt. Die Leidenschaft von Leonid Andrejewitsch Gajew (Raiko Küster) für Bonbons und Billard, seine weithin einzige Leidenschaft: verschenkt. Das Billardspiel ist so sehr aus dem Text gestrichen, dass der seltsame Rest im Finale, als Gajew vom Weiß und vom Gelb salbadert, komplett unverständlich bleibt für jeden im Parkett, der nicht den Text selbst oder andere Inszenierungen ohne genau diese Streichungen kennt. Das nähert diesen Gajew einer Figur mit einem schweren Riss in der Schüssel über das in ihr natürlich vorhandene Maß hinaus an. Einige komische Einfälle haben zweifelsfrei Charme: wenn die abreisefertige Gesellschaft sich erhebt und dann gleich wieder setzt. Hier passt die Wiederholung sehr genau. Bezweifelbar ist dagegen die Idee, aus dem uralten Diener Firs eine Frau Firs zu machen (Hannelore Koch), die sich um Gajew sorgt wie eine Mutter, die mit Tablett die Spielfläche umkreist, dabei den schlurfenden Gang des Alters eben auch sehr komisch statt sehr charakteristisch zelebriert. Ewig grüßt Freddy Frinton. Einen starken Höhepunkt hat das Spiel nach der Pause: alles ist voller leerer Flaschen, das kurzfristig anberaumte Fest (unsichtbar) vorbei und es gibt den dreistimmigen Gesang eines russischen Volksliedes, drei Darstellerinnen, eine Brillanz.

Manchmal geistern Zitate aus anderen Stücken durch den Text (Mephisto zu Frau Marthe), manchmal wird das Publikum einbezogen, sogar zu einer Tanzeinlage: wohl jedem, der nicht in der ersten Reihe sitzen muss oder am Rande der vorderen Reihen, Mitmachtheater versetzt mich mit gleichbleibender Intensität in feindselige Grundstimmungen. Ein Satz wie „Das Schlimmste an Paris sind die Russen“ hat in Dresden noch immer besondere Wirkmacht, denn hier ist der Handel nicht nur zu hohen Feiertagen auf das einfliegende Publikum aus dem Reiche Putins mit der gut gefüllten Kreditkartenmappe eingestellt wie einst Hans Moser als Kellner auf seine Stammgäste. Einmal redet Lopachin von Ophelia: immerhin besser, als spräche er vom sozialdemokratischen Wanderzirkus der aktuellen Kandidatenkür. Fast ununterbrochen zuppelt Anja Laïs an ihrem Zopf, ihre spielerische Hauptaufgabe scheint zu sein, möglichst wenig Mitgefühl aufkommen zu lassen, dagegen ist nicht zwingend etwas einzuwenden. Am Ende bleibt ein Eindruck: alle Darsteller, jeder für sich und alle zusammen (kein Genderhinweis), auch Henriette Hölzel als Adoptivtochter Warja, auch Holger Hübner als Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik können gegen das Gesamtbild von Unentschiedenheit, Heterogenität, Zerfall der Inszenierung in Unverbundenes nicht ankommen.
            www.staatsschauspiel-dresden.de


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