Kleist: Das Käthchen von Heilbronn, Hans-Otto-Theater Potsdam
Es hilft bei Kleist, sich in Erinnerung zu rufen, wie er und seine Kumpane in der Schweiz sich ausschütteten vor Lachen, als die Text-Lesung der „Familie Schroffenstein“ im letzten Akt angekommen war. Es gibt da scheinbar nichts zu lachen und doch lacht der Verfasser selbst, so jedenfalls die Überlieferung, exzessiv. Auch „Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe“ ist keine Kömodie, es besteht demnach immer die Gefahr, dass Lacher unfreiwillige Komik anzeigen, die wiederum im Text, in der Inszenierung oder in beidem liegen können. Kleine Kinder lachen auf der Schaukel, obwohl sie eigentlich weinen möchten, denn sie haben Angst. Gehen wir also milde um mit den Lachern, die in allen Theatern offenbar nur auf ihre Chance warten, den Blick anderer Zuschauer von der Bühne weg zu wenden. Vielleicht sehen sie mehr als andere.
Regisseur Ingo Berk hat Kleists „großes historisches Ritterschauspiel“, den Untertitel gibt es bekanntlich erst seit der vollständigen Druckausgabe, im „Phöbus“-Vorabdruck fehlte er noch, auf zwei Stunden eingedampft. Und so ernst genommen, wie es ihm möglich war. Wie viel da fehlen kann am Maximum, erhellt aus der Tatsache, dass Dieter Dorn bei seiner letzten Inszenierung als Intendant in München im Februar 2011 dieses Spektakel ohne die geringste Streichung im Text auf gut viereinhalb Stunden Spielzeit brachte. Sogar Kritiker waren davon begeistert. Kleist selbst hat brieflich Einwände gegen sein Stück formuliert, die um so mehr auffallen, als er sonst kaum etwas hinterließ, was als Selbstdeutung, als Lesart, als Hintergrunds- oder Herkunftsinformation zu nutzen wäre. Kleist bezichtigte sich allzu vieler Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack. Eine tückische Bezichtigung. Jenseits von Jubiläen muss also geschaut werden, so trivial das klingt, es bleibt immer die erste Voraussetzung, ob der Vorlage gegenwärtige Wirkmacht innewohnt, was nicht blindlings mit Aktualität gleichgesetzt werden sollte.
Gegenwärtige Wirkmacht kann auch sein, dass ein Bühnentext Rollen enthält, die so genial sind, dass ihr Vorkommen innerhalb eines Textes dessen Qualitäten nahezu gleichgültig werden lässt. Gute Schauspieler wollen herausgefordert sein, sie wollen, alles Trivilitäten, die dennoch nie als Selbstverständlichkeit gesehen werden dürfen, Facetten zeigen, Wandelbarkeit, sie wollen überraschen. Kleist bietet solche Rollen, wenngleich seine Sprache, seine Verse bisweilen so hohe Hürden für Darsteller aufbauen, dass sie zum Spiel gar nicht erst kommen. In Potsdam saßen die Texte, dass es eine Freude war, die zwei Stunden ohne Pause liefen makellos durch.
Das Bühnenbild (Magda Willi) gab sich als eine Art von Hochregallager, dessen Mittelteil nach vorn und hinten bewegbar war. Alle Darsteller waren permanent auf der Bühne zu sehen, saßen, lagen, hockten auf einer der insgesamt vier Ebenen der Konstruktion. Bewegungslos abwartend bis zum nächsten Einsatz oder auch im stummen Spiel die Hauptszenerie ergänzend. Drei Herren (Christoph Hohmann, Michael Schrodt und Carlo Degen) hatten je drei kleinere Rollen zu verkörpern, und damit allerhand Entfaltungsmöglichkeiten vom Femgericht mit Tiermaske bis zu den verschiedenen Ritterfiguren. Andere Regisseure haben das Femgericht gänzlich gestrichen, hier in Potsdam bewies es sein Potential für die seit 200 Jahren letztlich vor allem merkwürdige Handlung.
Ein 15 Jahre alte Mädchen „verfällt“ einem Ritter mit einem Namen, der schon bei Kleist selbst unter dem Verdacht steht, komisch sein zu sollen: Friedrich Wetter, Graf vom Strahl: Sie fällt ihm zu Füßen, sie wirft sich um seinetwillen aus dem Fenster, sie folgt ihm wie ein Hündchen, als sie vom Sturz genesen ist. Scheinbar ist sie willenlos, scheinbar ist sie manipulierbar. Der Vater des Mädchens, Schmied zu Heilbronn, kann sich den Vorgang nur als Teufelszeug deuten, weshalb er, der Bürgerliche, den Ritter und damit Adligen, vor ein Gericht zerrt (diese Konstellation sei wenigstens erwähnt). Die Femrichter können keine Schuld finden, der Ritter zwingt das Käthchen mit grenzwertigen Mitteln zu Aussagen, die ihn indirekt entlasten.
Bei Kleist wird das mit allen Effekten, die das Theaterherz begehrt, in Richtung Erfolg getrimmte Stück mit einer Wendung beendet, die kein Trivialmelodram verschmähen würde: Das Käthchen ist leibliche, wenn auch illegitime Tochter des Kaisers, der Käthchens Mutter seinerzeit nahe trat und Käthchens Mutter hat den schönen Namen Gertrud, der bei seiner Nennung in Potsdam die größten Lacher hervorzauberte. Allein die Nennung eines Namens, der für die Substanz des Stückes keinerlei Relevanz hat, erzeugt die solche Lacher! Nichts zeigt besser, warum auch alte Stücke immer neu sein können. „Thuschen“ in der „Hermannsschlacht“ ist auch so ein Kleist-Name, der unfreiwilligen Humor in jede Aufführung bringen kann.
Regisseur Berk hatte die Idee, den vermeintlichen Vater Theobald Friedeborn, der eingangs den Ritter verklagt und den tatsächlichen Vater, der eine echte Kaiserkrone trägt, von Bernd Geiling spielen zu lassen. In dieser Fassung können sich beide selbstredend nicht auf der Bühne begegnen. Alle entsprechenden Szenen und Dialogen entfallen mithin. Die Schlüssigkeit der Strichfassung geriet dadurch nicht in Zweifel, es klappte. Und als Kaiser im Bademantel mit der leicht schief sitzenden Krone auf dem Kopf war Geiling im hinteren Teil noch besser, was viel sagt, denn anfangs war er schon gut. Die undankbarste Rolle hat letztlich textbedingt der Graf vom Strahl. Spielt man ihn martialisch, spielt man ihn als männliche Dreitagebart-Schönheit neuzeitlicher Rasiercreme-Werbung, spielt man ihn als späten Empfindsamen, der verliebt wie ein Käfer ist, wie es das Käthchen ausdrückt? Immer bleibt ein Rest Unmut gegen die Rolle.
Dennis Hermann hat alles herausgeholt, was geht und die genannten Möglichkeiten ineinander fließen lassen. Man kann dem Käthchen abnehmen, dass es diesem Manne verfallen ist. Da seine Rolle selbst ein Rollenspiel ist, darf man ihr genau das auch anmerken. Im Zusammenspiel mit seinem Diener, Vertrauten und Helfer Gottschalk, den Friedemann Eckert nicht nur äußerlich positiv verdächtig der Rollenauffassung folgen lässt, wie sie Julia Hölscher in ihrer wunderbaren Dresdner Inszenierung mit Christian Friedel entwickelt hat, gibt es die schönen Kleinigkeiten, die einen Theaterabend über den Alltag heben. Jüngere Menschen denken sicher sogleich das Wort Nerd bei diesem Anblick, ältere kennen dieses Wort meist nicht einmal.
Ein Eigenthema bei Kleist sind immer dessen Bühnenfrauen, im „Käthchen“ natürlich zuallererst das Käthchen selbst (Friederike Walke), dann die Kunigunde von Thurneck (Marianna Linden). Diese beiden Gegenspielerinnen, die Frauentypen verkörpern, die auch etwas mit dem Alter des Verfassers Kleist zu tun haben, sind so genannte dankbare Rollen. Der Ehrgeiz der Regie, erprobten Lösungen wenigstens etwas in Teilen Unerprobtes oder länger aus der Mode gekommenes zuzuordnen, führt in Potsdam dazu, dass Käthchen unterm nicht vorhandenen Holunderbusch an der Bühnenrampe nicht nur nicht nackt, sondern gewissermaßen antinackt ist. Und er führt dazu, dass die böse Kunigunde, die am Ende sogar noch auf Giftmord sinnt, keine Witzfigur wird mit grotesken Körpermängeln, sie hat lediglich einmal die Schaumstoffbrüste auf dem Rücken oder sie wirft mit deren Einlagen um sich. Beiden Darstellerinnen ist ein ehrenhaftes Zeugnis auszustellen.
Eine kleine Prachtleistung im Nebenfach zeigte Patrizia Carlucci als Kammerzofe Rosalie, kaum weniger prägnant auch Sabine Scholze als Brigitte. Nur Andrea Thelemann war wegen kräftiger Striche an ihrer Rolle zu überlangem tatenlosen Sitzen verurteilt, was man natürlich nicht ihr vorwerfen kann, es ist überhaupt kein Gegenstand für Vorwürfe, nur Sachstandsschilderung. Was meiner mäßigen Phantasie nicht schlüssig werden wollte während aller 120 Spielminuten, waren die Kostüme von Magda Will, soweit man Underwear, wie man es wohl neudeutsch nennt, als Kostüme bezeichnen mag. Alle Arten von Unterhosen, Unterhemden, Unterröcken, Morgenmänteln spielten mit, das gnadenlos komische Brautkleid der Kunigunde freilich war eine pure Perle. Ich wiederhole meine schon im ersten Anlauf ernst gemeinte Aussage vom April: Potsdams Hans-Otto-Theater hat mich sicher nicht zum letzten Male gesehen.
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