Offener Brief

Liebe Chinchillas und Ödlandschrecken, verehrte Bennett-Känguruhs, Nashornkäfer und Tagfalter, geschätzte Wiesen, Wälder und Auen! Es ist mir ein besonderes Vergnügen, Sie alle auf diesem Wege zu begrüßen und Ihnen ein schönes störungsfreies Dasein zu wünschen. Danken Sie Gott, dem Herrn, der speziell für Sie, die Sie nicht sprechen können, nicht telefonieren und keine Pressemitteilungen verfassen, die herrliche Einrichtung des „Sommerlochs“ für Zeitungen und andere Medien erschaffen hat. In dieser Zeit, da wenig geschieht, wenige Ansprechpartner zu erreichen sind, die Anzeigenkunden Geld sparen und sogar Journalisten Urlaub machen, in dieser herrlichen Zeit sind Sie unsere Partner. Sonst, liebe Emus, stehen Sie bestenfalls zum Leidwesen irgendwelcher fundamentalistischer Tierschützer an dem Zaun, den Ihre Besitzer um Sie errichtet haben, damit Sie nicht das Weite suchen und dort dann kein geeignetes Futter finden. Jetzt müssen Sie nicht einmal die Schnabelwinkel verziehen zu einem Grinsen und werden dennoch gnadenlos belichtet. Und Sie, liebe Pfauen, von vorn und von hinten, vielleicht sogar bald in einer Luftaufnahme, dürfen Sie ihre unvergleichliche Schönheit im Vierfarb-Druck zeigen, die im Schöpfungsplan primär zum Beeindrucken von Pfauendamen Aufnahme fand.

Schon gibt es erste Planungen, Sie alle in eine Rangliste zu bringen, nach der Ihnen die Chancen gestaffelt würden, vordere und hintere Zeitungsseiten zu zieren. Sie, Herr Teichfrosch, beispielsweise mit ihrem ziemlich dominanten Grünton, sollten ernsthaft überlegen, ob es nicht besser wäre, bei Annäherung eines Fotografen rasch vor einen kontrastierenden Hintergrund zu hupfen, denn Grün-in-Grün mag zwar den einen oder anderen kreativen Couturier zwischen Mailand und Paris zu spastischen Begeisterungszuckungen verführen, der gebeutelte Zeitungsmann aber, der Farbbilder als Leserköder auswirft wie der Angler den Wurm, der rümpft den Rüssel. Seien Sie versichert, liebe Mischlingshunde, ihr Rang auch außerhalb des Sommerlochs bleibt unangetastet. Sie dürfen in den Tierheimen so lange bellen, wie Sie wollen, ein kleiner Dreispalter  bleibt Ihnen selbst dann sicher, wenn in Arnstadt eine Autobahnbrücke zum Radweg umgewidmet werden würde. 
* zuerst erschienen: Freies Wort, 21. Juli 2001, Wiederabdruck in: Eckhard Ullrich:
  Ein Kreis mit Ecken und Kanten, Escher Taschenbuch 2004


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