Prohositt dem Schnee von gestern

Um ist es schon wieder, dieses Jahr, auf mich stürzt ein runder Geburtstag zu, und meine vor Jahresfrist prima auf den lahmen Winterdienst fokussierbaren überschüssigen Verbalenergien liegen ein klitzekleines Quentlein brach. Wenn wir jetzt einen Kanzler Stoiber hätten, könnte ich an dieser Stelle einen brachialen Jahresendjubel aus mir herausbrechen lassen: Ich würde nahezu keine Steuern mehr zahlen, hätte meine Rente sicher bis 2300, die Krankenkassen schwömmen in sanft wogenden Euro-Meeren und die einzigen Arbeitslosen wären die ehemaligen Mitarbeiter der nun überflüssigen Arbeitsämter. Wir wären für einige Minuten pro Tag sogar ein wenig schadenfroh darüber, dass auch diese Jungs und Mädels mal erproben müssen, wie es ist. 

Das rapide Absinken der Staatsverschuldung bei gleichzeitiger Verbilligung des Benzins würden wir mit pfandfreiem Büchsenbier begießen und vor allem, vor allem hätten wir endlich Sicherheit, dass in Wahlkämpfen nur noch die Wahrheit gesagt wird, nichts als die Wahrheit. Was haben mich immer die Sprüche des seligen Thomas Apel im Kreistag erregt, wenn er jede zweite Wortmeldung der PDS mit der energischen Abmahnung konterte, das sei ja alles nur Wahlkampf. Das milde Lächeln des Landrates, wenn Frank Kuschel bis zum Schulterblatt in die Brachialargumentekiste langte: Wahlkampf. Nicht weiter ernst zu nehmen also. Wir haben das verinnerlicht. Jetzt aber kommt Licht in die Glühbirne, jetzt wird den finsteren Gesellen die Maske von der Lügenvisage gerupft, dass die Hautfetzen mitfliegen.

Ach, dieses wunderschöne Jahr, es dürfte nie vergehn. Ein Prosit der Gemütlichkeit noch hinterher, eine Prohositt!! Und wenn uns schon heute Abend Nachbars schlecht erzogener Pickelsprössling eine erste Proberakete ins auf dem Balkon nicht trocknen wollende Badetuch ballert, was dann? Schlitzen wir ihm die Reifen seines Mountainbikes auf? Treten wir dem Köter seiner Mutter in den schwänzelnden Hintern? Natürlich nicht. Wir tragen es mit Fassung, wir denken an die Schneezäune, die in diesem Jahr alle genau an der richtigen Stelle stehen, an der sie im vorigen Jahr hätten stehen sollen. Der Schnee wird schon nachkommen, notfalls der Schnee von gestern.
* zuerst erschienen: Freies Wort, 28. Dezember 2002, Wiederabdruck in: Eckhard Ullrich:
  Ein Kreis mit Ecken und Kanten, Escher Taschenbuch 2004


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