Schiller/Euripides: Iphigenie in Aulis, Theater Rudolstadt
Auch die dicken Schiller-Bücher widmen diesem Werk kaum mehr als eine Seite. Nicht, weil es unwesentlich oder schwach wäre. Sondern weil es eben doch eine Übersetzung ist. Schiller war des Griechischen nicht mächtig, weshalb er die späte Tragödie des Euripides aus einer lateinischen und einer französischen Vorlage eindeutschte. Er stellte einen Euripides in der Versdiktion des Friedrich Schiller her. Somit muss das Rudolstädter Theater mit seiner Programmheftangabe „Tragödie von Friedrich Schiller nach Euripides“ nicht zwingend getadelt werden. Als vor Jahren das Staatstheater Darmstadt sich des extrem selten gespielten Werkes annahm, entschied es sich für die Unterzeile „übersetzt aus dem Euripides“. Und Karin Henkel griff 2009 am Schauspiel Köln gleich gar nicht zur Schiller-Fassung.
Zunächst ist der Mut zu loben, mit dem das Haus (Regie Alexander Stillmark) ganz weit zurück in die Theatergeschichte griff. Denn schon zu Schillers Zeiten war der Einsatz des Chores, in der klassischen griechischen Zeit eine einfache Selbstverständlichkeit, komplett aus der Theaterpraxis verschwunden, Schiller musste seiner „Braut von Messina“ eine eigene Abhandlung voranstellen zum Gebrauch des Chores und dennoch ist dieses späte Stück von ihm bis heute auf deutschen Bühnen kaum vertreten. Nicht einmal in den beiden Schillerjahren 2005 und 2009 übte es nennenswerten Reiz auf Theatermacher aus. Als das Bauerbacher Amateur-Theater vor zwei, drei Jahren die „Braut“ ankündigte, war folglich auch die Verblüffung weithin groß, das Projekt starb, ehe sich ein Realisierungsteam überhaupt gefunden hatte.
„Iphigenie in Aulis“ führt mitten hinein in die Blütezeit der griechischen Tragödie, genauer an ihr Ende. Euripides, der jüngste der drei großen Tragiker, ist in mancher Hinsicht schon ein Mann des Übergangs, dessen Erfolg gerade deshalb nach seinem Tod und bis heute entschieden größer ist, als er zu Lebzeiten je war. Fast alle seine antiken Konkurrenten bei den alljährlichen Wettbewerben sind vollkommen vergessen, allenfalls dem Namen nach bekannt, doch errang er zu Lebzeiten nur ganze vier Siege (Sophokles 24, zum Vergleich). Die Nachwelt aber erkennt in ihm den Neuerer, den Schöpfer. Und manches von dem, was die Rudolstädter Inszenierung besonders akzentuiert auf löbliche Weise, zielt in eben diese Richtung. Euripides war der erste, bei dem ein Sklave eine solche Rolle so spielen durfte, wie sie hier Hans Burkia zu verkörpern hatte. Die Frauenrollen gab es vor Euripides in dieser Akzentuierung nicht. Dass sie, Anne Kies als Iphigenie und Carola Sigg als Klytämnestra, das Eindrücklichste des Abends ablieferten, darf auch als Hommage gesehen werden an das theatergeschichtliche Gewicht dieser Umstände.
Natürlich hört der Wissende in der Art, wie Carola Sigg das Unversöhnliche an ihrer Figur betont, die Vorankündigung schon mit, was in der weiteren Geschichte des mythischen Geschehens, wenn auch außerhalb dieses Stückes, passieren wird. Diese Gattin wird diesen König umbringen und sie wird dann von ihren Kindern Elektra und Orest umgebracht werden. Während Iphigenie, die in Rudolstadt begleitet vom vierköpfigen Chor der Frauen aus Chalkis (Verena Blankenburg, Laura Göttner, Charlotte Ronas, Ute Schmidt) zum Opferaltar schreitet, bei Euripides und im überlieferten Mythos von Artemis begnadigt wird. Die zürnende Göttin verwirrt den Geist der Opferpriester, die ein Reh töten und meinen, es sei Iphigenie. Die aber wird nach Tauris versetzt, wo sie ein gewisser Goethe in seine Obhut nimmt.
Auch Euripides hat eine taurische Iphigenie geschrieben, die aber nun tatsächlich von niemandem irgendwo gespielt oder neu übersetzt wird. Da hat Goethe die Messlatte einfach zu hoch gelegt. Die Schillersche Übersetzung der aulischen, die durchaus mit Blick auf das Goethewerk zu sehen ist wie natürlich auch als Einübung in die antike Welt im weitesten Sinne, hat vielerlei nachweisliche und ebensoviele oder sogar mehr vermutbare Bezüge zu seinem zeitgleichen und späteren Schaffen. Ich nenne stellvertretend die Klage des Agamemnon über seine geringe Handlungsfreiheit als König, die dem Rudolstädter Theatergänger aus der „Maria Stuart“ bekannt vorkommen dürfte, wo sie die Königin Elisabeth beschäftigte. Das „Walten“ der Hausfrau, wen erinnert es nicht an das oft verulkte Schillersche Frauenbild der „Glocke“? Die Tränen eines Königs kehren im „Carlos“ wieder, Chorverse aus dem dritten Akt könnten auch aus der „Huldigung der Künste“ stammen.
Alexander Stillmark gibt den vier Chorfrauen zu Beginn fast strapazierend viel Zeit und Raum. Genau so müssen wir uns den antiken Chor ungefähr vorstellen: Er führte ins Geschehen ein, von ihm hörten die Theaterbesucher gewissermaßen, was bis dahin geschah, da die Bühnenhandlung einsetzt. Er ist für die Botenberichte zuständig über das, was sich nicht inszenieren lässt oder jenseits der Bühne zeitgleich geschieht. Der Chor kommentiert und bei Euripides, auch hier ist er Neuerer, lösen sich einzelne Chormitglieder heraus, oder es spaltet sich der Chor in Halbchöre, die unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander vortragen. Dieser spezielle Chor wird eingeführt als Gruppe neugieriger Weiber vom Lande, die Helden-Watching betreiben wollen.
Vom riesigen Heer mit vielen Schiffen, tausenden Kriegern, etlichen Königen, Helden mit dem Ruf von antiken Superstars künden die Frauen zunächst. Und dann geht es statuarisch weiter, fast unbewegt tragen Agamemnon (René Leier) und Menelaus (Benjamin Griebel) ihre Dialoge und Monologe vor. Was an Bewegung der Akteure fehlt, gleichen die Farben (Ausstattung Volker Pfüller) nach Kräften aus. Mir hatten beide Seiten zu viel des Guten. Das aber in bester Absicht. Ich unterstelle einfach, dass der Regisseur zeigen wollte, dass antike Tragödien eben keine Action-Spiele waren, sehr wohl aber hörten die Zuschauer damals sehr genau auf den Text. Und seit bekannt ist, dass die uns als marmorweiß bekannten antiken Skulpturen früher quibbelbunt bemalt waren, seither dürfen wir wohl auch gewöhnungsbedürftige Faschingsfarben wie hier tolerieren.
Benjamin Griebel kann einfach sein komisches Talent nicht unterdrücken, deshalb wirkt sein Menelaos, dem die Helena abhanden kam und somit einen Kriegsgrund für ganze Staaten und Reiche liefert, nicht, wie er wirken müsste. Denn was immer kippt beim späten Euripides, ins Komische kippt die Tragödie nicht. Noch härter erwischt es Johannes Arpe als Achilles. Ihn macht allein die Ausstattung zu einer kruden Witzfigur, ein paar Plätze neben mir fühlte sich eine Zuschauerin bezeichnenderweise an das tapfere Schneiderlein erinnert. Natürlich kann heutige Sicht auf eine überlieferte Mythengestalt deren Fragwürdigkeit auch äußerlich machen. Wenn es stimmt, dass Euripides Frauen dramatisch aufwertet, dann heißt das ja im Gegenzug fast automatisch, dass er wenigstens bestimmte Männer abwertet. Der fast unverwundbare Held Achilles könnte ein solcher sein, wir wissen, wie er später mit Hektor umging.
Wohltuend war mir, dass die Regie es mir überließ, mich zu den Vaterlandssätzen in Beziehung zu bringen. Zu leicht wäre es gewesen, was im antiken Athen und auch zu Schillers Zeiten noch ungebrochen wirken konnte und wirkte, aus heutiger Sicht in Unrecht zu setzen oder gar einer nur moralischen Bewertung zu unterziehen. So lange es Staaten gibt, gibt es Staatsraison. Man kann gegen sie träumen. Dass es am Ende eine „Einsicht“ in dieser Iphigenie gegeben zu haben scheint, ist zwar schwer nachzuvollziehen, aber Euripides will es so und Schiller hat es ihm abgenommen. Was heute als Pathos, als vaterländische Phrase im Ohr klingt, es begann zu Schillers Zeiten gerade zu einer zu werden, war es im Kern noch nicht.
Also war diese Iphigenie auch eine Art von Vorbildfigur in Zeiten, deren Wesensmerkmale hier nicht ausgeführt werden können. Die antike Welt, wie sie Euripides erlebte, der in seinen Tragödien eben auch fast unvermittelt und teilweise wörtlich zeitgenössische Philosophie verwendete, war im spürbaren Wandel, auf den reagiert werden musste. Wenn Agamemnon in Rudolstadt zweimal „Götter!“ ruft, dann ist das sehr viel Euripides in seiner Zeit. Es führt ins Herz der Gedanken etwa eines Protagoras, in die „sophistische Aufklärung“. Ins Bühnengeschehen selbst greifen die Götter fast nicht mehr ein. Es sei daran erinnert, dass es Euripides war, der den „deus ex machina“ erfand. In dieser Iphigenie war es am Ende des fünften Jahrhunderts vor Christus sogar eine „dea ex machina“. Die schwebte damals, was heute ohne Einschränkung lächerlich wirken würde und nur im parodistischen Sinne denkbar ist, tatsächlich an einem Bühnenkran zu Ende der Tragödie ein und
löste, was der Handlungslogik nach nicht lösbar sein konnte.
Anne Kies als Iphigenie war sehr zerbrechlich. Den extremen Wandel von der um ihr Leben Flehenden zu der ihr Leben Opfernden spielt sie fast übergangslos, wie es nicht anders geht. Wie sie umschlungen steht mit Mutter und kleinem Bruder Orest (Maria Sigg), das prägt sich ein. Und es prägt sich diese Königin ein, die später eine Mörderin sein wird. Sie bietet ihrem König die Stirn, sie erinnert ihn daran, wie er sie einst entführte und man ahnt, siehe oben, was unter beherrschter herrscherlicher Oberfläche brodelt. Vielleicht fühlt sich das Theater Rudolstadt ja nun ermutigt, dem halben Schiller einen ganzen, mit noch mehr Mut „Die Braut von Messina“ folgen zu lassen. Eine Hommage an das Rudolstädter Folklorefest a la Bote Jörg Schlüter wird dann erneut als solche billigend in Kauf genommen.
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