Kipling, ein großer Erzähler

„Der geniale Kipling hat die Tür aufgemacht und nun wimmelt es nur so von Tierbüchern.“ Das schrieb Kurt Tucholsky 1925. Eine Erklärung für den Erfolg solcher Bücher hatte Tucholsky auch: „… je übler es auf der Welt zugeht, desto bereitwilliger flüchtet sich das deutsche Gemüt in die Tierbücher. Es ist eine so schöne Ablenkung …“. Am 18. Januar 1936 starb Rudyard Kipling, sein fünfzigster Todestag kann also Anlass sein, nachzufragen: Was haben wir an seinen Werken? Denn eines ist unbestreitbar: zu seinen Tiergeschichten wird auch heute noch gern gegriffen und Nachauflagen seiner Bücher liegen nie lange in den Buchhandlungen. Mowgli und seine Freunde aus dem „Dschungelbuch“ sind unzähligen Lesern vertraut, der kleine Mungo „Rikki-Tikki-Tavi“ hat sich nicht nur in die Herzen von Kindern gekämpft.

Der englische Marxist Ralph Fox, der im Kampf gegen die Faschisten im spanischen Bürgerkrieg fiel, meinte, „dass einer von den wenigen modernen Schriftstellern, deren Prosa wirkliche Lebenskraft besitzt, Kipling ist.“ Und Tucholsky bedauerte, dass das lebendige Englisch Kiplings in den deutschen Übertragungen kaum erreicht würde. Der junge Bert Brecht hat Texte von Kipling nachgedichtet, um seine Fähigkeit zum Song-Schreiben zu schulen. „Für uns bleibt er immer über dem Horizont, ein Stern, der nicht trügt und nicht erlischt.“ So beendete Arnold Zweig seine „Danksagung“ an Rudyard Kipling nach dessen Tod und nannte ihn einen „repräsentativen Europäer“.

Es ist kein Geheimnis, dass Kipling weltanschaulich-politisch konservativ eingestellt war, dass er sich durchaus mit dem britischen Imperialismus und Kolonialismus identifizieren konnte. Doch hat schon Arnold Zweig angemerkt, dass sich dieser Konservatismus wohltuend unterscheide vom reaktionären deutschen. Kipling hat das auch äußerlich zum Ausdruck gebracht: er ließ von seinen Büchern jenes ursprünglich indische Symbol entfernen, welches die Nazis auf Fahnen und Armbinden benutzten, um jede Verwechslung auszuschließen.

Kipling war einer der ersten, der den Nobelpreis für Literatur zugesprochen erhielt (1907), und die Werkausgabe, die nach seinem Tode erschien, umfasste 35 Bände. Davon ist heute mehr lebendig als bei manch anderem einst gefeierten Autor und es zeigt sich, dass es sehr wohl darauf ankommt, wo und von wem er gelesen wird. Bei uns wird niemand zu Kipling greifen, um die Probleme der Welt zu vergessen. Wir greifen auch nicht zu seinen Büchern, wenn wir ein authentisches Bild von Indien haben wollen. Wir lesen ihn, weil er einer der wenigen ganz großen bürgerlichen Autoren Großbritanniens ist, der im imperialistischen Stadium seines Vaterlandes bleibende Werke schuf. Tucholsky hatte nichts gegen Tiergeschichten – wenn sie gut waren. Und das sind die von Rudyard Kipling.
Bisher unveröffentlicht, nach dem Typoskript vom 13. Januar 1986


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