Tschechow: Onkel Wanja, Nationaltheater Weimar

„Onkel Wanja“ als Text: Was für ein wunderbares Werk, man muss nichts hinzufügen, nichts weglassen, nichts erklären. Es ist eine Inselsituation mit begrenzter Mitspielerzahl, wie sie unzählige Male erprobt wurde, es passiert wenig bis nichts, zwei Fehlschüsse sind Höhepunkt an Aktion. Es ist das Übliche an Adelsnest-Dramaturgie in bürgerlicher Spielart, Gorki hat in frühen Werken von eben diesem Tschechow viel gelernt. Kritiker sind es, die sich angesichts der unendlich vielen Inszenierungen schon langweilen und meinen, Tschechow sei ausgelutscht, die Langeweile der Kritiker aber ist keine Stellvertreter-Langeweile, es ist ihre eigene und nur ihre eigene. Schon die ersten Lacher in dieser Premiere beweisen, dass auch in der an Selbstbewusstsein arrogant gewordenen Klassikerstadt hinreichend viele Menschen lachen, wenn nur von Saufen und Alkohol die Rede ist auf der Schaubühne, nicht als moralische Anstalt betrachtet.

Das Programmheft enthält zwei Textbrocken der früh verstorbenen Theresia Birkenhauer (1955- 2006). Ich habe selten größeren fahrlässigen Unfug über Tschechow im allgemeinen und „Onkel Wanja“ im besonderen gelesen. Die schlecht aufgequirlte Existenzialismus-Melange rund um den Zeit-Begriff, in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts las man das in jedem besseren Blatt für die gebildeten Stände bis zum Erbrechen, hat wohl mit der Enthistorisierung Tschechows viel, mit Tschechow selbst aber wenig bis nichts zu tun. Die Zeiterfahrungen seiner Figuren interessierten Tschechow in dem von Birkenhauer drittverwertend gemeinten Sinne nicht die Bohne, wohl aber die Welterfahrungen und wenn es die Welt im Wasserglase des Landguts dieses komischen Professors Serebrjakow war.

Das Weimarer Publikum kann sich glücklich schätzen, dass Corinna von Rad (Jahrgang 1971) in ihrer dritten Arbeit für das Nationaltheater nicht einmal ansatzweise der Versuchung unterlag, den Zeitmodi-Quark der Theaterwissenschaftlerin Birkenhauer auf die Bühne zu wuchten. Ihre Regie hat immerhin den Ehrgeiz, Tschechow auch drin sein zu lassen, wo Tschechow draufsteht. Das ist nicht verlustlos gelungen. Der Onkel Wanja (Martin Butzke) selbst wurde verkleinert, vergröbert, verjüngt. Dass er in Weimar nicht von sich behauptet, er hätte mit etwas anderer Lebensführung ein Dostojewski oder ein Schopenhauer werden können wie im Originaltext bei Tschechow, macht Sinn. Diesem unrasierten Bademantel-Laberer und Suffkopp nimmt man eben den intellektuellen Zyniker schlicht nicht ab, ein Räsonneur auf dem hohem Niveau des tapfer ignorierten Selbstmitleids hängt nicht wie ein Bahnhofspenner auf der Sitzbank, wenn er wirklich von Tschechow wäre.

Dieser Professor Serebrjakow (Thomas Büchel), weinerlich-jammervoller Hypochonder im Erscheinungsbild einer Mischung aus MDR-Escher und ZDF-Knopp ist nie im Leben 60 Jahre alt und Person, die man als Gegner ernst nehmen muss. Dass die anderen an seinen Lippen hingen, die Frauen sich ihm mehr oder minder stracks an den Hals warfen, vollkommen unglaublich. Und Jelena Andrejewna, 27 Jahre alt, das geht, mit diesem ewigen Schlitzkleid, mit diesen ewigen fahrig-unkontrollierten Gesten der Verlegenheit, wie oft streicht sie sich die Haare zurück, wie oft greift sie nach Schuhschnallen und fummelt irgendwo an sich und steht generell krumm, als hätte sie ein Problem mit der eigenen Länge, was soll das? Caroline Dietrich ähnelte als Jelena frappierend der Hermione in Shakespeares „Wintermärchen“ mit ihrer sichtbaren Unsicherheit der Rolle gegenüber. Die nächste Rollenauffassung in dieser Art müsste dann langsam stutzig machen.

Wenig Lust, einfach gerade zu stehen, hat auch Michael Wächter als Arzt Astrow. Er gibt das wandelnde Fragezeichen. Das ist, Tschechow war selbst Arzt, für die zeitmodiferne Botschaft des Stückes wahrscheinlich die Kernrolle des Spiels. Wächter wirkt, was ihm nicht vorzuwerfen ist, zu jung für diesen im Suff seine besten Operationen vollbringenden Landarzt. Dass er im Originaltext und auch in Weimar als früher Grüner erscheint, hätte peinlichste Aktualisierungen zeitigen können, Corinna von Rad sei gedankt, dass sie auch dieser Versuchung wahrscheinlich keinen halben Gedanken gewidmet hat. Im Publikum jedenfalls murmelte es bei jedem zweiten Waldsatz beifällig. Als Wächter mit Projektor auf der Bühne erschien, um anhand dreier Vergleichskarten die Naturvernichtung ausgerechnet der Professorengattin Jelena vorzuführen, die mit ihren Haaren vollauf beschäftigt war, verselbständigte sich, was man Tücke des Objekts nennt. Man muss diesen Tschechow nicht mit Rollkabel zur widerspenstigen Steckdose lustig machen.

Die Tschechow-Figur des Abends war die Sonja der Jeanne Devos. Sie ist die Tochter des Professors aus erster Ehe, die Nichte des Onkels und sie liebt den Arzt, der sie nicht bemerkt und als es ihm bewusst gemacht wird, auch aktiv verschmäht. Alles, was Jeanne Devos in dieser Rolle macht, hat Hand und Fuß, ja Hände und Füße. Wenn es stimmt, dass solche Tschechow-Rollen ihre Darsteller zu besonderen Anstrengungen und Leistungen treiben, dann ist es in dieser Sonja neu bewiesen. Dass sie nicht die erste ist, die als Sonja glänzt, spricht für die Rolle, dass sie wieder eine ist, die es schafft, spricht für die Rollenauffassung der Darstellerin.

Wenn man, nur zum fernen Vergleich, sich die Kinderfrau Marina in der heute fast legendären Inszenierung von Wolfgang Heinz am Deutschen Theater Berlin, Premiere 17. Mai 1972, als Trude Bechmann vorstellt, dann wirkt Rainer Süßmilch in Weimar als eine Art Hexe Baba Jaga einen kurzen Moment irritierend, dann aber ahnt man, dass heutiges Theater nicht mehr dem Horror Vacui sich entgegen stemmt, sondern dem Horror vor ungebrochenem Ernst und durchgehaltener Tiefe. Scheinbar wird ein aktuelles Publikum mit einem Stück, in dem nicht wenigsten im Abstand der Werbepausen des Privatfernsehens ein Lacher eingebaut ist, selbst aus Sicht der Theatermacher überfordert.

Also müssen Sondergags eingebaut werden. Telegin (Bastian Heidenreich) jongliert zwei Kästen mit frisch destillierten Kartoffelschnäpsen aus den Tiefen des Bühnenuntergrunds nach oben. Marina lässt die nötigen Kartoffeln nach unten rollen, wo eben auch einmal eine sich selbständig macht und wegdriftet. Wenn Jelena und Sonja Brüderschaft trinken, bei Tschechow absichtlich und ausdrücklich aus einem Glas, dann wird in Weimar ein dreifach wiederholtes Verrenkungsspiel daraus, lustig anzuschauen. Wenn der Professor „Setzt euch!“ ruft, und sechs Darsteller sich nach einem Stuhl umdrehen. Wenn Sonja Gurken futtert, als hätte sie für Hirnamputierte Schwangerschaft zu demonstrieren. Man könnte meinen, die Regie wolle „Nur ja nicht nachdenken!“ ins Parkett rufen.

„Der Inhalt des Stückes ist die Inhaltlosigkeit“, schrieb schon vor 65 Jahren der Kritiker Paul Rilla und er lobte Tschechow für seine Fähigkeit, „noch die Undramatik dramatisch zu machen.“ Von Wolfgang Heinz hielt Dieter Kranz einst fest: „Er machte uns bewußt, daß der Tonfall eines Satzes die im Wortlaut getroffene Aussage ins Gegenteil verkehren kann und daß die Figuren im Schweigen oft mehr über sich verraten als im Dialog.“ Heinz hätte die mit den Augen rollende Caroline Dietrich vermutlich noch einmal beiseite genommen und ihr bedeutet, dass man so den Satz des Professors von der Arbeit fast am Ende nicht mimisch kommentieren muss. Die irre Phrase war auch so erkennbar.

Zu Corinna von Rads Essentials gehört offenbar eine Originalsprachen-Einlage. Also wurde russisch gesungen und es folgte fast prompt ein Szenenapplaus. Misstrauen hegte die Regie gegen den Begriff „Tendenzromane“, den Jelena wie selbstverständlich benutzt, als sie das Ansinnen Sonjas zurückweist, auf dem Markt etwas zu verkaufen. In Weimar werden aus den Tendenzromanen umständlich „Romane, die die Welt verändern wollen“. Dass jedoch „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ von Gertrude Stein stammt und auch das richtige Leben im falschen ein Zitat darstellt, das will die Aufführung nicht kenntlich machen. Ganz unbemerkt bleibt es im Publikum nicht. Als der Professor freilich den Gogol zitiert und einen Revisor ankündigt, lacht außer ihm keiner, weder auf der Bühne noch im Publikum. Wahrscheinlich gibt es doch ein falsches Leben im richtigen.
  www.nationaltheater-weimar.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround