Landolf Scherzer: Der Erste

„Wenn die Lichter in den Zimmern der Kinder ausgehen, und nur noch das Fenster im Schwesternzimmer leuchtet, gehe ich schlafen …“ Worte der 74jährigen Schwester Else Schulz sind das, die im Feierabendheim Bad Salzungen schwerstgeschädigte Kinder betreut und abends noch von ihrer Wohnung aus zum Heim schaut, schlichte Worte, die von Verantwortung reden. Das Buch, indem sie festgehalten sind, heißt „Der Erste. Protokoll einer Begegnung“, geschrieben hat es Landolf Scherzer und es ist sein siebentes Buch, das sechste im Greifenverlag Rudolstadt. Es ist, wie ich meine, ein wichtiges Buch, vielleicht das wichtigste, das Scherzer bisher geschrieben hat. In seiner Vorbemerkung hat er es selbst als einen zu lang geratenen Zeitungsartikel bezeichnet, vielleicht auf Widerspruch hoffend. Immerhin, derartige Zeitungsartikel wünsche ich mir, sie dürfen auch lang sein, man könnte sie ja in Fortsetzungen drucken.

Dem Buch liegt eine ausgesprochene Reporteridee zugrunde: eine gewisse Zeit einen 1. Kreissekretär der SED in seiner alltäglichen Arbeit beobachten, dabeisein bei all seinen Unternehmungen, darüber berichten. Möglich, dass Landolf Scherzer an die alte Brecht-Frage gedacht hat: „Wer aber ist die Partei?/ Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?/ Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?/ Wer ist sie?/“ Brechts Antwort ist in dem gleichnamigen Gedicht nachzulesen: „Wir sind sie.“ Landolf Scherzers Antwort steht in seinem neuen Buch. Vier Wochen lang hat er den 1. Kreissekretär der Kreisleitung der SED Bad Salzungen, Hans-Dieter Fritschler, HDF genannt im Buch, begleitet, hat in den Sekretariatssitzungen gesessen und in den Lagebesprechungen am Montagmorgen, hat ihn in die Betriebe begleitet und bei einem Waldlauf, zu Geburtstagsfeiern und Aktivtagungen.

Herausgekommen ist ein Buch, das zwar „Der Erste“ heißt, zugleich aber zeigt, dass ein „Erster“ ohne seine Genossen nichts wäre, ohne die Mitglieder seines Sekretariats, die Mitarbeiter seiner Kreisleitung, die hauptamtlichen und die ehrenamtlichen Funktionäre seiner Kreisparteiorganisation. Aber auch nicht ohne seine Familie. Landolf Scherzer zeigt seinen HDF als einen hart arbeitenden, sich selbst nicht schonenden Genossen. Er zeigt ihn ohne jede Verklärung, verschweigt nicht Müdigkeit, die es gibt und nicht den Ärger. Er zeigt ihn als einen Mann, der keinesfalls ununterbrochen „goldene Worte“ von sich gibt, wohl aber als einen, der an sich selbst zuerst die höchsten Forderungen stellt. Probleme, die nicht jeden Tag in der Zeitung stehen – hier werden sie beim Namen genannt. Es ist ein Buch mit Adressen und Hausnummern. Nachprüfbare Fakten stehen darin.

Landolf Scherzer hat sich selbst an keiner Stelle in den Vordergrund gebracht, er ist anwesend im Buch, natürlich, beschreibt seine Reaktionen, nennt seine Fragen, seine Gefühle. Vor allem gibt er anderen das Wort, Parteisekretären und einem Bürgermeister, dem des Staatlichen Sinfonieorchesters Bad Salzungen, der Leiterin eines Jugendforscherkollektivs, dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, dem LPG-Vorsitzenden. Den Kindern des „Ersten“, seiner Frau, seiner Mutter. Sie alle sind die Partei. Und sie setzen fort, was etwa der Genosse Martin Luther, Mitbegründer der KPD in Bad Salzungen 1920, begonnen hat. Sein Enkel, Klaus Martin Luther, Parteisekretär im VEB Kabelwerk Vacha, erinnert an ihn. „Klaus-Martin“, hat er vor Jahren gesagt, „Erfolge können nur demjenigen in den Kopf steigen, der dort den dafür nötigen Hohlraum hat!“

Der Schriftsteller Landolf Scherzer findet sich nicht ohne Probleme hinein in die Sprache der Berichte und Beschlüsse, stolpert über ihm unvertraute Abkürzungen, wundert sich und lässt sich aufklären. Und er zitiert seinen „Ersten“: „Aber der größte Fehler, den man machen könnte, sei, als Parteifunktionär nicht mehr an eigene Fehler zu erinnern, in Versuchung zu kommen, an die eigene Unfehlbarkeit zu glauben …“. Oder: „Wir sitzen eigentlich alle nur deshalb hier und reden uns nur deshalb die Köpfe heiß, damit das Ideal, das wir vom Sozialismus haben, und unsere Wirklichkeit immer mehr übereinstimmen.“ Was das praktisch bedeutet an einem kleinen Kampfabschnitt, im Kreis Bad Salzungen des Bezirkes Suhl, zeigt Landolf Scherzers Buch. Selbst den Speiseplan der Kreisleitung können wir verfolgen. Wohnungsvergabe und Streit um die Höhe eines Gebäudes am Salzunger Markt, Versorgungsfragen und Planerfüllung, Arbeitsbedingungen im Galvanikbereich – es gibt keine großen und keine kleinen Probleme, wenn es vorangehen soll, wohl aber gibt es Rangfolgen, bedingt durch die nicht unbegrenzte Leistungsfähigkeit in allen Bereichen. Es gibt schmerzliche Entscheidungen. Landolf Scherzers Buch „Der Erste“ gibt eine überzeugende Antwort auf die Frage, wer die Partei ist.
Unveröffentlichtes Manuskript vom 8. Dezember 1988, geschrieben für „Freies Wort“ Suhl, Von der Bezirksleitung der SED Suhl nicht zum Druck frei gegeben

Was das Buch verdient hat, ist ihm widerfahren: es hat sehr rasch seine Leser gefunden, die Nachfrage ist weitaus größer als die erste Auflage und was selten genug geschieht – eine zweite, bedeutend höhere Auflage ist angekündigt. Die Kritik hat ringsum positiv reagiert, wenn auch für meinen Geschmack zu nüchtern. Wenn ich ein Buch schon erregend nenne, dann möchte ich vielleicht doch etwas von meiner Erregung auch in Worte kleiden? Ich war Zeuge einer Kulturbundveranstaltung mit dem Titel „Unser Erster“, die Scherzers Buch benutzte, um einen – wie es so schön heißt – „Amtsbruder“ von Hans Dieter Fritschler zu interviewen. Das reihte sich natürlich ein in die Vorbereitung der Wahlen in unserem Land, war aber zugleich mehr als nur eine von zahlreichen Wahlveranstaltungen. Es war sogar viel mehr, möchte ich meinen. Es war eine vertrauensbildende Maßnahme von außerordentlicher Wirksamkeit, die so nur möglich geworden ist durch Landolf Scherzers siebentes Buch, eben durch dieses „Protokoll einer Begegnung“.

Die sich doch nur zu oft verflüchtigende Wirkung von Literatur war hier, bedingt selbstverständlich auch durch das operative Genre, das Scherzer nun schon seit Jahren benutzt, greifbar, hörbar, spürbar. Die alte Frage von Brecht „Wer aber ist die Partei?/ Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?/ Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?/ Wer ist sie?/ ist noch keine nur mehr rhetorische Frage geworden. Und – das zeigt mir Scherzers Buch auf eindrucksvolle Weise – auch die Antwort Brechts ist noch nicht zur roten Klassiker-Floskel verkommen: „Wir sind sie“. Ich werde die für mich eindrücklichste Szene des ganzen Buches so schnell nicht vergessen können, den Besuch des Bad Salzunger „Ersten“ im Feierabendheim seiner Stadt, wo auch geschädigte Kinder betreut und gepflegt werden. Dahinter platziert der Autor die Aussage von Schwester Else Schulz, 74 Jahre alt, die abends von ihrem Fenster aus zu „ihrer“ Station schaut: „Ich weiß dann genau, jetzt badet die Nachtschwester die Kinder, jetzt windelt sie den fünfundzwanzigjährigen Marko. Wenn die Lichter in den Zimmern der Kinder ausgehen und nur noch das Fenster im Schwesternzimmer leuchtet, gehe ich schlafen …“.

Das ist die schlichte Sprache der Verantwortung und Menschen, die ebenso denken, ebenso handeln, sind es, mit denen gemeinsam der „Erste“ von Bad Salzungen, Bezirk Suhl, Hans Dieter Fritschler, Jahrgang 41 wie Scherzer auch, seine bisweilen die Kraftreserven übersteigende Arbeit tut. Diese Menschen sind die Partei, diese Menschen tun täglich, was in der Summe, als Resultante hier Staatspolitik ist: Politik zum Wohle der Menschen. Landolf Scherzer hat eine ausgesprochene Reporteridee verwirklicht, nachdem er lange genug warten musste auf die Erfüllung seiner Bitte. Vier Wochen an der Seite von HDF – so nennt er ihn fast immer in seinem Buch – haben ihm selbst sehr viel gebracht: „Ich habe in diesen vier Wochen DDR-Wirklichkeit so gebündelt erlebt, wie normalerweise nicht in zwei Jahren“ (SONNTAG 1/1989) Um unsere Wirklichkeit ging es ihm, so wie sie ist, so wie sie eben immer noch nicht in den Zeitungen erscheint. Herausgekommen ist keineswegs Enthüllungsjournalismus, Scherzer ist als Genosse in die Salzunger Kreisleitung gekommen und hat dies auch in seinem Buch sichtbar gemacht.

Was Kritikern in diesem Buch Anlass gab zu vermuten, der Reporter habe schrittweise auch eigene Klischeevorstellungen abgebaut, ist meiner Meinung nach nichts anderes als die sehr gezielte Antwort auf keineswegs vereinzelt kursierende Unterstellungen, die Funktion eines 1. Sekretärs einer SED-Kreisleitung betreffend. So leistet das Buch auch Aufklärungsarbeit, stellt Transparenz her, Wichtiges also. Solange wir noch einem Buch nachsagen müssen, es verschweige nicht, solange sind wir noch entfernt von jener Normalität, die die Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft aus den Dialektik-Lehrbüchern heraus und in das alltägliche Leben hinein lässt. Es gibt nicht hier das Große, da das Kleine, das Große, Strategische erscheint im Kleinen, Alltäglichen – oder es erscheint gar nicht. Es im Kleinen, im Wust des bisweilen lächerlich Winzigen weder aus den Augen zu verlieren noch aus der Richtung des praktischen Handelns zu lassen, das ist die ungeheure, die für den „Außenstehenden“ manchmal auch ungeheuerliche Aufgabe, vor der ein „Erster“ im wahrsten Sinne des Wortes rund um die Uhr steht.

Landolf Scherzer hat gezeigt, wie sein „Erster“ das macht, wie er das nur machen kann mit seinen Genossen an der Seite, mit seiner Familie im Rücken. Diese anderen, denen Scherzer auch selbst das Wort erteilt, liefern nicht nur Mosaiksteine zum Bild von HDF, nicht einmal in erster Linie. Sie tragen die Botschaft des Buches ganz entscheidend mit. „Wie ehrlich wird man in zwanzig Jahren noch zu sich selbst sein können? Und hat man seine Genossen so erzogen, dass sie einem dann die Wahrheit ins Gesicht sagen? Außerdem kann man sich als Erster daran gewöhnen, dass man der Erste im Kreis ist. Das Anfangen ist nicht schwer, da schubsen einen viele vorwärts, da helfen die Genossen. Doch wer hilft einem dann beim Aufhören? Aufhören fällt schwerer als Anfangen. Wahrscheinlich hat nur der als Erster gut geleitet, der sich in seiner Amtszeit entbehrlich gemacht hat; der nicht darauf hin gearbeitet hat zu bleiben, sondern zu gehen.“ Dieser „Erste“, der das sagt, steht für mehr als sich selbst, wie das ganze Buch. Wenn die zweite Auflage erscheint, wird auch mein Exemplar seinen Umlauf beenden und ich werde nicht böse sein, wenn es dann benutzt aussieht.
Zuerst veröffentlicht in: „Sonntag“, Nummer 18 vom 30. April 1989, Seite 4; nach dem Typoskript


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