Thornton Wilder: Wir sind noch einmal davongekommen; Meininger Staatstheater

Matthias Heine war es, der Mitte Januar 2012 in der WELT diese These wagte: „Die Zeit ist reif für ein Comeback des einst so erfolgreichen Thornton Wilder auf deutschsprachigen Bühnen“. Knapp zwei Wochen später folgte in Basel die von Amelie Niermeyer in Szene gesetzte Premiere von „Wir sind noch einmal davon gekommen“, es folgten Neuinszenierungen in St. Pölten, in Linz, in Hamburg, in Heidelberg – und immer auch verbunden mit der Frage, warum denn gerade dieses Spiel, man vermied gern das Wort Stück bei Wilder, jetzt wieder gespielt werden sollte. Es ist keine Zeitverschiebung für neue Bundesländer zu vermuten, wenn jetzt auch im Meininger Staatstheater zu sehen ist, wie die Familie Antrobus drei Großkatastrophen der Menschheitsgeschichte übersteht und immer wieder neu anfängt. Von 1946 an bis in die Mitte der sechziger Jahre war „Wir sind noch einmal davongekommen“ etwas wie ein Dauerläufer auf deutschsprachigen Bühnen, die sowjetische Besatzungszone und ihre Nachfolgeeinrichtung DDR ausgenommen. Denn, so das frühe Urteil meinungsbildender Autoritäten dort, bei Thornton Wilder werde der Krieg einer Naturkatastrophe gleichgesetzt, und das war, um es heutig zu sagen, für Gut-Marxisten ein No-Go.

Heute, und das ist gut so, führt ideologische Vivisektion eines Theaterstückes nicht mehr automatisch zur Verbannung von Spielplänen, wenngleich es, vor allem in den im Druck kursiv erscheinenden Regiehinweisen Wilders, schon Sätze gibt, die das Potential hätten, zu DDR-ähnlichen Reaktionen zu führen. So steht da mitten im zweiten Akt: „Drei Rollstühle, von melancholischen Negern geschoben, fahren leer vorüber.“ Und am Beginn des dritten Aktes, als behauptet wird, sieben Darsteller/innen seien an einer verdorbenen Zitronencremetorte erkrankt, weshalb Amateure einzuspringen hätten, heißt es über zwei von ihnen: „Ivy und Hester sind Negerinnen.“ In den USA des Jahres 1942 waren das für einen weißen Dramatiker normale Sätze ohne jedes Rassismus-Potential, noch die militante Protestbewegung zwanzig und mehr Jahre später hatte keine Probleme damit, sich „Black Panther“ zu nennen, in ehemaligen französischen Kolonien gab es die „Negritúde“ und auch darüber fielen keine deutschen Aktivisten der ideologischen Arbeit von ihren Drehsesseln. Geschulte Dramaturgen lesen für ihre Regisseure heute über solche Stellen weg. Man hört sie ohnehin nicht im Dialog, falls der nicht postmodern um sie bereichert wurde.

In Meiningen hat Regisseur Tobias Rott sechs Darsteller aufgeboten, hälftig aufgeteilt: drei Frauen, drei Männer, und einer der Männer (Emil Schwarz) darf sechs Rollen spielen. Solche personelle Sparsamkeit, könnte man glauben, hätte besser zur Zeit nach dem Kriege gepasst, doch gerade damals wurde jeder der Rollen, die Schwarz jetzt so oder so auszufüllen hat, eine eigene Person zugeteilt, etwa die Wahrsagerin fiel schon einmal als potentiell ergiebige Nebenrolle an eine namhafte Mimin. Dass Ansager auftreten, Schauspieler aus ihrer Rolle fallen müssen, Souffleusen direkt angesprochen werden, Zuschauer aufgefordert werden, ihre Stühle als Brennholz auf die Bühne zu reichen, das ist heute alles Alteisen des epischen Theaters, man wagt kaum zu erwähnen, dass schon Ludwig Tieck (wer war das denn??) Mittel anwandte, die ein gewisser Brecht als modern ansah und eben ein Thornton Wilder schon auf die Bühne gebracht hatte. Es ist aus guten Gründen darauf hinzuweisen, dass Wilder sein Spiel im Juni 1940 zu schreiben begonnen hatte, da sollte es „The Ends of he Worlds“ heißen, erst später wurde daraus „The Skin of Our Teeth“, was mit „Wir sind noch einmal davongekommen“ sehr frei übertragen ist und sensationell erfolgreich.

Bei Georg Hensel lässt sich nachlesen, dass Wilder in den USA „eine Ein-Mann-Universität“ genannt wurde und als solcher eine seltene Fähigkeit entwickelte: „Er ist ein Intellektueller, der sich so einfach ausdrücken kann, als habe er nie ein College von innen gesehen.“ Dies half ihm ab Mitte der sechziger Jahre auf alle Fälle in Deutschland nicht mehr, im Gegenteil. Die alten 68er, die damals noch junge 68er waren, definierten Bildung zugriffig als Bildungsballast und gaben so bis heute die Legitimation für besondere Striche im Wilder-Text. Die Antrobus-Tochter Gladys sagt im Original ein Gedicht von Longfellow auf, also von Henry Wadsworth Longfellow, im englischen Sprachraum einer aus der allerobersten Lyrik-Liga, bei uns im Vergleich Goethe-Schiller-nahe, den Namen gibt es in Meiningen natürlich nicht. Und Spinoza, der Name, der vorkommt, weil Wilder wie schon in seinem Einakter „Schlafwagen Pegasus“ Stunden Namen von Denkern gegeben hat, wird auffällig-unauffällig fast verschluckt, was freilich wieder einen mindestens unfreiwilligen Spaß ergibt. Dass einige klassische Aktualisierungs-Vorlagen ignoriert wurden, rechne ich der Regie von Tobias Rott ohne alle Ironie sehr hoch an: es treten bei Wilder Flüchtlinge auf und Feminismus.

Das kräht in dieser Zeit förmlich nach Ausschlachtung. Ein Hoch jedem Inszenator und jeder Dramaturgie, die in diese Falle nicht tappt. Wir hatten die Themen schon und zwar bis zum Erbrechen, was den Themen immer schadet und an den Sachverhalten, die sie abbilden, bekanntlich nichts, gar nichts ändert. Wie wenig Katastrophen ändern, das führt übrigens Thornton Wilder just in diesem Spiel vor, er zeigt es mit Humor, er weiß schon, dass Theaterbesucher nicht ins Theater gehen, um dialogisierte Sonntagsschultraktate oder Gesprächskreis-Handouts auf der Bühne zu erleben. Unterhaltung, bitte, Unterhaltung gehört dazu. Da darf schon mal ein kleiner grüner Dinosaurier auf der Bühne stehen und angesichts der heranrückenden Eiszeit mitten im August frieren (sein Kollege, das kleine Mammut, dessen Mutter von Sabina zu melken vergessen wurde, ist in Meiningen gestrichen). Es ist ein Irrtum, dass, wer lacht, darüber und damit vom Nachdenken (oder Vordenken) abgehalten ist. Am Ende ärgert heute vielleicht die meisten, die mit diesem Wilder nichts mehr anfangen können, dass er nach allen Katastrophen ein Optimist blieb, und just diesen tief humanistischen Optimismus auch noch vortragen lässt, hart an der Grenze zur Überdeutlichkeit.

„Wir sind noch einmal davongekommen“ in Meiningen verkneift sich kleine, fast verschämte Corona-Anspielungen nicht, natürlich nicht, möchte man sagen angesichts vieler freier Reihen und Plätze im Parkett, dem theatralen Hygiene-Konzept geschuldet. Anja Lenßen in der von ihr noch nicht in alle möglichen Richtungen ausgeschöpften Rolle der Frau Antrobus hantiert an mehr als armlangen Stäben mit Kunsthänden: allein das verlangt hohe Konzentration und ist auf humorige Weise dem Abstandsgebot zu danken. Nur ihren eigenen Gatten, der auch den Bühnen-Gatten zu spielen hat, Vivian Frey, darf sie wegen Wohnens in einem Haushalt mit gemeinsamem Kind im wirklichen Leben auch in Kostüm und Maske berühren. Das Unausgeschöpfte in ihrem Spiel liegt in der Rolle, nicht etwa in beschränktem Spielpotential: Wie spielt man denn so eine Frau, die über drei Akte und fünftausend Jahre Ehe genau nicht wie eine militante Feministin auf alles reagiert: die die Familie zusammenhält, die den missratenen Sohn, der nach allen herkömmlichen Kriterien ein Verbrecher ist, dennoch liebt. Wer genau hinhörte, verpasste den größten Augenblick ihres Spiels nicht: als sie nach vergeblichen Henry-Rufen plötzlich ganz leise, halb verschluckt, „Kain!“ rief.

Im Text von Wilder findet sich im dritten Akt innerhalb der Szene, die von manchen Deutern als die Kern- und Schlüsselszene von allem gesehen wird, im heftigen Dialog zwischen Vater und Sohn (Vivian Frey und Georg Grohmann) dieser Passus: „…der Krieg ist ein Vergnügen, verglichen mit dem, was uns jetzt bevorsteht: den Frieden zu sichern, mit dir in unserer Mitte.“ Wer nicht seinen gesamten Bildungsballast abgeworfen hat, sieht hier die tiefste Tiefe des Spiels, das genau wegen dieser, wegen einer solchen Stelle gar nicht an Aktualität verlieren kann. Es steht, sagen wir ruhig: nach jeder Katastrophe, wir könnten auch sagen, nach jeder Revolution, die für nicht wenige ja auch immer eine Katastrophe darstellt, genau diese als schwerste aller Aufgaben: den anschließenden Frieden zu sichern mit denen, die da sind, also auch mit denen, die Schuld auf sich luden, große und bei Wilder sogar ewige Kains-Schuld. Nun sind wir bei jenem Westdeutschland, das nach 1946, nach der Erstaufführung in Darmstadt und wenig später der ersten in Berlin, „Wir sind noch einmal davongekommen“ auf sich bezog, als hätte Thornton Wilder es just für dieses besiegte und, was damals niemand sagte, befreite Land geschrieben. Damals klappte das Einbeziehen der Kains.

Nach 1990 aber schien es keine höhere Aufgabe zu geben, als alle, auch die kleinsten Nano-Kains, aus dem Frieden nach dem Mauerfall auszuklammern. Dreißig Jahre später, so seltsam das klingen mag in manchem Ohr, macht in der Theaterstadt Meiningen ausgerechnet ein seit 45 Jahren toter Amerikaner neu und frisch darauf aufmerksam. Ob Tobias Rott in diese Richtung inszenierte, wage ich nicht zu vermuten, ich hoffe es ein wenig. Dass die Antrobus-Tochter (Marie-Sophie Weidinger) alle Weile ihr Röcklein heben musste, gab es 2012 bereits in der Regie von Amelie Niermeyer in Basel, damals hob Claudia Jahn das ihrige. Was in einem Stück, das wiederkehrende Katastrophen behandelt, als wiederkehrende Spielidee natürlich kein Frevel ist. Während Herr Antrobus im Spiel Erfinder des Rads, des Hebels, des Alphabets, der Zahlenreihe und schließlich sogar einer Grassuppe ist, die kein Erbrechen nach sich zieht, das Rezept heftet er nach der dritten, der Katastrophe des Krieges, übrigens an eine Kirchentür wie weiland ein gewisser Luther seine Thesen, erfindet Frau Antrobus den Hohlsaum, den Zwickel, die Schürze, das Braten in Öl. Wer hier eine traditionelle Rollenzuschreibung sehen möchte, sei frohen Mutes, es ist wirklich eine.

Wer in Meiningen nicht nur lachte, als Antrobus seine Gattin aufforderte, gegen die Kälte der Eiszeit alles zu verheizen, auf keinen Fall aber seinen Shakespeare, der sah dann später wieder, wie Thornton Wilder in seinem Spiel das Buch fast anbetend überhöhte: Aus dem Keller reicht Anja Lenßen dem Gatten Vivian Frey die den Krieg überlebt habenden Bücher, er blättert, sie freut sich, wie er blättert und irgendwie ist hier schon alles gut und in der richtigen Bahn, obwohl noch gar nichts gut ist und in gar keiner Bahn. Solch Hohelied auf das Buch kann gar nicht veralten, ähnlich nicht wie „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury, dessen 100. Geburtstag im August unterging im allgemeinen Schwall von vermeintlich und tatsächlich Wichtigerem. Wilder-gemäß, meine ich, Bühne und Kostüme von Cornelia Brey, immer gut für kleine Humore: der Dampf aus dem Ofenrohr, die kleinen Häuschen, die im dritten Akt angebrannt aussahen. Wilder-gemäß, wenn auch auf andere Art, durchaus die Rede von Werra und Walldorf, denn amerikanische Lokalitäten gehören, anders als Platon, Aristoteles und Spinoza, als die Bibel auch natürlich, zum Ballast, der abgeworfen keine Lücke hinterlässt. Man darf, die Regie vermied es weise, nur nicht übertreiben.

Bliebe eine Rolle, der in fast jeder Inszenierung, zu der ich Kritiken kenne, spezielle Kritiker-Aufmerksamkeit zufiel: es ist Sabina, in Meiningen Lily Sabina Schönwetter laut Programm, gespielt von Nora Hickler, die mit einem Staubsauger beginnt. Das ist die Rolle des Spiels, die das reichste Angebot möglicher Nuancen bereithält, verglichen mit ihr haben Georg Grohmann und Marie-Sophie Weidinger tatsächlich wenig zu tun und es wäre genau deshalb auffällig, wenn hier auch nur ein leichtes Versagen erkennbar würde. Nora Hickler hat es bravourös gemeistert, sie hat alle Töne gefunden, die sie brauchte, wenn sie flunschte und wenn sie aus der Rolle trat, wenn sie dem Henry-Kain zuredete und wenn sie den Mr. Antrobus verführte, wenn sie der Mrs. Antrobus zum Munde redete und wenn sie ihr ihre Kündigung vortrug. Als sie zum Ende hin dem leise verzagten Mr. Antrobus verriet, an seiner Seite zu stehen, wenn er wieder ans Erfinden und Anpacken ginge, egal was es sei, und als sie ihre Brühwürfel abgab und nur einen für sich erbat, um ins Kino gehen zu können, da war das das, was Kritiker gern sehen, auch wenn sie keine alten weißen Männer sind wie ich. Weil auch das Publikum das, idealerweise, natürlich genauso sieht.
www.meininger-staatstheater.de


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