Schiller: Don Carlos, Thalia Theater Hamburg

In Zeiten, da die Fähigkeit eines Fußballspielers, einen Ball zwischen drei Gegenspielern hindurch dem eigenen Mitspieler genau vor die Füße zu stupsen, mit dem Wort genial belegt wird, bin ich misstrauisch, wenn irgendwo von Genialität die Rede ist. Jette Steckels „Don Carlos“, Premiere im Januar 2011 im Hamburger Thalia Theater (ARTE nannte allen Ernstes die Regisseurin im Videotext noch bis zum Schluss der Ausstrahlung 170 Minuten lang Jette Stecklist, aus den 170 sind gleichlaufend perfekt 107 Minuten geworden, es lebe das gebührengestütze Hochkultur-Fernsehen!!), ist von Kritikern derart bejubelt worden, dass ich, ich gestehe es voll Scham, nicht wie es sich gehört, mit Skepsis in meinen Fernsehsessel kletterte, sondern sogar bei Freunden warb, es mir gleich zu tun. Ich bin, um es vorweg zu nehmen, den Nachschusslorbeeren, die für mein Erlebniss Vorschuss waren, auf den Leim gegangen.

Wenn das genial war, was Regie, Darsteller und Bühnenbildner leisteten, dann will ich künftig lieber nur noch Murx sehen. Ich habe, um noch etwas vorweg zu nehmen, ein Hörspiel gesehen. Wäre mein Fernsehbild ausgefallen, hätte ich vermutlich mehr vom Abend gehabt. Hörspiele mit Sprechern in Großaufnahme jedoch sind für mich im fortgeschrittenen Theatergänger-Alter doch zu sehr gewöhnungsbedürftig. Der Darsteller des Posa, Jens Harzer, ist Darsteller des Jahres geworden. Dalegtsdiniada, sagt der Bayer an solchen Stellen. Der Mann, dessen obere Gesichtshälfte fast drei Stunden unbeteiligt nicht am Spiel teilnahm, ob die Königin an seiner Schulter weinte, oder ein Schuss sich in seinen Rücken bohrte, wie die oberen Gesichtshälften fast aller neun Darsteller des Abends auch, der hat eben nicht gespielt, der hat gesprochen. Das in der Tat fast durchgängig großartig. Das aber ist doch wohl immer noch, liebe Jubelperser der Theaterkritik, nicht Schauspiel, oder? Der lustige Kritiker der taz, der offenbar nicht einmal den „Don Carlos“ selbst in groben Zügen kennt, anders wäre mancher seiner kruden Sätze nicht verstehbar, war beleidigt, dass nach einem furiosen Auftakt Schiller kam. Warum werden solche Kerle eigentlich kostenlos ins Theater gelassen?

Selbst Peter Kümmel in der ZEIT behalf sich mit Orakeleien über den Zusammenhang von Drehbühnen mit dem Bösen in der Welt und zog ausgerechnet die grandiose Andrea Breth mit ihrer Wiener Burgtheater-Inszenierung zum Vergleich heran, nur wegen der Drehbühne. Also da muss das junge Mädchen Jeckel denn doch noch ein Weilchen an sich arbeiten, ehe der Vergleich nicht eine Beleidigung für Andrea Breth darstellt. Sprudelnde Regieeinfälle habe ich keine gesehen, statt dessen manches, das ich schon deutlich eindrucksvoller sah und zwar an solchen von unseren Großkritikern schnöde missachteten Provinzbühnen wie Meiningen, Weimar, Coburg, Potsdam. Ein Internet-Komiker nannte auch Roger Vontobel und Jette Steckel in einem Atemzug. Also: Der Dresdner „Don Carlos“, der war groß, der Hamburger ist hochgejubelt. Immerhin, den Kurt Cobain, den habe ich auch gesehen, wobei es auch nicht direkt an Genialität grenzt, sich die Haare drei Stunden über die Augen hängen zu lassen und bisweilen zu hecheln.

Opa Lerma leckte sich aller zwei Sätze die Lippen und sagte Text auf wie ein in Ehren ergrauter Superstar des Schillertheaters Bauerbach in der zweiten Durchlaufprobe. Alba war ein Mann mit Schmiss auf der Wange, dessen Gesichtsausdruck nie zum Text passen wollte. Und während bei Andrea Breth, letztmalig dieser Name, die Frau als Großinquisitor eine große Idee war, ist die Frau als Beichtvater Domingo in Hamburg gar keine Idee, es ist läppisch wie die Kloschüssel, auf die Don Carlos seinen Freund Roderich, sprich Posa, drückt. Und dann pinkelt Alba auch noch hinein. Da denke ich sofort an ein Interview mit Ulrich Matthes, der bekannte, froh zu sein, dass ihn nie ein Regisseur auf der Bühne pinkeln oder kacken ließ. Matthes, letztmalig dieser Name, kommt in Berlin auf die Bühne und nach zwei Sätzen weiß man, das wird ein guter Abend. Dennoch vermeide ich gern das Wort, das dann ihn weit eher charakterisieren würde.

Es macht wenig Spaß, diese 170 Minuten zu rekapitulieren, denn die rot gewandete Eboli war beim Flamenco so wenig erotisch wie auf dem Tisch, als sie sich von König Philipp zwischen die Beine greifen lassen musste, warum sie dann in Geflügelfleisch zu beißen hatte, wissen die Götter. Der Großinquisitor, den 62 Komma 3 Prozent aller Kritiker als Auftragskiller bezeichneten, sah eher aus wie ein Bestattungsunternehmer auf Kundenfang. Irgendeine Bedrohlichkeit ging von ihm nicht aus, schon gar nicht für den König, in dessen Reich die Sonne nicht untergeht. (Fußnote: Kritiker Stefan Grund, DIE WELT, sieht ein Land, in dem die Sonne nicht untergeht als eines, in dem sie andernorts nicht aufgeht. Mein alter Logikdozent hätte sich nach einem solchen Satz wahrscheinlich mit Sprung aus dem höchsten Universitätsfenster entleibt.) Erwähnen wir, damit es nicht beleidigt ist, auch noch das Nachtkritik-Küken, das immerhin behaupten kann, nach der Premiere am wenigsten Zeit gehabt zu haben. Sie erlebte einen schillerschen Salat voller Intrigen und war verstört, weil der Abend aufrührerisch und unaufdringlich zugleich war. Dagegen kann man freilich kaum etwas machen. Das sind eben gigantische Kabinettstückchen.

Irgendwo soll da auch noch dieser Assange ein Rolle gespielt haben, las ich, die eingeblendeten Texte waren zu schnell wieder weg. Da ging es ihnen freilich wie Herrn Assange selbst, der hie und da noch durch die Nachrichten geistert. Ihn mit einer Schiller-Figur zu vergleichen, muss man wohl 1982 geboren sein oder später. Vielleicht kommt eines nahen Tages mal jemand auf die Idee, die Tele-Tubbies mit Schiller in Beziehung zu bringen, man geht halt immer von sich aus. Schon die Tatsache, dass „Don Carlos“ in Hamburg Lessing-Tage eröffnete, überfordert ganz sicher den herkommlichen Dreizehn-Jahre-Abiturienten, der als Wahlfach versehentlich statt Peking-Oper Peking-Ente bestellt hatte. Es wäre über ein Pappschild am Anfang zu reden, über eine Elisabeth mit Rotwein am Klavier. Ich wähle statt dessen den Mantel des etwas verspäteten Schweigens. Möge diese Inszenierung noch lange gespielt werden am Ort der Uraufführung 1787, also in der Hansestadt Hamburg. Man kann an ihr lernen, wenngleich nicht unbedingt, wie „Don Carlos“ zu spielen wäre.


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