Gogol: Der Revisor; Staatstheater Meiningen

Es scheint, als folge ich den Spuren des „Revisors“ durch Thüringen, wo immer sich die Gelegenheit ergibt: zuerst Rudolstadt, Sommertheater auf der Heidecksburg, dann Arnstadt, Theater im Schlossgarten, Gastspiel aus Marburg, dann Gera, Bühnen der Stadt/Landestheater Altenburg. Fehlt nur noch Weimar, nachdem ich nun auch in Meiningen in den Kammerspielen die Komödie sah, der es bis heute herzlich gleichgültig ist, ob sie als solche qualifiziert wird oder nicht, welches Klebeetikett ihr auf den Nabel gepappt wird. Wir leben nicht nur in einem Land, in dem künftige Staatssekretärinnen ihre eigene Bevölkerung als „Kartoffeln“ bezeichnen dürfen, was sie als Nudeln ausweist, welche auch al dente kaum genießbar werden. Man sollte sie des Feldes verweisen, auf dem zwar Kartoffeln, Nudeln aber eben nicht wachsen. Wir leben auch in einem Land, in dem der zünftige Hochakademiker philologischen Geblütels in den Keller geht, um zu lachen, er hat eigens einen schalldichten Raum eingerichtet, in dessen Ecke er bisweilen leise kichert und sich dann sofort schämt. Auf dem Weg zu seinem Deuter-Tisch aber hat er bereits die Gewissheit gewonnen, dass unter der Ebene, die selbst ihn am Zwerchfell packte, untere, tiefere, ja, ganz tiefe Schichten schlümmeln, welche nur entdeckt, wer auch das Unsichtbare zu sehen imstande ist.

Wer sich also beispielsweise wundert, dass eine weiland in Mainz vor sich hin lehrende Professorin namens Brigitte Schultze im „Revisor“, den sie nervtötend „Revizor“ schreibt, „Die sichtbare und die verdeckte Komödie“ erkennt, der sollte an „Des Kaisers neue Kleider“ denken. Die benötigten ein Kind, ihres Nicht-Vorhandenseins überführt zu werden. Frau Schultze, der ein Leben mindestens so lang wie ihre Publikationsliste zu wünschen ist, hat ein ausgemachtes Wunder vollbracht: Sie hat auf mehr als 20 Seiten über Gogols Komödie an keiner einzigen Stelle erkennen lassen, dass sie selbst und leibhaftig je einer Inszenierung auf einer Bühne beiwohnte. Sie hat die komplette DDR-Slawistik ebenso vollständig und penetrant ignoriert, wie alles, was vor 1990 in der damaligen Sowjetunion gedruckt wurde zu Gogol. Ob solches Verfahren noch Wissenschaft genannt werden darf, mag ich nicht entscheiden, seriös ist es keinesfalls. Und mir mangelt es auch an Phantasie, was eine von russischen Ethnologen rekonstruierte Stab-Handpuppen-Vorführung zum Verständnis des „Revisors“ wirklich beitragen könnte. Aber es mangelt mir ebenso an Verständnis, wie man den biederen Oberlehrer Helmut Prang neben dem wenig biederen Nazi Heinz Kindermann zitieren kann, um etwas über den Kleinrussen (Ukrainer) Gogol zu gewinnen.

Im Theater geht es glücklicherweise um andere Dinge. Unsichtbare oder auch nur verdeckte Komödien führt man gescheiterweise selten auf. Selbst beflissene 68er hätten kaum einen Abend lang auf eine leere Bühne gestarrt oder einem Spiel hinter blickdichtem Vorhang gelauscht, dies wäre selbst als Hörspiel kaum durchgegangen. Regisseur Ronny Miersch, dessen WIKIPEDIA-Seite ihn (noch eben) nicht als Regisseur kennt, nur als Schauspieler, der mit seinen 37 Jahren schon an allerhand Orten allerhand gespielt hat, hatte eine Idee auf alle Fälle, die ihm das eine oder andere Philologen-Herz zutreiben könnte, falls sich ein solches ins Meininger Theater verirren sollte. Miersch hat das Ende bei Gogol nach vorn genommen. Egal, was Generationen von Gogol-Forschern, von denen Brigitte Schultze vollmundig schrieb, grübelten und grübelten: die Ansprache des Stadthauptmanns, der bisweilen auch alternativ zum Stadtpräfekten ernannt wird, was in Russland eine sehr unübliche Dienstbezeichnung wäre, ans Publikum, indem er aus der Rolle tritt (ewig vor Brecht), die bestimmt in den Kammerspielen substantiell gleich die erste Wortmeldung des Miguel Abrantes Ostrowski, der diesen bunten Hauptmann zu spielen hat mit Plüschhermelin, rotem Krönchen und Baumelbeinchen vorm Bauch. Er spricht uns an auf Podium A, B und vorn.

Wir sind die herbeigerufenen Männer der kreisstädtischen Oberschicht, denen der oberste Beamte der Stadt, aus einem vertraulichen Brief zitierend, verrät, dass aus dem fernen Petersburg ein Mann kommen werde und vielleicht schon da sei, der alles kontrollieren wolle, ein Revisor eben. Laut SPEKTAKEL-Interview mit Miersch hat dieser diesen Chlestakow schon selbst gespielt (Fehlstelle bei WIKIPEDIA). Das soll mir als hilfreich gelten. Denn herausgekommen ist, alles in allem, ein zwei Stunden mit Pause dauernder Abend mit hohem Spaßfaktor. Der für Bühne und Kostüme zuständige Christian Rinke hat mit Farben nicht gegeizt, im Gegenteil, es ist, als wäre das Optische des Abends vom Ehrgeiz beseelt, die wunderbaren Arbeiten der Dänin Bodil Gardner nebenan in der Städtischen Galerie Ada fortzusetzen. Die sieben Akteure der Inszenierung, zwei Frauen, fünf Männer, haben drei übereinander liegende Spielebenen zur Verfügung, alle tragen auch jene Baumelbeinchen vorm Bauch wie der Stadthauptmann und treiben mit ihnen, alles andere wäre nicht komisch, allerlei Jux und Dollerei. An die dem Publikum nicht einsehbare Seite der Begrenzungen nach vorn sind Papp-Dinge geschraubt, die nach Bedarf nach oben gedreht werden können: mal eine Suppenterrine, mal ein Braten, mal eine Flamme, am häufigsten Geldscheine.

Und immer, wenn die Geldscheine zu sehen sind, hampeln die gerade aktiven Mimen und fuchteln mit den Handflächen nach vorn wie in einer der Fernsehshow, an die man erinnert wird, auch wenn man sie längst vergessen hat. Zitate gibt es in dieser Spielfassung mehrere, eines von Louis de Funes, den ich wie wohl manch anderer Zuschauer älteren Semesters in bester DDR-Erinnerung habe und behalten werde. Gespielt wird eine Bearbeitung, die John von Düffel verantwortet, von ihr ist mir nichts haften geblieben, was meine Schuld sein kann. Immerhin ist sicher, dass es einen Kundenrabatt bei Müller zu Nikolai Gogols Zeiten noch nicht gab, auch hätte nie eine Dame auf offener Bühne gesagt: „Ich gehe jetzt kacken.“ Das spricht aber keinesfalls gegen die Inszenierung. Es geht heftig und deftig zu in den Meininger Kammerspielen, nie aber zu heftig und zu deftig. Dass meine Favoriten des Abends Vivian Frey und Jan Wenglarz waren, die Bobtschinski, Dobtschinski und jeweils zwei weitere Rollen zu spielen hatten, liegt sicher zuerst an diesen Rollen, denn letztlich gab es kaum Gefälle im Spiel, das eine fast zu gleichmäßige Höhe, fast zu gleichmäßiges Tempo hielt. Was nicht heißen soll, es möge nach jedem Running Gag gefälligst ausreichend Lachpausenzeit gelassen werden, ehe der Schimmel wieder wiehert. Das wäre nur Schmiere.

Zu nennen sind dennoch und deswegen alle: Christine Zart, die mit fuchsroter Perücke sich nicht zu schade war, ihre Glocken läuten zu lassen als Gattin des Stadthauptmanns, Miriam Haltmeier als Tochter, die kein hellblaues Kleid tragen will und widerspricht, wann immer es geht und es geht zum Glück fast immer. Chlestakow, den falschen Revisor, gibt Yannick Fischer, der, als er merkt, was läuft, sich nicht nur gute Bekanntschaft mit Puschkin zuschreibt, er will auch die Werke Dostojewskis geschrieben haben und sogar die „Drei Schwestern“ von Tschechow, was dann der Tochter doch ein wenig übertrieben scheint, auch wenn sie gar nicht erst darauf hinweisen muss, dass Tschechow erst geboren wurde, als Gogol längst tot war, vorher versunken in sein spätes religiös-mystisches Weltbild. Von dem heutige Gogol-Forschung gern den Anschein erwecken möchten, als wäre das der eigentlich Zielpunkt seiner Lebensentwicklung gewesen. Obwohl in englischer Sprache längst Bücher vorliegen, die eine ganze andere, allseits bisher tapfer verschwiegene Seite Gogols thematisieren: seine Hinneigung zum eigenen Geschlecht, was zu Lebzeiten (1809 – 1852) alles andere als nur irgendein Tabu gewesen ist und durchaus geeignet, Angst vor ewiger Verdammnis zu wecken, zumal in einem Menschen, der selten selbstsicher war.

Leo Goldberg spielte den Diener Ossip, um dessen Namen sich nach der Pause ein beinahe endloses, an Lustigkeit dennoch nicht verlierendes Versprecher-Spielchen drehte. Es spricht alles in allem nichts dagegen, Gogols Kreisstadt irgendwo zwischen Petersburg und Saratow zu belassen, wo sie der Autor angesiedelt hat. Heute mag in dem einen oder anderen verwirrten Kopf gar die Frage aufkeimen, wie man mit einem Ukrainer umzugehen hat, der zum Klassiker der russischen Literatur wurde. Normal, würde ich antworten: normal. Solange wir nicht durch vermeintlich korrekte pseudowissenschaftliche Lautumschrift auch noch den letzten Namen, die letzte Ortsbezeichnung östlich der polnischen Grenze in unbekanntes Terrain verwandelt haben, könnte man sogar optimistisch sein. Mir will aus jetziger Sicht scheinen, dass allein per Schreibweise eine Ausgrenzung vollzogen wird, die anders eben nicht gelingen will. Ich jedenfalls habe so viele Jahre meines Lebens in einem Kleinstaat namens DDR verbracht, wie Regisseur Miersch überhaupt lebt. Und ich habe Behauptungen ahnungsloser Prominenzen, Iwan Bunin sei in der DDR verboten gewesen, ebenso überlebt wie die dummdreiste Ignoranz gegenüber einer ganzen Slawistik. Gesammelte Werke von Gogol in fünf Bänden gab es in der DDR schon, als Stalin noch lebte.

Weshalb es, gelinde gesagt, Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit eines ganzen Verlagsprojektes und des speziellen Autors zu Gogol in diesem Falle, er hieß Wolfgang Storch, weckt, wenn dort (Friedrichs Dramatiker des Welttheaters, Band 42, 1967) dreist behauptet wird: „Es fehlt eine Gogol-Ausgabe in deutscher Sprache.“ Obwohl eine zitiert wird und eine zweite genannt. Auch in der alten Bundesrepublik war eben nicht alles schlecht. Auch Wolfgang Storch schrieb sein Gogol-Buch voll, ohne auf eine einzige eigene Erfahrung mit einer Inszenierung zurückzugreifen. Sah er nie eine oder sah er sich außerstande, über sie zu urteilen? Dann hätte man ihm in seinen noch sehr jungen Jahren nie und nimmer den Auftrag für dieses immerhin Repräsentativität beanspruchende Buch geben dürfen. Sei's drum, wir sind eigentlich in Meiningen, wo das Publikum, es waren nicht restlos alle Plätze besetzt, enthusiastisch Beifall spendete, sogar rhythmisch. Nicht zu vergessen: vor der Vorstellung, in der Pause und nachher, war vor dem Vorgang und/oder im Foyer ein Ohr unterwegs, näherte sich dem Publikum, winkte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht an Gogols „Die Nase“ erinnern sollte, obwohl die unbedingt zu empfehlen ist und sogar schon auf Bühnen zu sehen war, obwohl sie doch gar kein Stück ist. Was nichts besagt in diesen Zeiten und anderen auch.
www.staatstheater-meiningen.de


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