Ibsen: Ein Volksfeind, Maxim-Gorki-Theater Berlin
An Jorinde Dröses WIKIPEDIA-Seite wurde zuletzt am 14. Mai 2011 um 19.50 Uhr geändert. Dabei ist der NORA (Premiere 16. Januar 2011) inzwischen längst der VOLKSFEIND gefolgt (Premiere 28. September 2012). Ich sah die Vorstellung am 3. November und war über alle Maßen froh, dass am Kupfergraben nicht mit Farbbeuteln wie am Vorabend in der Schaubühne, sondern nur mit knackfesten Steinen geworfen wurde. Auch im Gorki wird der Zuschauer einbezogen, Selbstdarsteller aus der ersten Reihe ließen sich überreden zum Probewurf auf Ronald Kukulies, der dazu aufforderte, Wut auf ihn doch gleich an ihm abzureagieren. Ein Werfer hatte eigens seinen spätachtundsechziger Schlabberpullover übergeworfen (oder war es ein frühgrüner direkt aus dem außerparlamentarischen Strickkurs), der an ihm hing wie der Sack auf dem Sünder.
Kukulies erschien, als ich wieder hinter meine sieben Berge zurückgekehrt war, als angehender Facharzt im sonntagabendlichen POLIZEIRUF 110, wo ein heutiger Klinik-Chefarzt (Walter Sittler, der im Kampf gegen Stuttgart 21 wohl nicht mehr voll ausgelastet ist) vor der Peter-Stockmann-Frage stand: Ruiniere ich meine Klinik, weil der gewinnbringende Krankenhauskeim in ihr harmlose Fälle tötet oder vertusche und vermusche ich, wie einst der Bürgermeister in Südnorwegen nach der Vorstellung Henrik Ibsens? Jorinde Dröse, geboren 1976, als unsereiner sich in Lichtenberg den Ehering überschieben ließ, hat eine Idee aus NORA abgewandelt (dort gab es einen überdimensionierten Stuhl). Sie hat ein Sofa-Monster auf die Bühne stellen lassen (Bühne: Annette Riedel), das immer dann, wenn der Dialog ohnehin ziemlich kurzweilig ist, die Kurzweil weiter verkürzt. Sämtliche Darsteller haben in verschiedenen Maßen, durchweg natürlich extrem untragisch, ihre Erklimmungsprobleme. Vorn steht das Ding so nah an der Rampe, dass es von da nicht zu besteigen ist, ohne komische Figur zu erzwingen, von den Seiten und gar von hinten ist alles noch schlimmer.
Die einer Regisseurin angemessene Grundidee der Inszenierung ist, das Ehepaar Stockmann in den Rollen zu tauschen. Der Badearzt Tomas ist jetzt die Badeärztin, und die kommandierte Gattin ist jetzt der Ehemann, nach dem gebrüllt, der im Zweifelsfalle in Entscheidungen oder vorangehende Überlegungen nicht einbezogen wird. Ein Vorhang muss zu Beginn nicht aufgehen, denn der Gattendarsteller Cornelius Schwalm liegt schon auf dem Sofa, während die ersten Zuschauer eingelassen werden. Später bereitet er als Hausmann das Mahl an einem kleinen Kochplatz, es gibt links und rechts je eine Tür, erste Reihe darf schon mal ein Möhrenstück kosten. Kapitän Horster, den Thomas Ostermeier in der Schaubühne gänzlich gestrichen hat, ist im Gorki ein Buntmützenmännlein mit Flatterbatik und Hose aus dem Flower-Power-Schrank (Philipp Haagen). Wie ein Kapitän wirkt er nie, das ist auch nicht sein Job, denn er muss vor allem Musik machen und sich falsch und blöde anlabern lassen zur Erzeugung von Zwischenlachern.
Für die Zwischenlacher sorgt weiter ein Kühlschrank, der die vielfältigsten Aktivitäten an und mit ihm ermöglicht. Man kann ihn erklimmen, man kann vergeblich versuchen, seine widerspenstige Tür zu schließen, man kann ihn mit allem Möglichen und Unmöglichen befüllen, man kann schließlich sogar selbst versuchen, sich in ihm zusammenquetschen zu lassen. Dazu eine Teppichrolle, über die freilich nicht ganz so oft gestolpert wird wie in DINNER FOR ONE. Komischerweise hilft alles nichts gegen die Urlängen, für die der Exil-Norweger Ibsen einst von Rom aus selbst sorgte. Das betrifft vor allem den vierten Akt (im Gorki nach einer Pause, die es am Kurfürstendamm nicht gab). Die ahnungslosen Zuschauer warteten, in ihre Reihen gelassen zu werden, als Frau Doktor Stockmann und die anderen Darsteller von oben herab schritten, mit Mikro in der Hand, das nicht gleich perfekt funktionieren wollte.
Jorinde Dröse hat die Versammlungsleiterbestimmung nicht gestrichen, dafür lässt sie zu weiten Teilen statt des Ibsen-Textes Gudrun Ensslin vortragen. Dass genau dieser Text an genau dieser Stelle merkwürdig unfremd wirkt, sieht man einmal von der nun allerdings arg bemoosten These ab, alles Unglück der Welt käme von den MÄNNERN, ist für mich die ideelle Überraschung des Abends. Die Rede selbst hörte ich von weiter oben auf den Treppenstufen, sie wurde per Lautsprecher übertragen, weil natürlich der vermeintlich bessere Vortragsort Foyer von der puren Platzkapazität her eben nicht der bessere Ort ist. Diese Tirade wirkt wie alle Tiraden. Ibsen muss das gewollt haben. Auch wenn er nach früheren Selbstaussagen, sich mit seinem Stockmann bestens zu verstehen, Jahre später etwas unwirsch einen journalistischen Frager zurechtwies, es handle sich im Figurensicht, nicht um seine.
Dass in diesem VOLKSFEIND die titelkonstituierende Passage nicht Strichfassungsopfer ist, sei lobend erwähnt, man kann Verunsicherung des Publikums an anderen Stellen akzentuieren. Dass in dieser Fassung die kritische Sicht auf Journalismus und Journalisten ein wesentlich stärkere Rolle spielt als bei Ostermeier, will ich ebenfalls ausdrücklich loben. Denn man quetscht aus diesem Ibsen nicht zwangsweise neuen Saft mit Redetext-Implantaten im vierten Akt, man kann auch den Text selbst hernehmen, um Spielart aus ihm zu gewinnen. Das Headline-Ping-Pong zu Beginn ist in dieser Hinsicht herrlich, wobei im Gorki wie in der Schaubühne und letztens in Meiningen der Billing immer die dankbarere Rolle ist gegenüber dem Hovstad. Matti Krause nutzt die Billing-Chance zupackend, wobei Albrecht Abraham Schuchs Hovstad trotzdem nicht weit abfällt in der Farbigkeit. Die freundlich nicht gestrichene Petra (Julischka Eichel) erspielt sich Szenenapplaus und das mehr als verdient. Sie ist phasenweise wie entfesselt (nach Übergabe des von der Mutter sehnlichst erwarteten Briefes von der Universität, der die Messdaten der Vergiftung in Wasser und Boden bestätigt).
Andreas Leupold ist Schwiegervater Morten Kiil, der Gerbermeister, der aussieht wie ein Küstenfischer in Seenotrüstung oder auf dem Weg zum Innereien-Entfernen, Gunnar Teuber macht einen stimmigen Aslaksen, dem nicht einmal der Mäßigkeitsverein genommen wurde. Bleibt Sabine Waibel als Frau Doktor Stockmann. Dass sie Ärztin ist, glaubt man ihr. Dass sie die Standard-Gestik und -Mimik aller amerikanischen Vor- und Hauptabendserien allzu emsig einsetzt, verüble ich ihr. Man muss nicht, wenn man erstaunt zweifelt, immer den Kopf nach schräg vorn fallen lassen bei gleichzeitiger Hebung beider Hände mit einem gestreckten Finger. Das ewige Nicken und Nicken bei jedem gesprochenen Satz nervt, ich wiederhole mich natürlich, weil es sich allüberall wiederholt, es steht eben die Generation Sitcom auf den Bühnen zwischen Bodensee und Flensburg.
Jorinde Dröse hält den Schluss offen, Sabine Waibel saust wortlos über die Nachpausenbühne, geht ab und zu in die Knie und kritzelt etwas auf den Boden, während die eben noch wild entschlossene Petra offenbar der Willigkeit ihres Fleisches verfällt und die höheren Gesichtspunkte zum Boxenstopp schickt. Ein ordentlicher Satz Aktien mit Performance-Aussichten, möchte man glauben, zieht allemal mehr als der Welthass einer Terroristin, die offenbar tief in jener Badeärztin steckt, deren Rücksichtslosigkeit weit über die eigene Familie hinausreicht. Meine Szene auf Platz 1: die Auseinandersetzung zwischen Junglehrerin Petra und Redakteur Hovstad. Die verweigerte Übersetzung für den „Volksboten“ ist im Gorki ein französischer Text, bei Schaubühnens war es ein Konzerntext über Nachhaltigkeit, jeweils als Kontrast zu den vermeintlichen Grundüberzeugungen des Redakteurs. Ich will mal vermuten, dass eine bei Offenlegung der Realien die Grundfesten unserer gehätschelten Vorstellungen von tatsächlicher Pressefreiheit (sprich: -unabhängigkeit) erschütternde Mehrheit von realen Journalisten mit den Schultern zucken würde, obwohl sie selbst davon die heftigste Selbsttäuschung am innigsten pflegen. Noch der letzte Spaltenfüller für ein Anzeigenblatt sieht sich selbst mit Vorliebe als vierte Gewalt im Staate.
Seit Camus rutschen die Begrifflichkeiten von Revolte und Revolution durcheinander, der Salon-Bürgerschreck mit eingebauter Drastik-Garantie ist eine Lieblings-Figur aller Vernissagen-Dauergäste. Falls die reale dumme Mehrheit dann doch einmal einen aus der Politkomiker-Zunft wählt und der muss dann im Umweltausschuss plötzlich nicht über sterbende Eis- oder Pandabären salbadern, sondern die Müllgebührenkalkulation nachrechnen, dann ist das obere Ende der Fahnenstange schon unter der Griffmarke erreicht. Auf dem Weg zur S-Bahn via Charlottenburg überholte ich eine Dame in Begleitung dreier weiterer Personen. Sie dozierte eben alphaweiblich: „Erst fand ichs witzig, dann klamaukig, dann wieder stark.“ Es widersprach ihr niemand. Auf die nächste Jorinde Dröse bin ich neugierig, den nächsten Thomas Ostermeier werde ich mir nicht zwangsläufig auf den Gabentisch packen.
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