Lessing: Nathan der Weise, Landestheater Coburg
Wer das Interview der Theaterzeitung mit Regisseur Stefan Behrendt vorher gelesen hatte, konnte angesichts des Schlusses auf der Bühne nicht erstaunt sein. Bei Lessing steht: „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“ In Coburg fällt nicht nur der nicht vorhandene Vorhang nicht, es gibt auch keine Umarmungen, weder allseitige noch einseitige. Alle sind erstaunt bis fassungslos über die Lösung, die eben nur aussieht, als sei sie ein Happy End. Die substantiellen Abweichungen von Lessing sind damit aber bereits vollständig benannt. Der Regisseur, der in Coburg seine inzwischen sechste Arbeit abliefert, hat sich zum ersten Mal einen der ganz großen Klassiker vorgenommen. Mit böser Zunge ließe sich sagen: Risiko hat er vermieden. Zutreffender ist jedoch ohne jeden Zweifel: Er hat Lessing den Respekt erwiesen, der gut ist und gut tut.
Die Strichfassung ist akzeptabel, sprachliche Modernisierung allenfalls punktuell. Wobei mir schien, als sei bei den Frauen und bei allem, was Frauen betrifft, der Rotstift heftiger zum Einsatz gekommen als andernorts. Die Darsteller haben den Text nicht nur angenommen, sie waren ihm gewachsen. Keine Hänger, kaum ein Versprecher, Verfall in pure Deklamation nie eine Gefahr. Das sparsame Bühnenbild (Ann Heine)besteht aus einer hölzernen Mauer-Attrappe, die keineswegs zufällig an die Klagemauer in Jerusalem erinnert, wo das dramatische Gedicht in fünf Aufzügen, wie Lessing es nannte, ja spielt. Mittels Drehbühne ist die Mauer einmal mehr im Hintergrund, einmal mehr im Vordergrund, auf jeder Seite stehen ein paar Sitzgelegenheiten, darunter auch ein ganz gewöhnlicher weißer Plastik-Gartenstuhl. Die Darsteller harren auf diesen Stühlen ihres Einsatzes, wenn der in der betreffenden Szene ansteht, sie sitzen, ohne zu spielen.
Nur Thomas Straus muss zwei Rollen ausfüllen, er ist der Klosterbruder, der sich am Ende als Besitzer eines Buches offenbart, das alle Geheimnisse des Herkommens der jungen Hauptpersonen Recha und Tempelherr auflöst. Er ist der Patriarch von Jerusalem, der den Satz des Abends sagen darf, der zum einzigen Aufreger für das Premierenpublikum wurde: „Denn ist nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? - Zu sagen: - ausgenommen, was die Kirch' an Kindern tut.“ Fast unhörbar blieb dagegen der fränkische Schnaufer in der sechsten Reihe, als Recha Sittah, der Schwester des Sultans, das Tun von Daja erläutert: „Ist eine Christin; - muß aus Liebe quälen; -“. Bei Lessing, das lässt sich nicht beschönigen, kommt von den drei monotheistischen Religionen, die er die positiven nennt, in diesem Drama die christliche am schlechtesten weg. Das hat ganz sicher mit seinem Streit mit dem Pastor Goeze zu tun, muss den Theaterzuschauer aber nicht zwingend näher interessieren.
Was ihn in Coburg jedoch fast zwangsweise zu interessieren hat, ist die Leistung von Kerstin Hänel an diesem Abend. Sie ist Daja. Wenn sie aus Liebe qält, dann quält sie vor allem sich und das bedeutet eben nicht, dass sie sich selbst am meisten liebt. Sie will nach Europa zurück, sie hadert mit ihrer Rolle als Christin im jüdischen Hause von Nathan, dem sie unendlich viel verdankt, der ihr jedoch die Identität nicht genommen hat. Kerstin Hänel sah ich noch nie so gut wie in dieser Rolle, sie spielte buchstäblich von der Fußspitze bis zum Haaransatz, nie sah eine Geste geborgt, eine Bewegung wie Alibi aus. Sie lotete ihren Text aus, wenn dieser Satz fürs Phrasenschwein erlaubt ist. Und doch bestand keine Gefahr, dass sie ihre jeweiligen Dialog- und Spielpartner an die Wand drückte, das will nicht wenig bedeuten.
Das dramatische Gedicht wird gern als Thesenstück bezeichnet. Der Begriff ist auf jeden Fall irreführend, wenn er pejorativ gemeint ist. Denn der Umstand, dass Lessing ganze Batterien von zitierwürdigen Sätzen, von Wahrheiten, Weisheiten sprechen lässt, besagt ja zunächst nur, dass in seinem Personal nicht nur der Titelheld ein philosophischer Kopf ist. Wie klug ist allein Sittah, die Schwester Saladins (Sandrina Nitschke), Saladin selbst (Stephan Mertl), auch der Tempelherr (Sönke Schnitzer) redet bei aller Hitzköpfigkeit, bei aller Voreingenommenheit keinesfalls ritterliches Blech. Vom Juden Nathan nicht zu sprechen, den sie den Weisen nennen (Helmut Jakobi). Bei dieser Dichte und Tiefe gedanklicher Substanz, die der Autor seinen Figuren mit auf die Bühne gibt, ist es fast unvermeidlich, dass tragende Stellen überhört werden. Zum Vorwurf darf man das dem Stück selbstredend nicht machen. Schon Lichtenberg wusste, dass, wenn Kopf und Buch zusammenstoßen und es hohl klingt, nicht automatisch das Buch die Ursache ist.
Die Geschichte ist mit allem gewürzt, was Dramatik ausmachen kann, es gibt Liebe, es gibt Missverständnisse, es gibt Geheimnisse, es gibt Gegenspieler auf Augenhöhe, auch wenn das Gegenspiel nur dialogisch ist. Und das vielleicht verblüffendste: der bald zweieinhalb Jahrhunderte alte Text ist aktuell, sogar an Stellen, die für den Gang des Geschehen so nebensächlich sind, dass in Coburg auf sie verzichtet wurde. Die Gefahrenlage im Libanon etwa. Wäre sie erwähnt worden, hätte es geklungen wie billige Aktualisierung. Alles, was zum Thema der drei großen Religionen gesagt wird, wird in heutigen Debatten kaum eingeholt, weil, ein mehr als kurioses Ergebnis der von Lessing intendierten und angeschobenen Entwicklung, in der Sache der Mut verloren ging, den der Aufklärer noch hatte, obwohl die Zeiten schwieriger waren für Wahrheiten auf diesem Feld.
Als 1966 Wolfgang Heinz im Interview darauf hinwies, dass „Nathan der Weise“ eben keine zeitlose Predigt für Toleranz sei, wie das scheinbar von der Ringparabel nahe gelegt würde, nannte er zur Begründung die Zwangssituation für Nathan, aus der er sich mit der Geschichte von den drei sich völlig gleichenden Opalringen herauswindet. In Coburg wurde eine einfache und überzeugende Lösung gefunden, genau diese Situation sichtbar zu machen. Der Sultan schnipst mit dem Finger und Nathan steht im Blendlicht eines Scheinwerfers wie der Verhörte in der Vernehmung auf der ersten Stufe der Bedrohung. Hätte Helmut Jakobi nicht hier und noch mehr später, als er die Geschichte der Ausrottung seiner Familie durch Christen erzählt, den markanten Monoton durchbrochen, in dem er sonst seinen Text hielt, dann wäre ihm wenig Beifall zu zollen gewesen trotz kultivierten Textvortrags. Viel Spielraum ließ sich auch Stephan Mertl als Sultan nicht, während Sandrina Nitschke als Sittah wohl mit einem Bogen hantierte wie Göttin Diana in noch älteren Zeiten, die reduzierte Rollenauffassung der Regie jedoch nicht aufzuheben versuchte, was mit dem verbliebenen Text möglich gewesen wäre. Bei Lessing ist sie es, die den Sultan Sultan sein lässt, ihr Schachspiel mit ihm ist in Coburg kaum mehr als Nebensatz zu Szenenbeginn. Mathias Renneisen als Derwisch und Schatzmeister geht ihr dabei zur Hand.
Das Liebespaar, das zum Geschwisterpaar wird, spielen Philippine Pachl und Sönke Schnitzer. Sie waren zuletzt Nick und Honey in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Schnitzer hatte, was in den kommenden Aufführungen sicher korrigierbar ist, deutlich zu viel Lautstärke an zu vielen Stellen. Die plötzlichen Ausbrüche müssen nicht immer Ausbrüche ins Gebrüll sein, zumal der Zuschauer, wenn er den Text Lessings nicht gut kennt und nicht mit großer Aufmerksamkeit auch auf der Bühne registriert, was man in alten Zeiten die verausdeutenden Zeichen nannte, gute Dramaturgie verzichtet auf dieses Mittel selten, einfach nicht versteht, warum der junge Tempelherr plötzlich so aus der Haut fährt, plötzlich so gegen Nathan wütet. Er rennt im Laufe des Abends viele Runden, ohne dass sich der Sinn des Rennens erkennen lässt. Bühnenrundrennen scheinen freilich, ich sah es mindestens schon dreimal in unterschiedlichen Stücken, derzeit ein wenig in Mode.
Philippine Pachl steht zu Beginn mit dem Rücken gegen das Publikum an der Holzmauer und malt mit Kreide einen Engel. Sie legt ihr Gesicht an das weiße Bild, sie berührt Augen und Lippen des Bildes (und hinterläßt auf Nathans Jacke weiße Spuren). Sie hat damit alles gesagt, bevor sie überhaupt etwas gesagt hat. Ihre Recha überzeugt dennoch bis zum Schluss ohne Vorhang. Wäre die Liebe zum Geliebten nahtlos in Liebe zum Bruder umgeschlagen, hätte der Zweifel Lessing treffen müssen, der ja auch mit dem Buch in persischer Schrift, die der türkische Sultan auf Anhieb lesen kann, eher in die kleine Trickkiste als zu größter Dramaturgie gegriffen hat. Stefan Behrendts siebenter Versuch zu Füßen der Veste Coburg darf ruhig wieder ein Klassiker sein.
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