Horvath: Kasimir und Karoline, Bühnen der Stadt Gera
„Allerdings hat die Sache mit dem Dichterlob einen Haken. Denn für was lobt man denn gemeinhin die Dichter? Doch dafür, dass sie - kurz gesagt – aus Schmerz Genuss machen, aus Schrecken Schönheit.“ Das hat einst Peter Hamm niedergeschrieben, mein Geburtstagsvetter, und er hat sich nicht ausdrücklich auf Ödön von Horvath bezogen. Den aber muss man zuerst loben, ehe man an die Aufführung geht, die ein Theater aus seiner Vorlage gemacht hat. „Kasimir und Karoline“ ist ein wunderbares Stück. Ein Stoff, aus dem Bühnenträume gemacht sein können. Das die Vermutung weckt, selbst dröge Regie und schwache Spieler könnten dieses Volksstück mit Musik nicht gänzlich in die Knie zwingen. Das immer wieder mitten im Reden der Personen plötzlich abgrundtiefe Sätze enthält. Man könnte von der Sprache der Sprachlosen schreiben, die Horvath auf die Bühne brachte wie Josph Roth in manche seiner Romane vor 1930. Es war da was mit Neuer Sachlichkeit nach altem Expressionismus. Wen letztlich schert das aber, wenn er bemerkt, wie rechts und links im Parkett verschämt Tränen gewischt werden?
Bernhard Stengele hat für die Bühnen der Stadt Gera (Premiere war am 12. Oktober) die allerletzte der 117 meist sehr kurzen Szenen Horvaths gestrichen. Bei ihm kommt nach dem final herzzerreißenden „Solange wir uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern.“ der Erna (Katharina Weithaler) nur noch: „Du Erna – Was? - Nichts.“ Bei Horvath folgt Stille, in Gera geht das Licht aus und der Beifall stellt sich erst zögerlich gegen die Betroffenheit. Man könnte sich an Beckett erinnert fühlen, wäre der Dialog so, aber er ist anders. Horvath hat dem Volk in München aufs Maul geschaut und dennoch stilisiert. Die schwer beschreibbare Art, wie er das macht, hat Anne Diemer, die Karoline, so gut getroffen, dass ich meinen möchte, genau so nur ist das zu spielen. Denn Absurdität des Alltags heißt eben auch Absurdität, nicht nur Alltag.
Auch sonst hat die Regie gestrichen. Vor allem die Musik, die im Stücktext genau benannt ist. Sie wäre heute nicht einmal Spezialisten vertraut. Dafür beginnt die bärtige Juanita (Vanessa Rose) mit der bis auf weiteres unausrottbaren und unverwüstlichen „Jugendliebe“ von Ute Freudenberg, die wiederum wohl in München wenig bedeuten würde, wie auch die meisten der späteren Musikstücke aus DDR-Reperoire, die zum Einsatz kommen. Verbindend gesamtdeutsch: „Jaja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“ von Geier Sturzflug. Immer wenn einer der Darsteller das Wort „abgebaut“ sagt, beginnen alle auf der sparsam, aber sinnvoll dekorierten Bühne (Marianne Hollenstein) wie ein lebendes Orchestrion sich zu bewegen und den Hit von 1979 und danach zu singen. Philipp Reinheimer, der Kasimir, steht später, kurz vor der Pause, vor dem roten Vorhang und deutet zart, zart „acoustic“ Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ an mit Gitarre und deutschsprachigem Text. Auf einmal bekommt die Leiter in der Bühnenmitte einen völlig neuen Sinn.
Und plötzlich ist ein Punkt erreicht, der keine Distanz mehr erlaubt, mir jedenfalls, ich bin bestochen. Jetzt könnte auf der Bühne geschehen, was wolle. Tut es natürlich nicht. Diese Geschichte vom Paar Kasimir und Karoline, die zum Oktoberfest gehen zu einer Zeit, als dort noch Missbildungen und Abnormitäten ausgestellt werden durften, also vor langer Zeit, da ein Riesenrad und eine Achterbahn noch die Attraktionen waren und oben der Zeppelin gesichtet wurde auf dem Weg nach Oberammergau und wieder von dort zurückkommend, läuft ab fast wie eine antike Schicksalstragödie. In die Chauffeure und Büromädchen, ein Zuschneider und ein Strizzi mit Zuchthäuslerin natürlich keineswegs passen. Und dennoch sind eben sie das Personal. Das macht das Besondere Horvaths. Man ahnt, was sie meinen, wenn sie sprechen, ihre sprachliche Identität besteht darin, dass sie keine haben. Und genau das führt dazu, dass man heulen möchte wie sieben Schlosshunde, wenn Karoline sagt, es ist Szene 114 bei Horvath: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wäre man nie dabei gewesen -“. Um das nicht annähernd so prägnant auszudrücken, brauchen Philosophen ganze Bücher.
Aus dem Leben von Menschen zu erzählen, über die das Leben hinweg, an denen das Leben vorbei geht, die keine Spur hinterlassen, die nicht einmal ahnen, wie sie eine hinterlassen könnten, das ist die Sache des Österreichers Ödon von Horvath, den 1938 ein Baumast erschlug in Paris. Mir fällt niemand ein auf Anhieb, der das so konnte, außer, in Prosa, Joseph Roth und Irmgard Keun. Das Stück könnte ganz ohne Aktualisierungen auskommen (Ausnahme Musik, schon erwähnt). Wenn die Geraer Fassung dennoch welche einbaute, dann waren das nicht durchweg die glücklichsten Stellen der Aufführung. Man muss nicht, nur weil eine Figur im Stück der Merkl Franz ist, „Frau Merkel“ verfluchen. Man kann aber sehr wohl das hübsche Detail, dass ein österreichisch-ungarischer Autor in einem während des Münchner Oktoberfestes spielenden Stück die Stadt Erfurt erwähnt, ausschlachten. Das geschah bis zu dem Gag, wie gut es sei, dass die Landeshauptstadt zwar eine Oper, aber kein Schauspiel besitze. Frohes Geraer Lachen antwortete. Obwohl man dort auch schon mit Altenburg verbandelt ist.
Bei Horvath stammt der Fabrikant Rauch aus Weiden in der Oberpfalz, sein Freund Speer ist der, der aus Erfurt kommt. Da dessen Rolle komplett gestrichen wurde, nimmt Ulrich Milde als Kommerzienrat Konrad Rauch die Freundeselemente aus Thüringen in sich auf. Er möchte gern mit Karoline, seine Gesundheit spielt ihm einen Streich. Karoline setzt sich arglos vorher die Lederkappe auf für die Fahrt im Cabrio und am Ende ist alles, als gäbe es doch etwas Hoffnung in aller Hoffnungslosigkeit. Der Zuschneider Schürzinger (Bruno Beeke) steht neben Karoline, dem Merkl Franz seine Erna steht neben Kasimir, der Merkl Franz selbst (Manuel Struffolino) ist beim Klauen erwischt worden und wird mit seiner Tuberkulose wohl die Haftjahre, die auf ihn warten, nicht überstehen.
Die Bühnen der Stadt Gera haben, weil es eben schlecht geht, ein Stück Oktoberfest ohne Oktoberfestbesucher zu präsentieren (fast alle Theater setzen fast alle Nebenrollen, nicht zu reden von Statistenrollen, auf die Streich-Agenda), die gute Idee gehabt, Langzeitarbeitslose als Statisten zu besetzen. Die tun das mit Engagement und verhelfen dem riesigen Spielraum, der weit, weit nach hinten reicht, zu weniger Leere. Es ist ständig Bewegung auf der Bühne, es fehlt nicht an Drastik und Vordergründigkeit, gerade wenn Nora Undine Jahr und Mechthild Scrobanita ihren Part spielen und alles bleibt stimmig. Die zahlreichen kleinen und größeren Einfälle (Katharina Weithaler bückt sich, um eine Ohrfeige zu empfangen, denn Manuel Struffolino ist erheblich kleiner; Anne Diemer und Bruno Beeke reden aus dem zweiten Rang über das Parkett hinweg miteinander; Philipp Reinheimer nähert sich Anne Diemer mit einer riesigen Plastikflasche, um Verzeihung zu erlangen) haben ihren Charme, ihren Humor sowieso und bei allem bleibt Horvath Horvath. Kaum vorzustellen, was der noch alles hätte schreiben können, wenn er nicht so früh dem Zufall zum Opfer gefallen wäre, von dem Lessing in EMILIA GALOTTI die Gräfin Orsina glauben lässt, er sei Gotteslästerung.
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