Schiller: Kabale und Liebe, Berliner Ensemble

Als sich am Ende die Darsteller für den kräftigen, immer mehr rhythmisch werdenden Beifall bedankten, fehlte einer und er kam auch nicht mehr hinzu. Es war Gerd Kunath, der die in vielen, vielen Jahren Schiller-Aufführung nicht selten das stärkste Lob auf sich ziehende Rolle des Kammerdieners zu spielen hatte. Die anderen neun Damen und Herren des Berliner Ensembles zeigten Mienen der Freude, die da und dort, wie mir in der sechsten Reihe auf Platz sechs vorkam, mit einer Prise Unglauben gemischt schien. Gibt es reichlich drei Monate nach der Premiere am 8. März immer noch genügend Berliner und Gäste, die einen Schiller mögen können, wie er angeblich nur unverbesserlichen und unbelehrten Provinzlern als einzig wahrer Schiller erscheinen soll? „So einen klassischen Schiller habe ich schon lang nicht mehr gesehen“, sagte ein Graukopf in der Pause nach anderthalb Stunden zur ihn begleitenden Grauköpfin.

Das Programmheft 145 demonstriert denen, die es für fünf Euro erwerben, zunächst einmal einen mittleren Schock: Wenn das alles, was da gestrichen worden ist, fehlt, fragt man sich unwillkürlich, was bleibt da übrig? Es gibt nicht sehr viele Theater im deutschsprachigen Raum, die ihren Besuchern so dicke Programmbücher anbieten mit dem gesamten Stücktext und der Strichfassung. Das Buch Nummer 46 des Schauspielhauses Bochum (Regie Urs Troller, Premiere 5. April 1990) brachte den Text ohne die Striche komplett, das Burgtheater Wien, Programmbuch 148 (Regie Karin Henkel, Premiere am 1. Dezember 1995) den Text mit Strichen. Mag sein, dass allein das Claus Peymann herausforderte. Es ist für den Feinschmecker das Sahnehäubchen, weil es dem Streichenden, wenn das funktionierte, das höchste Zeugnis ausstellt. Die Fassung Peymanns, ich wage die absurde Logik, belässt die Substanz zu 100 Prozent, indem sie vierzig Prozent eindampft, die Zahl vierzig ist hierbei nicht empirisch erhoben.

Also die altbekannte Geschichte vom adligen Präsidentensohn und der bürgerlichen Musikertochter, beide Elternhäuser wollen die Verbindung nicht, genauer: die Väter sind dagegen. Denn die Mutter Miller will schon, sie würde wollen, bedrohte sie nicht der Musikus mit dem Zerschlagen der Bassgeige an ihrem Schädel, einen Arschtritt gibt er der Gattin schon einmal vorsorglich auf offener Bühne. Man ahnt, welche Szenen einer Bürgerehe dem jugendlichen Schiller, der wenig eigene Menschenkenntnis und Lebenserfahrung selbst als sein Manko benannte, vor Augen standen, als er diese herrlich deftigen Wechselreden und Aktionen zu Papier brachte. Mit Mutter und Vater Miller geht es los im Berliner Ensemble auf der im wesentlichen schwarzen Bühne (Achim Freyer), die von oben herab mit den wenigen Requisiten, einem weißen Stuhl, einem provisorisch gestreckten roten Stuhl, einer Schaukel versorgt wird, Martin Seifert und Traute Hoess sind das Paar. Sie geben den Ton vor für das Spiel bis zur Pause, das sanft, aber stetig den Eindruck vermittelt, ein Trauerspiel sei das alles auf keinen Fall.

Das ist wohl erwogen so, denn wie sonst sollte der Umschlag kommen, den die Zuschauer mit lautlosem, beinahe atemlosem Schweigen quittieren, nachdem sie vor der Pause immer wieder lachten und sogar Ansätze von Szenenapplaus wagten. Für Martin Seifert als Musikus bot die Spielanlage die Möglichkeit, ein ganzes Spektrum vorzuführen, über das er mühelos verfügt, nichts wirkte aufgesetzt, nichts bemüht, Traute Hoess hatte dagegen einen fast nur komischen Part, den schon Kostüm und Frisur kräftig herausstrichen. Man neigt zur Auffassung, dass bürgerliche Trauerspiele vielleicht doch in sich schon Komik tragen in jenem vertrackten Sinn, dass Ereignisse in der Geschichte bei ihrem zweiten Erscheinen eben keine Tragödie mehr sind, sondern Farce werden. Bliebe die Frage, was hier im Bürgerlichen zum zweiten Male erscheint (bei Schiller, nicht bei Peymann), doch sie führt abseits.

Die Liebe des Präsidentensohnes, der eigentlich beim Musikus nur das Flötenspiel erlernen wollte, und der Luise Millerin, die von Beginn an weiß, wie luftig das Schloss ist, zu dessen Bewohnerin sie gemacht werden soll, sie ist zum Scheitern verurteilt. Die Kabalen des Stückes sind strenger genommen nur Vollzugsweisen des programmierten Scheiterns. Dieser Ferdinand (Sabin Tambrea), der mit 20 schon Major wurde, man möchte in keinem Krieg der Welt von so einem kommandiert und in den Tod geführt werden, ist so auf sich und seine Gefühlsaufwallung fokussiert, dass er die Realien der ihn umgebenden Welt nur noch ansatzweise und unscharf wahrnimmt. Deshalb auch sieht ihn diese wie jede Luise immer ein wenig wie den üblichen sympathischen Wuschel, dem regelmäßig der Senkel reißt, wenn er ihn binden will. Solchen gegenüber entwickeln Frauen den von Beginn an ungeschiedenen Mutterinstinkt mitten in aller selbst noch backfischhaften Verliebtheit. Schillers Luise ist über ihr Alter hinaus reif im Geiste und hellsichtig bis da hinaus.

Antonia Bill gibt ihre Luise mädchenhaft, natürlich mädchenhaft, aber in jeder Situation situationsbewusst, schmerzlich situationsbewusst. Als Zuschauer ist man durchweg geneigt zu glauben, sie habe von allem, was kommt, eine fast unheimliche Vorahnung, was Schiller vermutlich exakt so auch wollte. So sind ihre Szenen bewegend, so zeigt sie mit dem Vater wie mit der Lady Milford Größe und Stärke weit über das Maß ihrer Mitlebenden hinaus. Schiller und das Problem der Größe sind ein eigenes Thema, dass eben nur auf seine männliche Bühnenfiguren bezogen nicht seriös behandelt werden kann. Wie Luise sich dem Diktat Wurms beugt und den Brief am Boden schreibt, wiederholt sich gestisch bei der Lady Milford, als sie ihren Abschied vom Herzogshaus zu Papier bringt, auch das eine einprägsame Bildlösung.

Die Lady Milford ist über Jahrzehnte hin einer bestimmten Deutung ein Dorn im Auge gewesen, stand ihre Figur doch für Marxisten und solche, die es zu sein glaubten, im Generalverdacht, Ausformung Schillerscher Zugeständnisse zu sein an Zeitgeist und Machtverhältnisse. Der Gedanke, es könnte genau eine solche Lebensgeschichte in ihrer Abweichung von der vermeintlichen „Klassen“-Norm für den Verfasser von Interesse gewesen sein, ist zu selten zugelassen worden. Doch oft genug haben Darstellerinnen dieser Lady, an der berühmten Kammerdiener-Szene sich aufrichtend, großes Spiel vorgeführt, bei schwächeren Luisen sogar das Spiel an sich gezogen. In diese Gefahr geriet Katharina Susewind als Lady Milford nicht, weil sie aus unerfindlichen Gründen ihr Spiel nach der Pause nicht an das davor anknüpfen ließ. Wobei
ihre Lady mit den nun zu breit gezogen Lippenkonturen auch dann keineswegs enttäuschte.

Die „Gegenseite“ verkörpern Joachim Nimtz als Präsident Walter, der als einzige Figur mit den antiken Kothurn ausgestattet vorsichtiger als alle über die Bühne sich bewegte, um nicht zu stürzen, Thomas Wittmann als Hofmarschall von Kalb und Norbert Stöß als Sekretär Wurm. Ihre Szenen vor der Pause sind, siehe oben, zunächst eher komisch angelegt, wobei allzu wilde Überzeichnungen vermieden wurden. Der Wurm bewegt sich wie ein Klein-Mephisto mit Strumpfmaske, die er von Fall zu Fall lüftet, er wird dennoch nie Karikatur. Was für den Hofmarschall noch weit wichtiger ist. Denn der ist beinahe das Lieblingsopfer neuerer Kabale-Inszenierungen, in denen er zur reinen Witzfigur wurde, der folgerichtig plötzliche Tiefen nicht mehr geglaubt werden. Thomas Wittmann wirbelte zwar mächtig Mottenpulver aus seinem Umschlagpelz, mit dem Präsidenten Nimtz aber hatte er eine grandiose Szene, wie eben auch Sekretarius Wurm mit Luise.

Weil selbst Laura Mitzkus aus ihrer wahrlich nicht exponierten Rolle als Sophie holte, was zu holen war, blieb schlussendlich ein Ensemble-Eindruck von schöner Rundung. Dass Finale mit der Limonade verzichtete auf das Melodram zwischen Sohn Ferdinand und Vater von Walter. Verzichtete auf den von Wurm angekündigten Enthüllungsskandal. Claus Peymann ließ sein junges Paar ohne Stich ins Opernhafte sterben. Und hatte nicht nur eine Geige an den Bühnenhimmel gehängt, auf dass sie zerschlagen werde. Ich meine für mich ganz privat, nach Falk Richters „Kabale“ an der Schaubühne und der „Kabale“ von Stephan Kimmig im Deutschen Theater ganz sicher nicht einfach Platz 3 gesehen zu haben. Vor reichlich fünfzig Jahren hat der große Regisseur Gustav Rudolf Sellner anlässlich des damaligen Schiller-Jubiläums gesagt: „Die Frage nach der Werktreue kann keine Frage der Erhaltung der Form sein, sondern ausschließlich eine Frage nach der Substanz.“ Diese Peymann-Inszenierung gibt ihm recht. Und das ist mehr als nur tröstlich.


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