Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür; Landestheater Coburg

„Ein Mann kommt nach Deutschland“ hätte das Stück eigentlich heißen sollen, auch „Einer von denen“ stand zur Debatte. Schließlich ist „Draußen vor der Tür“ daraus geworden, dieser Titel stammt von Ernst Schnabel (26. September 1913 – 25. Januar 1986). Der war von 1946 bis 1949 Chefdramaturg beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg und just dort verantwortlich für die Hörspielfassung von „Draußen vor der Tür“. Die erlebte Wolfgang Borchert noch mit, denn die Ursendung lief am 13. Februar 1947. Die Uraufführung in den Hamburger Kammerspielen am 21. November 1947 erlebte er nicht mehr, er starb am Vortag im Clara-Hospital in Basel-Riehen. Uns muss heute wundern, dass ausgerechnet Wolfgang Liebeneiner (6. Oktober 1905 – 28. November 1987) in Hamburg Regie führen durfte, den Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels noch vier Jahre zuvor mit dem Professorentitel ausgezeichnet hatte. 40 Jahre später ging die westdeutsche Öffentlichkeit deutlich unerbittlicher noch mit kleinsten Mitläufern des nächsten Regimes um.1947 war ein Propaganda-Film pro Euthanasie, wie ihn Liebeneiner gedreht hatte, kein ernster Grund, ihm erst einmal das Filmen und Regieführen wenigstens vorübergehend zu untersagen. Chefin der Kammerspiele war übrigens Ida Ehre (9. Juli 1900 – 16. Februar 1989), die als Jüdin in der Zeit des Nazi-Regimes mit Berufsverbot belegt war. 2021 liegt das alles schon sehr weit zurück.

Dafür ist 2021 das Jahr des hundertsten Geburtstags von Wolfgang Borchert. Man erinnert sich seiner spätestens jetzt. Und anders als bei ähnlichen Gelegenheiten unterbleibt das sonst selten fehlende Maulen über das Jubiläumstreiben des deutschen Groß-, Mittel- und Kleinfeuilletons. Bühnen, die Borcherts gern gedenken möchten, haben es leicht: außer „Draußen vor der Tür“ gibt es keinen einschlägigen Text von ihm, nur Prosa, die noch heute das Potential hat (wenngleich nicht jeder Text natürlich), einen buchstäblich umzuhauen. Das Geschwafel germanistischer Jungspunde, die ihre posttraumatische Schullektüre-Belastungsstörung öffentlich machen zu müssen glauben, ist verstummt mangels Anlass. Vor 14 Jahren sah ich mich, ein vorhergehendes Anti-Aggressions-Training fehlte mir sehr, zu einem bösen Leserbrief an das Portal literaturkritik.de veranlasst, als irgendein schreibender Dummkopf dort dümmstes Zeug publizieren durfte, ohne dass ihn der verantwortliche Professor davon abhielt. In Coburg nun eine für mich alten weißen Mann rasant junge Dame (Jahrgang 1990) als Mit-Regisseurin innerhalb eines Kollektivs: Antonia Leitgeb. An ihrer Seite Fabian Appelshäuser, der sein Geburtsjahr wie weiland die Frauen geheim hält. Es sei ihm gegönnt. Als beide sich nach einer Stunde Vorführung in der Reithalle verbeugten, maskiert wie die Zuschauer, war das ohne alle Bedeutung, denn siehe: alles ward gut. Sehr gut sogar.

Dabei hätte ich nach Lektüre des Programm-Flyers Schlimmes erwarten müssen, denn vom Theaterkollektiv conform heißt es dort, dass es sich in seinen Arbeiten mit der Verbindung aus installativen Raumkonzepten und performativem Sprachdestillat auseinandersetzt. Ich gestehe, dass solche Sätze mir Angst einflößen, denn ich mag Destillate durchaus, beispielsweise aus Wachauer Marillen, Sprachdestillate freilich überfordern meine Phantasie. In Coburg gab es Sprache pur, weder gepresst noch getrocknet, weder dekonstruiert noch mit Hefe zum Gären gebracht, Wolfgang Borcherts Sprache eben. Das Kollektiv hat am Originaltext natürlich herumgeschnippelt, vorn was weg und was dazu, hinten was weg und nichts dazu. Was vorn dazu kam, war verzichtbar oder nur für besonders Begriffsstutzige. Was hinten fehlte, war der berühmte Schluss, den vielleicht sogar die noch im Ohr haben, die mit dem Kompendium „Abiturwissen für funktionelle Analphabeten“ in einem Band fürs Leben lernten: „Gibt denn keiner, keiner Antwort???“ Ja, tatsächlich mit drei Fragezeichen, die man freilich auf keiner Bühne je hörte. Will die Streichung gar heißen: Die Antwort ist längst gegeben? Oder: Antworten haben wir genug, wir brauchen neue Fragen? Ich hätte auch in diesem schönen Jahr 2021, Jahr der Masken, Impfgegner und des Zusammenbruchs der CDU, durchaus eine echte Gasmaskenbrille auf der Bühne vertragen, hatte selbst eine 1971-73.

In Coburg, wo das Kollektiv für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, war die Maskenbrille durch schwarze Augenschminke ersetzt, die mal aufgetragen, mal abgewischt und dann wieder aufgetragen wurde. Das klingt schlimmer, als es ist. Tobias Bode, der Darsteller des Beckmann, der keinen Vornamen mehr hat, Beckmann wie Tisch, sagt er irgendwann, hat so immer zu tun mit sich, obwohl er ja eigentlich Text genug sprechen muss. Er ist aus dem Krieg heimgekehrt, aus russischer Gefangenschaft, früher als die wirklichen „Spätheimkehrer“, aber spät genug für alles, was einem begegnen kann. Man kann bei Heinrich Böll nachlesen, dass Borchert exakt das Typische auf die Bühne brachte. Heimkehrer-Geschichten hatten Konjunktur, nur nannte das noch niemand so. Heute murmelt es in der Reihe hinter mir jenes Stichwort, das es 1947 noch nicht gab in der öffentlichen Debatte über Heimkehrer: traumatisch. Der Einser-Abiturient würde heute sicher wie aus der, beinahe hätte ich gesagt, Pistole geschossen, sagen: Wolfgang Borchert hat das exemplarische Drama einer posttraumatischen Belastungsstörung geschrieben. Bewahre uns, lieber Gott der Theatergeschichtsschreibung, vor dieser Schublade. Hacke auf dem späten Expressionismus oder dem verspäteten Symbolismus, worauf auch immer, herum, aber lass dies außen vor: es verbleibe den Drehbuchautoren zu wohlfeiler Nutzung, Kriege gibt es ja noch genug. Für die Zuschauer spielte ihr Alter ohnehin keine erwähnenswerte Rolle, denn siehe: Es war gut.

Im vollen Bewusstsein der suspendierten Gerechtigkeit hebe ich heraus: Frederik Leberle. „Ein Oberst, der sehr lustig ist“ steht bei Borchert und im Programm. Beckmann schildert diesem Oberst, warum er nicht schlafen kann und endlich wieder schlafen will. Von Knochen ist die Rede, von einem Xylophon. Während Bode-Beckmann spricht, rutscht er auf den Knien über die Spielfläche, klebt nach und nach ein Geviert aus dem erstaunlich wenig reißfesten weißen Klebeband um sich und den lustigen Obersten herum. Der hat wenig zu sagen, der hat, vielleicht, langsam zu begreifen. Es ist die klassische Situation: Was macht ein Darsteller, wenn er nichts zu sagen hat? Frederik Leberle spielt ohne Text imponierend, einfach nur imponierend. Natürlich missversteht er am Ende den Heimkehrer. Das soll er ja auch. Aber, vorübergehend, dämmert es ihm. Das ist eine Nuance, die den bis heute starken, überraschend neu starken Text auch als Rollenvorgabe aufregend hält. Juliane Schwabe darf die Elbe sein, die Frau des Obersten, „die es friert in der warmen Stube“ und auch jene Frau Kramer, am Boden schrubbend, „die weiter nichts ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar“. Sie spielt das, was Wolfgang Borchert da so überdeutlich in sein Personen-Verzeichnis schrieb. Marina Schmitz ist das Mädchen, „dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam“, er fehlt in der Coburger Besetzungsliste und taucht dennoch auf, und des Obersten Tochter.

Letztlich bleibt der Gesamteindruck einer homogenen Inszenierung in allen Szenen. Vielleicht war die fast endlos lange Plastikfolienbahn, die die Elbe in der Eingangsszene vorstellte, zu viel an Requisit, gemessen an allem folgenden, das auf das weiße Klebeband angewiesen blieb. Borchert selbst könnte man, mit Blick auf das ihm 1946/47 natürlich bereits zur Verfügung stehende Wissen, den Vorwurf machen, in der Frau Kramer, die eben nur diese furchtbare Frau Kramer ist, nicht auch die Nachnutzerin von Wohnungen, die durch Deportation und Vernichtung von Juden in den deutschen bombardierten Städten frei wurden, mit gezeichnet zu haben. Die Furchtbarkeit eigenen Erlebens darf eben noch als Entschuldigung dienen, auch bei Heinrich Böll taucht der Holocaust überraschend spät und zunächst überraschend randständig auf. Nils Liebscher als Kabarett-Direktor, „der mutig sein möchte, aber dann doch lieber feige ist“, ist in heutiger Zeit, da Mut scheinbar nicht mehr zum Kabarett gehört, weil alles erlaubt ist scheinbar, vielleicht die zeitnächste, eine provozierende Rolle. Das vorzuführen, überfordert freilich den historischen Borchert. Der Inszenierung mögen zahlreiche Wiederholungen nötig werden, vielleicht kommen ja dann auch nicht nur vorwiegend ganz junge Leute, die sich womöglich nur Schullektüre ersparen wollen.


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