Shakespeare: Romeo und Julia; DNT Weimar

Verona muss man hinnehmen bei Shakespeare, es ist kaum anders als Böhmen am Meer. Es ist Hintergrund, weil: ohne Hintergrund kein Vordergrund. Aber es hätte auch Mantua sein können oder Padua oder Vicenza. Shakespeares Schauplatzkenntnisse sind quellengebunden, keine des Augenscheins. Im Fall von „Romeo und Julia“ liefert die italienische Renaissance-Novelle, vor allem Matteo Bandello, den Stoff, der zeitgemäße Titel lautet in der Übertragung, die ich besitze: „Der tragische Tod zweier unglücklicher Liebender, von denen er durch Gift, sie vor Kummer starb, nebst verschiedenen Ereignissen“. Dort ist es eben Verona und deshalb ist es bei Shakespeare Verona. Es ist letztlich gleichgültig, wie viel oder wie wenig der Brite übernahm, veränderte, streckte, kürzte, hinzu erfand. Wir haben sein „Romeo und Julia“. Mit unseren Vorurteilen, die bisweilen den Anschein erwecken, als seien sie Vorwissen, gehen wir heran. Und so tun es die Inszenatoren beiderlei Geschlechts. Die einen glauben, Vorkenntnis sei hinderlich, die Kreativität hemmend, die anderen wollen alles ganz anders machen und geraten darüber in Gefahr der krassen Fremdsteuerung. Weder das ganz Andere noch das ganz Neue sind Werte an sich. Sie wissen es.

In Weimar beginnt es damit, dass eine wachsende Zahl kostümierter Gestalten auf der Bühne einander „Arschloch!“ ins Gesicht brüllt. Vorwissensschwanger ahnen wir, dass dies die originale Eröffnung ersetzen soll, der einstmals so genannte Shakespeare-Experten seitenlange Abhandlungen widmeten, ihrer angeblichen Bedeutung für die Tragödie wegen. Uns scheint, dass nie ein harmloserer Bürgerkrieg aus der geschriebenen Geschichte Europas auf eine Bühne gebracht wurde. Wir würden mit Kant den Ewigen Frieden ausrufen, plärrten die alten Erzfeinde allerorten nicht mehr als eben „Arschloch!“ einander ins Gesicht und hielten ansonsten Füße und Hände still, ein wenig Kirmestanz-Gerangel als vitale Ergänzung dabei erlaubt und toleriert. Schon der Einsatz von Gegenständen würde, rein juristisch gesehen, die Tatbestände versuchter Körperverletzung in Tatbestände versuchter schwerer Körperverletzung verwandelt, ein höheres angedrohtes Strafmaß nach sich ziehen. Aber Shakespeare liefert natürlich keine Übungsvorlagen für Amtsgerichts-Verfahren. Er liefert Tragödie. Dass solche bei ihm mit Komödie gespickt daher kommt, fast immer, fast ausnahmslos: wir wissen es. Es ist, das nebenbei, auch immer eine feine Ausrede für Spielleiter, die eigentlich Angst vor Tragödie haben, sich dies aber nie, und dem Publikum noch weniger, eingestehen würden. Man merkt ihnen Eile an, zur nächsten Rüpelszene zu gelangen.

Es gleich vorwegzunehmen: dem Hausregisseur Jan Neumann sind zwei Einfälle gekommen, die reines Theatervergnügen produzieren: er hat den Pater Lorenzo vervielfacht (im Programmheft: Christoph Heckel und Ensemble) und er hat die dicke Amme in die Hände des dünnen Lutz Salzmann gelegt. Ammen, die von ihren Brüsten reden und dabei einen bereits ziemlich grau melierten Vollbart tragen, gehört nicht von vornherein und aus Prinzip meine Sympathie, obwohl ich weiß, dass es Zeiten und Gegenden gab, da alle Rollen von Männern gespielt werden mussten, weil den Damen und so weiter. Dies wäre noch besser hinzunehmen, wenn es auch Zeiten und Gegenden gegeben hätte, da Frauen alle Hosenrollen besetzten, weil Männer und so weiter. Leider aber war das nirgends so. Und so verwandeln sich hinzunehmende Spielverfahren aus fernen Zeiten in Gender-Gags schlicht nicht mehr vorhandener Originalität. Lutz Salzmann aber straft mich Lügen: er ist phasenweise eine so tolle, ein geradezu phantastische Amme, dass Gefahr besteht, Romeo und Julia seien eigentlich nur dazu da, dass er nicht allein auf der Bühne stehen muss. Salzmann braucht keinen Kowski, es geht auch ohne Matratzen, Neumann sei dicker Dank dafür.

Die Pater Lorenzos sind nicht nur viele beiderlei Geschlechts, sie sehen auf der Bühne auch aus (Kostüme Cary Gayler), als kämen sie aus der Nachmittagsvorstellung von „Sister Act“ direkt auf die Hauptbühne des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Natürlich verselbständigt sich, was sie da treiben mit Blumenkästen und verschwundenen Hacken, auch sie dürfen sich später „Arschloch!“ nennen, Running Gag des Abends, jeder nennt jeden mindestens einmal Arschloch, selbst Vater Capulet schreit seine kleine Julia einmal an mit diesen Wort, das im amerikanischer Fernsehen durch Hupton ersetzt wird, falls sich das nicht unter Trump geändert hat, der selbst als Dauer-Hupton auftritt. Dann sind da noch zwei Diener aus dem Hause Capulet, gespielt von Gulab Jan Bamik und Abdul Mahfoz Nejrami mit quietschbunten Perücken, von denen einer nicht lesen kann, aber nach einem Zettel Gäste einladen muss, lustig, lustig. Und Krunoslav Šebrek gibt seinen Mercutio so aufgedreht, als müsse er zeigen, jedem wilden Possenspiel mühelos gewachsen zu sein. Er ist es, er kann es. Mehr muss dazu nicht gesagt werden. Und außerdem hat sich Jan Neumann wohl gedacht: Wozu haben die Kerls an den Schauspielschulen eigentlich Fechtunterricht gehabt, wo nirgends mehr gefochten wird, wo Schwerter nicht zu Pflugscharen, wohl aber zu Pistolen wurden auf deutschen Bühnen. In Weimar wird gefochten, sogar mit zwei Säbeln gleichzeitig.

Und es fließt Blut. Und es gibt einen echten „Romeo und Julia“-Balkon auf der ansonsten leeren Bühne (Oliver Helf), montiert auf einem massiven und daher standfesten Gerät auf Rädern, wie es benutzt wird, um Bäume, die nicht gefällt werden können, von oben her langsam klein zu sägen, eine Art Hebebühne. Da hängt der Balkon, sieht heftig nach dem Fake-Balkon in Verona aus, den wahrscheinlich mehr Leute gesehen haben als seit 1597 das Stück von Shakespeare. Ich plauderte mit meinem Nachbarn zur Linken über Verona und die Segnungen des Massentourismus, ehe die „Arschloch!“-Orgie anhub. So weit, so gut. Und zwanglos überleitend zu Julia auf eben diesem Hub-Balkon. Diese Julia (Rosa Falkenhagen) war auf diesem Balkon so stark, dass man allein ihretwegen in dieser Szene nach Weimar pilgern sollte. Es ist ja die ewig Crux jeder Inszenierung von „Romeo und Julia“, mit dem tatsächlichen Alter der Figur Julia irgendwie umgehen zu müssen. Das Mädchen ist während der kompletten Spielzeit keine 14 Jahre alt, sie als junge Frau zu bezeichnen, wäre verfehlt, wenn sie es auch rein biologisch natürlich ist. Die eigene Mutter (Anna Windmüller als Lady Capulet) verrät, dass sie im Alter Julias schon Mutter war. Wer hat eigentlich je die Theorie aufgebracht, die Jugend heute sei früher reif als früher, reiner Blödsinn ist das.

Also jede Julia auf jeder Bühne weltweit verlangt einerseits eine schauspielerische Reife, ein Maß an Fähigkeiten, das scheinbar nicht zuletzt an Erfahrung gebunden ist, an Lebenserfahrung wie an Bühnenerfahrung, und andererseits soll man nie auf den Gedanken kommen, dass die Matrone da oben nur eine Fehlbesetzung sein kann. Man müsste all den Klassikern diesen sehr ähnlichen Vorwurf machen, ständig Figuren weiblichen Geschlechts entworfen zu haben, die nach heutigen Regeln unter die Paragraphen sexueller Missbrauch von Minderjährigen fallen, wenn sie ihre Liebe leben. Nur sehr kurz können Darstellerinnen auch rein physisch all die Julias, Klärchens, Gretchen geben, den Typus Kindfrau gibt es zwar zunehmend unter Schauspielerinnen, aber dennoch, es hat Grenzen, auf der Bühne immer noch leichter überspielbar als im Film, wo stets die große Nahaufnahme droht. Rosa Falkenhagen war über weite Strecken eine phänomenale Julia, vor allem vor der Pause, danach war sie bisweilen zu laut. Dann aber mit dem Giftfläschchen in der Hand und dem Geist Tybalts (Janus Torp) hinter sich, war sie wieder grandios. Nur wegen ihr sollten rasch die wichtigen Jungmädchenrollen-Stücke auf die Bühne in Weimar geholt werden, sie kann das. Ein paar verbühnte Romane weniger in den Spielplan und nur spielen lassen, wer da spielen kann.

Bleibt Romeo. Der hat, im Original, den meisten Text im Stück, Gelegenheit, etwas zu loben, was rasch übersehen wird: das Programmheft. Wer immer die Idee mit den rot gedruckten Einschüben hatte, die alle mit „Wussten Sie schon ...“ beginnen, ihm/ihr sei Dank. Denn Programmhefte, auch wenn das vielfach in keinen Kopf hinein will, haben eine Informationspflicht. Und zwar vor jeder Chef-Dramaturgen-Kür, die zeigen soll, welche abgelegenen Texte sie kennen, die ihrer Meinung nach zur Inszenierung irgendwie passen. Was für hochgestochenen Kram habe ich schon gelesen im Laufe der Jahre in diesen Heften, gleichzeitig waren die Fotos ohne Angabe, wer wer ist auf ihnen. Ich erfahre auch gern etwas über das Team, nicht überall gibt es Presse-Informationen und die gehen ja ohnehin nie an das eigentliche Publikum. Also: Lob, großes Lob! Dann geht es auch mit etwas Sibylle Berg, die aus Weimar stammt. Also Romeo. Den spielt Nahuel Häfliger, der mit seinen 33 Jahren nicht unbedingt zu alt ist für den Romeo, aber streckenweise zu alt wirkt. Ihm den Satz in den Mund zu legen: „Ich will dich vögeln!“, worüber meine Nachbarin zur Rechten herzlich kicherte, überhaupt immer, wenn es irgendwie sexuell wurde - mag sein, wie es will, das sagt man nicht zu einer Dreizehnjährigen, wenn man nicht ein ganz abgefuckter Vogel ist und der sollte ein Romeo auf einer Bühne ja eigentlich nicht sein. Und warum muss er auch noch italienisch singen?

Der Lacher wegen, vermutlich, auf alle Fälle löst es welche aus im Parkett. Es gibt vieles in dieser Inszenierung einer Tragödie, das Lacher auslöst. Als Frauenversteher müsste ich sagen, da hat ein männlicher Regisseur die sprichwörtliche Angst, große Gefühle zu zeigen. Aber ich bin kein Frauenversteher, ich lese einfach nur viel. Als der Österreicher Friedrich Torberg einst in Wien im Burgtheater ein Gastspiel von „Romeo und Julia“ sah, Regie der erst im vorigen Jahr im Alter von 96 Jahren verstorbene Franco Zeffirelli, meinte er, er hätte lieber einen Shakespeare gesehen, von Zeffirelli inszeniert, sah aber einen Zeffirelli, von Shakespeare inszeniert. So läuft es heute tendenziell fast immer, nur einer der beiden Namen ist austauschbar: nicht der Shakespeares. Und Torberg glaubte, die Besonderheit Shakespeares bestehe darin, „dass jegliches Damals, so wie Shakespeare es sah, sonst immer als solches und von selbst für unser Heute gültig bleibt.“ Genau dies scheint mir die Formel für sehr viele gegenwärtige Shakespeare-, für sehr viele Klassiker-Aufführungen generell zu sein: Die Meister/innen der Regie glauben das nicht mehr: sie misstrauen eben dieser Gültigkeit, deshalb salzen sie nach wie Ilsebill bei Grass, deshalb bauen sie Mätzchen ein, die Aktualitäten vorgaukeln, die überflüssig sind. Dummerweise ist Shakespeare immer stärker.
www.nationaltheater-weimar.de


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