Williams: Orpheus steigt herab, Münchner Kammerspiele

Als dieses Stück in den späten fünfziger Jahren nach Deutschland kam, waren sich namhafte Kritiker einig: Tennessee Williams ist auf dem absteigendes Ast, mit Orpheus hat alles wenig bis nichts zu tun. Das Stück hätte auch ganz anders heißen können. Und so weiter. Wer jetzt die hochgelobte Inszenierung von Sebastian Nübling (Jahrgang 1960) an den Münchner Kammerspielen über sich ergehen lässt, ist dann in der besten Position, wenn er wenig von Williams weiß und das Wenige möglichst wieder vergessen hat. Den Text sollte er, egal in welcher Übersetzung, am besten nicht zur Kenntnis genommen haben. Was veranlasst einen Regisseur, dieses Stück so auf die Bühne zu stellen, dass es vollkommen kalt lässt, dass es alles verloren hat, was konkret war, historisch, sozial, amerikanisch? Dass es sich geradezu verwahrt davor, wirken zu wollen, es sei denn, die Wirkung soll die des Genervtseins sein? Nicht das Stück, nicht der Zuschauer dominieren die Intention, sondern panische Angst vor jeder Herkömmlichkeit. Als wäre nicht Leben selbst Herkömmlichkeit in Reinkultur.

„Wenn mir jemand Eindeutigkeit liefert, fühle ich mich beschissen.“ heißt ein Satz, den Till Briegleb vor knapp zehn Jahren von Nübling überlieferte. Wenn mir jemand diesen Nübling als theatertreffenswürdige Großtat liefert, bin auch ich versucht, mich beschissen zu fühlen. Es hat keinen Reiz für mich, wenn ein Regisseur alle Darsteller zwingt, möglichst unvorteilhaft auszusehen, zu dick, zu dünn, zu hässlich, zu unvorteilhaft gekleidet, mit unbewegter Miene sprechend, als müssten alle unbedingt noch vor der letzten Straßenbahn nach Hause kommen, um wenigstens die Spätnachrichten nicht zu verpassen. Was hampelt und zappelt dieser angebliche Val Xavier (Risto Kübar) bei den Sätzen, die er in fremdzüngigem Deutsch redet, herum, als hätte er einen Reizstromgürtel umgeschnallt, um nebenbei noch dünner zu werden? Rampentext ohne Augenkontakt der Darsteller, wohin kehrt das zurück?

Hat die Tierrechtsorganisation PETA dafür gesorgt, dass die Schlangenhautjacke aussieht wie ein versteigertes Requisit aus der ZDF-Hitparade anno 1972? Oder war der Hauptimpetus der Abteilung Kostüm, nur ja nicht an den „Mann mit der Schlangenhaut“ zu erinnern, den es ja auch einmal gab? Was ritt die Autoren des Fernsehtextes, von Dorfgemeinschaft zu faseln, haben sie das Stück auch nicht zur Kenntnis genommen vorher? Natürlich sind bei Tennessee Williams die Männer der nervenden Weiber Beulah und Dolly stupide Farmer, während hier der eine im Strackformat einen farbigen Anzug trägt, der jeder Beschreibung spottet. Einer kurvt auf dem Motorrad über die Bühnen, alle verwandeln sich gelegentlich in eine Art von Motorradgang mit Lederjacken. Die Proben haben offenbar größten Wert darauf gelegt, dass kein Satz klingt, als wäre er von echten Menschen in einem echten Dialog an einen echten Partner gerichtet. Bisweilen aber siegt doch der Text, bisweilen fühlt sich vor allem die Darstellerin der Lady erkennbar versucht, Text in Mimik umzusetzen, dass man beinahe fürchtet, sie wolle spielen wie anno dunnemals und Emotionen der Rolle zeigen, in die sie sich, himmelkreuzsakrament, doch leider eingefühlt hat.

Es war einmal modern und dennoch nie wirklich gut, Text herzusagen wie Hanna Schygulla in den frühen Fassbinder-Filmen, um einmal einen Namen zu nennen. Vierzig Jahre später lockt das nicht einmal mehr einen kleinen Hund hinter dem Ofen vor. Ob das alles noch Dekonstruktion oder schon Postdekonstruktion ist, wen interessiert das tatsächlich außer den Freaks, für die zum Glück Theater noch nicht ausschließlich gemacht wird und die auch nur zu Hause zur Entspannung Vorabendserie im Privatfernsehen schauen, um nicht ganz an der Bühnenwelt verzweifeln zu müssen, die sie sich entschlossen haben, stets und immer toll zu finden, wenn sie Erwartungshaltungen enttäuscht. Wo steht eigentlich, dass Erwartungshaltungen der Feind lebendigen Theaters seien? Warum bleibt von einer wirklich scheußlichen Realität wie der in dem Südstaaten-Stück von Williams alles übrig, nur nicht Amerika, nur nicht das Rassenproblem, nur nicht Stupidität und Klischee, die in der Tat auch dem Stück anzulasten wären?

Der Text redet gegen das Spiel, auch in dieser Fassung. Ist das modern oder ein theatralisches Missverständnis? Wenn tatsächlich die alte Hans-Sahl-Übersetzung so schlecht ist, wie sie seinerzeit von der Kritik gemacht wurde, warum hat die neue Übersetzung offenbar sätzeweise fast wörtlich davon übernommen? Der Darsteller des Jabe Torrance, der wegen Unausgelastetheit zugleich auch den Sheriff zu spielen hat, brilliert am Abend mit zwei Hustenanfällen und schweißglänzender Pickelnase. Man hat nicht die geringste Lust, die eigentliche Geschichte wenigstens anzudeuten, die da passiert. Denn eine Regie, die annimmt, mit der Streichung aller Konkretheit würde Allgemeingültigkeit erreicht oder Überzeitlichkeit, falls die denn überhaupt zu den Ambitionen der Aufführung gehören, die irrt. Noch alle wirklich großen Ereignisse der Literaturgeschichte haben Gültigkeit nicht trotz, sondern wegen ihres Kolorits so unverwechselbar gehalten. Die Herstellung von Verwechselbarkeit bedient vielleicht die eine oder andere Theaterkantinen-Philosophie, bleibt aber immer Irrtum vom Amt, wie Bühnenpraxis letztendlich brutal nachweist.

Ich komme nicht umhin, die Sicht der Regisseurs nicht nur auf dieses Stück zweifelhaft zu finden. Die Website der Kammerspiele zitiert ihren Regisseurs mit seltsamen Sätzen, denen zufolge sich Williams „auffallend“ für soziale Strukturen interessiert habe. Das glaubt Nübling dann sogar noch zusätzlich beweisen zu müssen, in dem er auf „große Besetzungen“ hindeutet, die ein „Biotop zeichnen“. „Es entsteht kein Milieukitsch, sondern realistische Zustandsbeschreibung.“ Wovon aber, Herr Nübling, möchte man brüllen, wovon? Sind Strukturen und Biotope, wenn man einmal ganz tapfer die Modephilosophien beiseite lässt, unter deren Diktat man offenbar sozialisiert wurde, tatsächlich das Angemessene an Terminologie, um Verhältnisse abzubilden, die aus dem gegenseitigen Verhalten von realen Akteuren entstehen und nicht aus ihrendwelchen albernen Begrifflichkeiten aus dem Mumpelkiste postideologischer Ideologien?

Man ist, ich bin selbst erschrocken, erschreckend schnell bei Grundfragen ganz anderer Dimension, wenn man ein seltsames Theaterspiel versucht, ernst zu nehmen und nicht nur als fortgesetzte Marketingaktion einer Regie, die eingeladen werden will, um sich von denen, die nicht eingeladen werden, unterscheiden zu können. Ehe mir an diesem speziellen Tennessee Williams die Frage „Wie geht das Zusammenleben?“ wichtig wird, kommen noch drei Sack Fragen vorher, das ist der Kern der Übung. Wenn kein Vorwurf an diese Regie und diese Inszenierung bliebe als der, sich weit über jeden Zuschauer zu erheben, der diesen Höhenflügen an Abstraktion nicht folgen kann und womöglich will, dann bliebe das ein gewichtiger Vorwurf, denn Theater ist Kommunikation und nicht Expression. Was nützt mir das Wissen, dass ein Eiskunstläufer im Training der vierfachen Rittberger beherrscht, wenn ich ihn auf dem Hintern landen sehe?

Weiß der Geier, wer an den Münchner Kammerspielen die Idee hatte zu behaupten, bei Williams hätte eine Gruppe fanatischer Rassisten einen Brandanschlag auf ein Gartenrestaurant verübt, dessen Besitzer der Vater von Lady Torrance war. Es war der Obstgarten und neu eröffent wird die an den Gemischtwarenladen angrenzende Konditorei mit einer Innenausstattung, die an eben jenen Obstgarten so deutlich erinnert, dass es sogar den Trullas auffällt, die von Angelika Krautzberger und Annette Paulmann gespielt werden. Inwiefern es gegen Milieukitsch ist, wenn sich das vermeintliche Gartenrestaurant in ein Kettenkarussell verwandelt, an dem die halbe Inszenierung bastelt, um wenigstens mit einem dynamischen Bühnenvorgang aufwarten zu können mitten im allgemeinen Aufsagen von Text, darf hier unerörtert bleiben.

Man wagt sich nicht vorzustellen, wenn ein Stück über die fünziger Jahre der DDR, in dem die Stasi, sagen wir, einen russischen Juden foltert laut Text, bei einem Theatertreffen vorgestellt würde mit dem Satz: „Ein Stück über Außenseiterhatz in einer repressiven Gesellschaft“, wie es die Festspielwebsite tut. Warum dieses Ausblenden der Realität im Drama? Warum dieser poststrukturalistische Sülz, der Verhältnisse eher zementieren hilft als fragwürdig macht? Ist die Furcht vor auch nur Spurenelementen von „Antiamerikanismus“ in diesem fortlebenden, kein 1989 erlebt habenden Westen tatsächlich so groß, dass jener Rassismus einfach keine Adresse, keine Hausnummer, keine Postleitzahl haben darf, obwohl nicht nur Tennessee Williams als Amerikaner sie wiederholt und eindrucksvoll thematisierte? Dieser Staat, der sich berufen fühlt, überall dort weltweit die Menschenrechte mit modernster Waffentechnik zu verteidigen, wo Öl in der Nähe zu finden ist, hat noch vor einem halben Menschenalter seine eigenen Farbigen gezwungen, einen anderen Bus zu benutzen als die Weißen. Ein Dramatiker wie Williams, nicht die Abteilung Agitation und Propaganda eines kommunistischen Zentralkomitees, hält uns das fortlaufend vor Augen. Darf das auf keine Bühne mehr, die auf sich hält? Aller Rest sei Schweigen.


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