Sophokles: Antigone; Staatstheater Meiningen

Die Wette hätte ich verloren: Ich war mir felsenfest sicher, mir vor Jahren öffentlich gewünscht zu haben, Anja Lenßen möge nach ihrer eindrucksvollen Iphigenie eines nahen Tages auch einmal die Antigone spielen. Ich konnte die betreffende Stelle nirgends finden. Jetzt blieb ihr immerhin erspart, jenes seltsame blauviolette Teil, das irgendwo zwischen Tütü und Herzog-Alba-Fundus changierte, mit dem sie noch auf den Fotos von der Hauptprobe zu sehen ist, auch während der Premiere zu tragen. Womit wir direkt bei den Kostümen des Abends gelandet sind, die Vesna Hiltmann verantwortet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich durch nichts auszeichnen. Sie passen nicht zueinander und sie passen auch in sich nicht. Das soll vermutlich exakt so sein. Wobei ich mir weder denken will, noch es ohne Gewaltsamkeit kann, was ein normaler Straßenanzug aus dem deutschen Textil-Kaufhaus für den König Kreon neben einer Phantasie-Gewandung für den Seher Teiresias bedeuten will, die daherkommt wie die Mischung eines nordostsibirischen Schamanen-Fells mit einigen König-Ubu-Fundstücken. Die kleine Schwester Ismene trägt untenrum Militaria, die in ihrer Größe wohl nicht zu haben waren, obenrum QVC-Buntheit mit applizierten Blümelein. 

Gewisse Erfahrungen kann ich leider nicht ausblenden. Die etwa, dass mit eben solchen Mitteln Zeitlosigkeit sichtbar gemacht werden soll. Umgekehrt käme kein Mensch aller Geschlechter auf die Idee, SS-Leute auf einer Bühne in englischen Tropenuniformen auftreten zu lassen, damit im Parkett der Gedanke keime, Faschisten gäbe es überall auf der Welt und die Konzentrationslager hätten die Briten in Südafrika eher erfunden als die Deutschen. Wohlan! Während wir die Plätze in den Kammerspielen aufsuchen, die wegen der neuesten Corona-Regeln nicht alle besetzt sein dürfen, erblickt unser Auge schon in seinem Winkel eine Szenerie wie Abendmahl. Wohl fehlt in der Mitte ein zünftiger Jesus und wäre er da, würde man ihn bestenfalls von der Seite sehen, dafür leuchten Kerzen, es wird getrunken und geraucht, mindestens zwei Gestalten sehen sehr blutig aus. Das vermeintliche Abendmahl findet hinter einer Wand mit drei großen Fensterlöchern ohne Fenster statt. Auf die Wand ist der Blick in eine Straße projiziert, die voller Trümmer und voller zerstörter Häuser rechts und links ist. In der Straßenmitte sind junge männliche Menschen unterwegs in unsere Richtung. Wir ahnen, hier ist nicht das altattische Theben zu sehen. Und keine Griechen. 

Noch ist kein Wort gefallen, da sind wir zum zweiten Mal per Nasenstüber 2.0 auf die Zeitlosigkeit des kommenden Geschehens, wahlweise: Überzeitlichkeit, gestoßen worden. Ich mag das immer sehr, will aber ungern für andere sprechen, die gern ihren Theaterbesuch mit einem eingebetteten Volkshochschulkurs ohne Extra-Gebühren verbinden. Dummerweise wissen selbst Menschen etwas über „Antigone“, die kein altsprachliches Gymnasium besucht haben und deshalb kühl und kühn über die Qualitäten der Übertragungen des originalen Sophokles zu urteilen sich berechtigt fühlen: Friedrich Hölderlin gegen Wolfgang Schadewaldt, Rudolf Schottlaender gegen Johann Friedrich Rochlitz, Emil Staiger gegen Rudolf Bayr und so weiter und so fort. Die Unart, dass jedes Theater mittlerweile mit einer eigenen Übertragung daher kommt, die kein TÜV geprüft hat und die, ich unterstelle das, nicht selten einfach auf alles zurückgreifen, was ihnen in die Hände fiel und dann ihren Namen darunter schreiben. Rechtswidrig ist das nicht, sittenwidrig vielleicht. Der berühmteste und bekannteste Satz der „Antigone“ lautete in Meiningen: „Dein Hass ist nicht der meine, ich muss lieben.“ Das kann man toll finden, muss man aber nicht. Das schrieb Heinz Oliver Karbus so. 

Das könnte ich auch gesagt haben, wobei ich nie einen Bruder zu beerdigen hatte: ich war Einzelkind. Doch wessen Hass wäre schon meiner außer mein eigener? Und ob ich lieben muss, wer sagt das? Ernst beiseite. „Antigone“ war zwischen 1790 und 1905, wir können das bei George Steiner nachlesen in dessen unbedingt empfehlenswertem Buch „Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos“, fast weltweit die Tragödie aller Tragödien, das Muster aller Muster, das dramatische Urmeter. Bis Freud kam und den Blick auf Oidipus lenkte (Ödipus-Komplex, genau!!) Im Programmheft der Meininger Aufführung sind die Seiten 16 und 17 Simone de Beauvoir eingeräumt, das Quellenverzeichnis nennt den Rowohlt-Sammelband „Auge um Auge“ von ihr. Man muss dort nicht lange suchen, gleich auf der ersten Seite steht das, was die Dramaturgie für Programmheft-Leser ausgrub. Es entstammt einem im November 1945 zuerst in „Le Temps Modern“ gedruckten Essay von de Beauvoir mit dem Titel „Moralischer Idealismus und politischer Realismus“. Von diesen markanten Gedanken jedenfalls lässt die Meininger Inszenierung der Regisseurin Elina Finkel nichts erkennen. Nichts, tut mir leid, freundlicher kann ich es nicht sagen. Finkels Inszenierung, das ist fast noch schlimmer, lässt auch nicht sehr viel von dem sehen, was sie selbst klug und richtig im Interview für das nämliche Programmheft zu sagen wusste. Warum? 

Vielleicht ist es ja generell besser, ein Inszenator (sämtliche Geschlechter mitgemeint) hält sich bezüglich seiner Absichten eher bedeckt, dann kann ihn niemand daran messen. Elina Finkel sagt: Wir sehen eine vom Bürgerkrieg zerrüttete Stadt. Nein, das sehen wir eben nicht, es könnte auch eine Stadt nach einem Erdbeben sein. Elena Finkel sagt: Ich habe den Chor sozusagen weltlicher gemacht, indem ich ihn figürlicher erzähle, ihn stärker individualisiere. Tatsächlich hat sie aus fünfzehn Greisen zwei Frauen gemacht, die zwar angeblich auch diversen Königen in zeitlicher Folge bereits dienten, dafür aber sehr viel zu jung aussehen. Vor etwas mehr als 100 Jahren hat Jürgen Fehling an der damaligen Berliner Volksbühne just das gemacht, was die Regisseurin in Meiningen angeblich auch wollte. Sind aber zwei Personen ein Chor? Müssten sie singen, würde man sie ein Duo nennen. Tut mir leid, freundlicher kann ich es nicht sagen. Dennoch sei dies vorweggenommen: Anja Lenßen und Evelyn Fuchs, die beiden einzigen „Alt-Kader“ in der Abendspielgruppe, demonstrierten etwas, was man früher Sprechkultur nannte und ich meine, das Wort trifft es noch immer. Es tat wohl, ihnen zuzuhören und wenn sie keinen Chortext einzeln oder synchron zu sprechen hatten, rollten sie Kuchenteig oder wuschen Antigone in einer Zinkwanne. 

Alle anderen Spielenden (sagt man das jetzt so?), sind erst mit dieser neuen Spielzeit im Meininger Ensemble, sechs auf einen Streich an einem Abend verfehlen knapp die Bestmarke des Tapferen Schneiderlein, dafür aber haben zwei der sechs, Leo Goldberg und Jan Wenglarz, drei respektive zwei Rollen auszufüllen. Als tote Brüder Eteokles und Polyneikes gibt es sie bei Sophokles zwar gar nicht, aber wer hält sich schon sklavisch an Vorlagen? Warum ist übrigens das Halten an Vorlagen immer gleich sklavisch? Einmal beim Fragen: Warum sind Texte von vorgestern, wenn sie uns etwas angehen, immer von erschreckender Aktualität? Ist eigentlich Aktualität erschreckend, oder erschreckt uns vor allem, dass Altes nicht einfach alt, Gestriges nicht einfach von gestern ist, herkömmlich, traditionell? Der ganze blöde Phrasensalat eines unreflektierten Fortschrittsdenkens wird aufgefahren ohne Essig und Öl. Erschreckt, dass der Fortschritt gar keiner war? Und das in einer Zeit, da gleich eine ganze Dreier-Koalition mehr Fortschritt wagen will? Irre Zeiten sind das. Antigone aber, Miriam Haltmeier, ganz in Schwarz, später malerisch verdreckt, hat ein kleines Problem, für das sie gar nichts und niemand etwas kann: sie ist einen Kopf größer als König Kreon Gunnar Blume, der auch nichts dafür kann, dass er zusätzlich auch einen Kopf kleiner ist als sein Sohn Haimon Marcus Chiwaeze. Theater ist höchst tückisch mit seinen unfreiwilligen Wirkungen. 

Man kann, um Trotz zu zeigen, den Unterkiefer nach vorn schieben, man kann auch kurz den Kopf nach hinten werfen, in der Rollen-Auffassung der Antigone hat es wohl alles gegeben, was einem einfallen kann, wenn man denn Einfälle hat und die muss zuerst der Regisseur haben, die Darstellerin bietet an und lässt sich korrigieren. Miriam Haltmeier sah ich jetzt schon in der zweiten Rolle mit hängender rechter Schulter, das kann man vermeiden, kleiner wird man damit ohnehin nicht. Aber wenn sie, um meinerseits keinen falschen Eindruck zu beschwören, klein und versunken allein in ihrem zum Zuschauerraum hin offenen Kerker sitzt und just jene Sätze leise und unaufdringlich spricht, die ein Theaterdirektor Goethe am liebsten verbannt gesehen hätte aus ihrem Rollentext, am liebsten von einem guten Philologen als unecht und hinzugefügt erwiesen, dann zeigt sie Größe, spielt Größe. Die von Goethe im Gespräch mit Eckermann argwöhnte Komik der Szene durch die Unhaltbarkeit der Argumente ist einer jener Fälle, über die sich Mäxchen freut: Hier irrte Goethe. Im übrigen inszenierte er die „Antigone“ auch einmal selbst, den Rochlitz-Text, und ließ nach der Pause eine Oper folgen, manche schreiben auch: eine Operette. Denkste nich. 

Die weiße Wand, auf die die teilweise zerstörte Straße projiziert wurde, trägt auch eine Reihe von Namen: die der Toten sind durchgestrichen, an den anderen kann gearbeitet werden. Gunnar Blume malt zum Beispiel eine kleine Krone auf seinen. Von wegen König. Er ist am Ende doch zu sehr der Tyrann, zu sehr der Unterdrückende, als dass er die Rolle spielt, die Goethe als Meisterschaft bei Sophokles anerkennt: dass man immer dem Glauben schenkt, der gerade spricht. Seine Sätze, die vernünftig sind, klingen auch vernünftig, das aber ist zu wenig. Neben den Sätzen des Sohnes Haimon und denen der potentiellen Schwiegertochter Antigone. Das Ping-Pong der Sätze nannte man früher Dialektik und meinte weniger das, was Hegel meinte und sein Fortdenker Karl Marx. Neben den Wortwechseln und den Partien des Chores schrieb Sophokles auch recht lange monologische Partien. Hier liegen die größten Reserven der Inszenierung für weitere Aufführungen nach der Premiere: Leo Goldberg darf der Wächter und der Seher Teiresias sein, das ist ein Rollengeschenk sondergleichen. Hätte er seine beiden langen Parts einfach langsamer gesprochen, Pausen schwingen lassen, dann hätten am Ende nicht nur die fünf Minuten der Ankündigung nicht gefehlt, er hätte ganz und gar für sich glänzen können. Sprechtempo niedriger, mehr Spiel. 

„Antigone“ ist eine Tragödie, in der fast alles hinter der Bühne, außerhalb des Spieles passiert, es kommt durch Botenberichte auf die Bühne, die hier sogar auch echte Berichte eines Boten sind. Das Statische einer solchen Vorgabe muss keineswegs durch künstlichen Aktivismus verblendet werden: Dialoge können „spannender“ sein, als wenn sich Mimen auf der Bühne anbrüllen, einander anspringen, sich zu Boden schubsen oder was auch immer in Meiningen geschah. Der Tiefpunkt war die Slapstick-Darstellung des Selbstmordes der Eurydike, das war schlechte Standup-Comedy, wen ritt hier welcher Teufel? So führte der Komiker Tom Gerhardt in seinen besten Zeiten vor, was sich in Filmen abspielte: als „Botenbericht“ für Lachsäcke. Hier aber war „Antigone“. Der kann man mit der Rolle des Wächters vielleicht sogar einen Vorgriff auf Shakespeare und seine Rüpel-Szenen unterstellen, doch mit den Vorgriffen ist es so eine Sache. Eine Idee der Regie aber hebe ich heraus, obwohl ich vermute, ihr tiefster Sinn war gar nicht beabsichtigt. Antigone Haltmeier steht Polyneikes Wenglarz gegenüber, der auferstanden ist und laufen kann, und sie bläst ihm Feinstaub ins Gesicht. Das war die sogenannte „Beerdigung“, die verbotene Bestattung, der Skandal. 

Hier böte sich eine unverbrauchte, eine vielleicht sogar ganz neue und dazu noch textnahe Deutung der uralten Tragödie an: Sophokles hat mit seiner „Antigone“ die Tragödie der Symbolpolitik geschrieben und das ist nun heute sogar aktueller, als es je war. Denn Antigone begräbt ihren Bruder ja nicht einmal ansatzweise wirklich, wie auch hätte sie das tun sollen und/oder können. Je nach Lesart des Originals streut sie Sand auf die Leiche oder Asche. Anders hätten Vögel und Hunde gar keine Leichenteile auf irgendwelche Altäre schleppen können. Aber auch was Kreon treibt, ist pure Symbolpolitik. Er handelt hier wie der neue Trainer einer sehr renommierten Fußballmannschaft, die aus einem Tief geholt werden soll: er setzt Zeichen, er löst den Stammtorhüter ab, er setzt den Star auf die Bank und holt einen Ex-Star in die Startaufstellung. Wenn es funktioniert, war alles gut, wenn nicht, ist der Zeichensetzer der Vorgänger seines Nachfolgers. Kreon aber ist ganze zwei Tage im Amt, man muss zu dieser Erkenntnis keine hellenische Literaturgeschichte studiert haben, das ist so. Antigone wohnt in dem Palast mit Schwester Ismene, in den er erst einzieht, Schloss Bellevue sozusagen vor zweieinhalbtausend Jahren: erst im Amt darf man rein. Haltmeier bläst Feinstaub. 

Für Gunnar Blume als Kreon blieb ebenfalls eine symbolische Geste: er machte den Bogenschützen wie der Jamaikaner Usain Bolt, sind das Spielideen? Springt ein Vater seinen Sohn an und schlingt seine Beine um diesen? Im umgekehrten Fall wäre der König zu Boden gegangen: reine Physik. Gleich zweimal fordert die Übersetzung des Österreichers Karbus dazu auf, den Tathergang zu schildern. Haben die alten Griechen einst zu viele Vorabend-Krimis gesehen? Es geht nicht. Es passt nicht. Kreon auf Knien rutschend. Die geheimen Träume der reinen Jungfrau Antigone, die sie nur sich selbst gesteht im Angesicht des Todes, die gehen unter in Meiningen, auch wenn sie ausgesprochen werden. Ein namhafter Kritiker schrieb einst von der Prinzessin Homburg, die er in dieser Antigone gesehen hätte, zutiefst berührt. Man muss das nicht so sehen, angesichts des tatsächlichen auch gesprochenen Textes aber kann man es. „Die Konflikte im Stück werden nur dann spannend, wenn die Figuren einen berühren.“ Sagt die Regisseurin im Programmheft. Warum legte es ihre Inszenierung aber nicht genau darauf an? Mein Wunsch zum Schluss: Möge Corona bald für immer enden, ich mag keine auf die Bühne verlegten Premierenfeiern, denen ich nicht ausweichen kann. Wenn freundliche Intendanten ihre Gesamtcrew loben, muss ich nicht dabei sein.   www.staatstheater-meiningen.de


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