Lessing: Emilia Galotti, Nationaltheater Weimar

Gesetzt, der Direktor des Pariser Louvre käme auf die Idee, er hätte in seinem Hause nun lange genug die immer und ewig rätselhaft grinsende Mona Lisa gezeigt, die immer und ewig dämlich grinsenden Japaner, die längst Chinesen sind, sich gegenseitig vor nämlicher Mona Lisa belichten gesehen, er müsse deshalb endlich mal etwas GANZ ANDERES machen, was täte er? Was könnte er tun? Er könnte für den Anfang die Mona Lisa verkehrt herum aufhängen, er könnte dann die untere Hälfte des Bildes abdecken. Er könnte auf die abgedeckte Fläche ein paar Comic-Abziehbilder aus dem Geburtsjahr seiner Schwiegermutter kleben, vom Band Musik aus dem Sterbejahr seiner Großtante Marie-Claire laufen lassen und über dem Bild ließe er eine brustamputierte nackte Rentnerin auf einem Trapez schaukeln und alle 13 Minuten 4 Sekunden (nach Stoppuhr) „Fuck Leonardo“ rufen. Was wäre das für eine Performance! Vermutlich müssten alle Heilanstalten ihren an eigener Originalität irre geworden Insassen Freigang gewähren, damit immer genug Blödiane an der Louvrekasse eine Schlange bilden könnten.

Nachdem ich nun einen Absatz lang den Namen Lessing gemieden habe, will ich gestehen, dass ich in Reihe 8 auf Platz 15 eben begonnen hatte, die Weisheit der Regie deswegen zu loben, diese „Emilia Galotti“ ohne Pause zu zeigen, weil eine Pause sicher zur Massenflucht des Publikums verleitet hätte nach dem Alptraum der ersten Stunde. Als tatsächlich die ersten unter murmelndem Protest den Saal verließen, waren kaum 20 Minuten vorbei. Hinten blökte jemand „Frechheit!“, später erschien einer der Gegangenen noch einmal, flüsterte mit einer Gebliebenen, die wiederum später mit weiteren Sitznachbarn das Non-Ereignis verließ. Gut, dass ich erst anschließend las, bei Thirza Bruncken handele es sich um eine Star- und Skandalregisseurin aus Bonn. So durfte ich mich erst zu Hause darüber wundern, was heute so als Star und Skandal auf die Bühne geschickt wird. Ich vermute, dass die Dame in jüngeren Jahren einmal einen Lehrfilm „Werner Schroeter lässt  EMILIA GALOTTI von der Bühnenrampe leiern und erfindet den Textschnelldurchlauf“ gesehen hat.

Was anderen ein heilsames Erlebnis gewesen wäre, löste bei ihr eine Kreativzündung aus. Man kann EMILIA GALOTTI, dieses komische uralte Stück  von diesem komischen uralten und längst toten Gotthold, in dem ein dämlicher Trottel von Vater seine notgeile und dies sich nicht eingestehende Tochter absticht, weil er deren Wunsch nach eben diesem Tod angesichts der drohenden Entehrung versteht, so was also kann man doch nicht ernsthaft inszenieren, es sei denn Elfriede, die jecke Jelinek, hätte danach eine Textfläche zu beliebigem Gebrauch aus sich gepresst. Das Ergebnis solcher oder ähnlicher Überlegungen scheint in Weimar jetzt auf der Bühne zu stehen. Sowohl der Name des Stückautors, der genannte Lessing, als auch der Name des Stückes, eben EMILIA GALOTTI, sind von der Stiftung Stücketest leicht als Falschetikettierung zu entlarven. Dies sei hiermit dem Ministerium für Theaterverbraucherschutz gemeldet. Regie-Ideen gibt es natürlich trotzdem.

Die Handlung wird aus anno dunnemals in Italien nach Bayern in den fünfziger Jahren verlegt. Man sieht eine hässliche Straße mit Straßenschildern, die nach Ingolstadt und Landshut weisen (Fototapete plus Pappkulisse mit Fototapete), alles drehbar. Man sieht zwei alte hässliche Autos mit Münchner Kennzeichen. Man sieht Personen, die irgendwie angezogen sind. Man sieht ein Sofa, auf dem die irgendwie angezogenen Personen, wenn das Licht ausgeht, aufstehen, rausrennen, dann wiederkommen und sich in anderer Ordnung hinsetzen. Jeder darf einmal einen größeren Textfetzen, der von beliebigen Stellen des Urtextes entnommen, beliebig verquirlt und gemixt wurde, höllenschnell vor sich hin brüllen. Manchmal dürfen manche Darsteller, bisweilen eine Mehrheit von ihnen, nach vorne hopsen, etwas sagen und dann wieder nach hinten hopsen. Es gibt Tanzeinlagen. Das Wort Darsteller ist in diesem speziellen Regie-Zusammenhang ein Euphemismus, denn darstellen dürfen sie nichts, dies hätte ja eine Rollenauffassung vorausgesetzt und die wiederum eine Stückauffassung und das wäre für eine echte Star- und Skandalregisseurin wahrscheinlich eine derart unfassbare Zumutung geworden, dass sie lieber La Paloma geblasen hätte auf einem Alphorn.

Über Lessing und das Stück angesichts dieser Inszenierung etwas zu sagen, wäre Unsinn, mit Lessing hatte das alles ungefähr soviel zu tun wie die Rohfassung von „Alle meine Entchen“ mit der „Todesfuge“ von Paul Celan. Über die Leistung der Schauspieler wäre zu sagen, dass sie viele komische Situationen produzierten, die Lacher erzeugten. Je weniger diese komischen Situationen mit dem Stück zu tun hatten, um so herzlicher lachten die jüngeren Zuschauer. Vielleicht wäre RTL Samstagnacht, die leider verstorbene erste und Urmutter aller Comedy, ein halbwegs geeigneter Rahmen für diesen Performance-Salat mit verdünntem Lessing-Dressing gewesen. Zu beneiden war vor allem Markus Fennert, der laut Programmheft die Rolle des Grafen Appiani „verkörperte“. Er musste nur einmal am Schnellbrüllen teilnehmen und durfte sich danach gefühlte dreißig mal erschießen lassen. Immer wenn er sich regte oder gar aufstand, knallte ihn Michael Wächter (Marinelli) wieder über den Haufen. In der Schlange an der Garderobe sagte eine Frau zu ihrer Begleiterin: „Durch das ewige Schießen bin ich nicht eingeschlafen.“ „Außerdem“, sagte eine andere Frau zu ihrem Begleiter schon an der frischen Luft, „haben die seit zwei Jahren immer diese Kostüme aus den sechziger Jahren, ich weiß auch nicht, was das soll.“

Nach der Stimme des Premierenvolkes zurück zur Bühne, auf der eine Telefonzelle benutzt wurde, damit die monotonen Satzkaskaden mal anders klangen. Auch aus einem der beiden alten Wagen wurde per Mikro gesprochen. Zu den Gags des Abends gehörte ein hübsches Tieffliegergeräusch, dass den gesamten Text verschluckte, man sah nur die Münder sich bewegen. Links vorn ein Doppelbett für Kissenschlachten und den Orsina-Monolog (Felicitas Brest), das war gegen Ende fast noch wirklicher Lessing, muss also versehentlich untergerutscht sein. Szenenapplaus gab es trotzdem, denn was die Schauspieler teilweise taten, war aller Ehren wert: Akrobatenkunststücke mit an der Hüfte hängender Frau etwa oder am Ende ein natürlich auf englisch gesungenes Lied von Jeanne Devos, von der ich nicht behaupten würde, dass sie Emilia war. Ebenso wenig wie Johannes Schmidt ihr Vater, Petra Hartung ihre Mutter oder Hagen Ritschel der Prinz von Guastalla. Der schon erwähnte Michael Wächter wütete einen PANIK-Text heraus, der, weil im Programm dem Rowohlt-Verlag gedankt wird für Brinkmann-Rechte, wohl von Rolf Dieter Brinkmann stammt. Was wiederum als Fingerzeig reicht, aus welcher länger als Lessing vergangenen (dies war ein Paradox) Avantgarde-Epoche dieses Spektakel seinen Honig saugte.

Falls den Blackfacing-Experten der Empörungsvorrat über geschwärzte Othello-Gesichter in Berliner und anderen Theatern ausgeht, könnten sie, Empfehlung, einen neuen Gegenstand dort suchen, wo Regisseuren und ihren Doubles bei Italien immer Mafia einfällt und den Darstellern sofort Sonnenbrillen aufgesetzt werden. Die Stadt Weimar ist nicht groß genug, mit Freak-Shows dauerhaft ihr Großes Haus mit Goethe und Schiller davor zu füllen. Doch selbst als Freak-Show ist dieser angebliche Lessing nur mit dem Haltbarkeitsstempel des Spielabends selbst zu versehen. Wer sich gern ärgert über vertrödelte Lebenszeit, sollte Thirza Brunckens EMILIA GALOTTI komplett durchhalten. Ein Blick in den Dramentext selbst ist, nebenbei gesagt, natürlich nahrhafter. Das Bedauerlichste des Abends sei zum Schluss vermerkt: der weiße Hund hatte keinen Text und keinen Ort auf der Bühne, wo er sein Bein heben durfte. Dafür verbeugten sich die Schauspieler nach etwa fünfzig Minuten schon einmal probehalber.
   www.nationaltheater-weimar.de


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