Ludwig Tieck: Das Fest zu Kenelworth

„Das Fest zu Kenelworth“ ist entstehungsgeschichtlich die mittlere der drei Shakespeare-Novellen, die Ludwig Tieck (1773 – 1853) uns hinterlassen hat. Sie ist dem Jahr 1828 zuzuordnen, mithin den 1819 begonnenen Dresdner Jahren Tiecks, über die es dem ersten und dem zweiten Anschein nach mehr geschmäcklerische als gescheite Urteile gibt. Während heute beispielsweise Paul Maar seine Laudatio für die Kinderbuchautorin Kirsten Boie wie selbstverständlich mit dem einfachen Satz beginnt: „Kirsten Boie ist die vielseitigste Autorin, die ich kenne.“, sind Vielseitigkeit und damit kaum vermeidlich verbunden, Wandlungsfähigkeit, bezogen auf Ludwig Tieck, den einstigen „König der Romantik“, eher lau verhohlene Abschätzigkeiten. So nimmt es nicht wunder, wenn Joachim Lindner, der Nachwort-Autor der bisher jüngsten Ausgabe der „Shakespeare-Novellen“, sie stammt aus der DDR und dem Jahr 1981, Tieck mehr halbherzig als engagiert gegen solche Etikettierungen verteidigt.

1828 lag Tiecks Englandreise schon wieder runde zehn Jahre zurück, er hatte sie vor allem Shakespeares wegen unternommen und hätte er es nicht getan, wäre Goethe womöglich mit völlig falschen Vorstellungen über die Praxis des elisabethanischen Theaters gestorben. Heute gehört es zu den Elementarkenntnissen, dass die so genannte Simultanbühne in London (und England) im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (erst 1642 erfolgte das radikale Theaterverbot unter dem Diktat puritanischer Kunstfeindlichkeit) ganz natürlich und gewissermaßen als materielle Basis des dramaturgischen Überbaus jene vermeintlich raschen und wilden Szenenwechsel ermöglichte, die dem jungen wie dem alten Goethe immer wieder aristotelische Sorgenfalten auf die Stirn trieben. Und ihn phasenweise mehr an die Seite der seit Lessing eigentlich in Deutschland suspekten französischen Klassizisten stellten als dem größten Dramatiker der Neuzeit verpflichteten.

1828 war an die wunderbare Denkmalschutz-Organisation „The English Heritage“ noch nicht zu denken, die Kenilworth Castle in der Region West Midlands in ihrem Visitors Handbook natürlich vorstellt, der Text beginnt so: „Kenilworth Castle has been intimately linked with some of the most important names in English history.“ Nicht ganz überflüssig zu sagen, dass „linked“ hier keineswegs als Hinweis auf direkte Internet-Spuren versetzen soll. Man kann sich heute freilich sehr bequem über die Geschichte von Kenilworth Castle informieren, ohne den Platz am Rechner zu verlassen. Man kann alternativ zu einem guten alten Roman greifen, der in diesem speziellen Falle tatsächlich ein guter alter Roman ist, nämlich zu „Kenilworth“ von Walter Scott, dem der späte Goethe, ein Kreis schließt sich, auf fast rührende Weise verbunden war, wie er ja überhaupt in den Jahren seines Alters, manche sagen, wegen der vielen Touristen aus England, die vor seinem Haus am Frauenplan auftauchten, das Insel-Königreich und seine aktuelle Literatur für sich entdeckte von Carlyle bis Lord Byron. Und eben Walter Scott.

Kenilworth Castle erlebte nicht weniger als vier Besuche der Königin Elisabeth I., 1566, 1568, 1572 und 1575. 1575 blieb sie vom 9. bis zum 27. Juli, so lange wie nie zuvor und so lange wie auch an anderen Orten ihrer königlichen Reisen nie. Das hatte mit dem Schlossherrn zu tun, mit Robert Dudley, First Earl of Leicester, der sich, so die Überlieferung, als Bauherr und als Event-Manager noch einmal dem Herzen seiner angebeteten Königin nähern wollte, die, ein Jahr jünger als er selbst, nach Möglichkeit seine Frau werden sollte. Es hat nicht geklappt und aus Schillers „Maria Stuart“, wenn nicht aus echteren Quellen, wissen wir vom endgültigen Abgang Dudleys aus dem Leben Elisabeth's. Der berühmte Satz, den aktuelle Inszenierungen aus einer manisch-panischen Zitatenschatz-Angst heraus gern streichen, obwohl die finalen Sätze in seinen Dramen seit den „Räubern“ zu Schillers Marken-Kern gehören, dieser berühmte Satz lautet: „Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.“ 1575 aber machte er sich vermutlich noch echte Hoffnungen, die ja keineswegs völlig unbegründet waren.

„Elisabeth brachte bei ihrem königlichen Besuch ein Gefolge von einunddreißig Baronen und vierhundert Bediensteten mit, der außergewöhnliche 19 Tage dauerte. Es erschienen täglich zwanzig berittene Boten auf der Burg, die königliche Botschaften übermittelten. Leicester unterhielt die Königin und ein Großteil der umliegenden Gegend mit Umzügen, Feuerwerken, Bärenkämpfen, Mysterienspielen, Jagden und Banketten. Die Kosten betrugen angeblich viele tausend Pfund, was Leicester fast bankrottgehen ließ...“, lesen wir in der von Jimmy Donald Wales aus Huntsville, Alabama, begründeten Enzyklopädie Wikipedia mit dem natürlich allfälligen Hinweis „bearbeiten“. Ludwig Tieck konnte auf diesen Dienst nicht zurückgreifen, selbst mit den gedruckten Enzyklopädien war es in seinen Lebenjahren nicht sonderlich weit her. Den historischen Sinn aber verdanken wir zu wichtigen Teilen der Romantik, der so genannte historische Roman erlebte, Schulwissen, mit Walter Scott einen ersten großen Höhepunkt, den manche als bis heute nicht tatsächlich übertroffen ansehen. Freilich schaffen heutige Fließband-Epopoen über mittelalterliches mittleres medizinisches Personal ganz andere Auflagen als Scott und seine frühen Epigonen, allerdings greift auch kein Goethe mehr nach ihnen und das liegt nicht auschließlich am Mangel an verfügbaren Goethes.

Am 22. Oktober 1817 schrieb Ludwig Tieck an Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780 – 1819): „Ich bin jezt fast überzeugt, daß Shaks. als junger Mensch sehr viel, und viel mittelmäßiges, ja hie und da Schlechtes geschrieben hat, wahrscheinlich für die Subsistenz, wenn die Engländer ihm die Bürgerkriege und Titus Andr. und Pericles, so wie die andren Cromwell, London Prodigal, oder gar den alten K. John absprechen, so ist die Sache bald abgemacht – aber eingesehn, daß diese von ihm sind, so zieht uns die Consequenz viel weiter, und jene Sachen bekommen auch erst dadurch Zusammenhang und Haltung, der Dichter wird uns nun erst individuell, der sonst fast wie ein blendendes Meteor dasteht.“ Die Englandreise mit Wilhelm Friedrich Theodor Joachim von Burgsdorff (1772 – 1822) war Tieck da noch ganz gegenwärtig, sie dauerte von Mai bis September 1817 und war, wie überliefert wird, bis in die kleinsten Details vorbereitet. Aus heutiger Sicht darf vermutet werden, dass Tieck sich insgesamt in Sachen Shakespeare einfach zu viel zugemutet hat, was dem Plan und seinen Zwischenresultaten natürlich keinen Abbruch tut.

„Das Fest zu Kenelworth“, das ist Tiecksche Schreibweise, in dem Shakespeare einmal Wilhelm, einmal William genannt wird nach einer nicht erkennbaren Regel, ist nach dem Willen ihres Verfassers eine Novelle. Was gleichbedeutend ist, leider, mit dem, was Trend-Priester „No
go“ nennen. Es sei denn, man mache die Feststellung Winfried Freunds werbewirksam, der in seinem schlicht „Novelle“ genannten Buch der Reihe Literaturstudium des Stuttgarter Reclam-Verlages vielleicht Hoffnung zu machen meint: „Gelegentlich werden die Grenzen zum Roman deutlich überschritten.“ Als Beispiele nennt er die beiden längeren Shakespeare-Novellen, die in der zwölfbändigen Ausgabe der Tieck-Novellen von 1854 jeweils 300 Seiten umfassen. In der hier zugrunde gelegten DDR-Ausgabe des Berliner Verlags der Nation kommt die gesamte Folge inklusive Nachwort und Worterklärungen auf 364 Seiten, die Grenzüberschreitung ist also klar weniger aggressiv als die Dauer-Grenzüberschreitung all jener Machwerke, die den hyperaktuellen Literatur-Markt mit der Bezeichnung Roman überschwemmen.

Ludwig Tieck nutzt die für einen Dichter anders als für einen Biographen höchst anregende Situation, dass über Shakespeares Leben sehr wenig, über seine Kindheit und Jugend fast nichts bekannt ist. Er nimmt sich für seine Novelle genau jenes Jahr als Handlungszeit, in das der lange Besuch der Königin auf Kenilworth Castle fällt. Der Besuch war, in heutigen Maßstäben gedacht, das Medienereignis des Jahres. In Ermangelung einer dauerberichtenden Yellow Press oder gar ganzer Heerscharen von Kamera-Teams und Paparazzi war die damals kaum weniger als heute neugierige und schaulustige Menge in den südlichen und mittleren Regionen Englands darauf angewiesen, selbst zum Ort des Geschehens und Staunendürfens zu pilgern. Den Wunsch teilten Bürger aller Klassen und Schichten, Menschen aller Altersgruppen und Geschlechter. William Shakespeare, der im Juli 1575 seinen elften Geburtstag gerade ein Vierteljahr hinter sich hat, teilt den Wunsch, dem royalen Schauspiel beizuwohnen wie eigentlich alle, bis auf den eigenen Vater. Dessen Strenge ist jedoch so geartet, dass selbst die an der Seite ihres Sohnes stehende Mutter es nicht ohne weiteres wagt, den Wunsch zu unterstützen.

Tieck schildert den Knaben Shakespeare so, dass es zu einem Bilde passt, wie wir es widerspruchslos hinzunehmen sofort bereit sind: William macht alles lieber als die drögen Pflichten der Schule zu erfüllen, er ist natürlich sensibel, natürlich intelligent, er ist, wie sich bald zeigt, in geradezu beängstigender Weise belesen und redegewandt. Er mag Gedichte. Das wird ihm zunächst zum Verhängnis. Denn eben ist der Vater bereit und willens, dem Drängen des Sohnes nachzugeben, vor allem, weil die Freunde Thomas und Anna Hathaway es unterstützen und sich verpflichten, auf den Jungen aufzupassen. Eben will der Vater, um eine eigene Begründung für seine unerwartete Großzügigkeit vorgetragen zu haben und nicht etwa nur nachgiebig zu erscheinen, des Sohnes Arbeitseifer in den zurückliegenden Tagen würdigen und belohnen, da bemerkt er, dass das eifrig studierte Buch keineswegs dem Lateinischen gilt. Nein, es hat einen Verfasser namens George Gascoigne. Und der ist vielleicht sogar tatsächlich Urahn eines zeitweise im Mutterland des Fußballs höchst verehrten Ballartisten und Originals namens Paul Gascoigne, vor allem aber ist er ein berüchtigter Mann in auf sich haltenden Häusern. Vater Shakespeare bekommt einen ganz gewöhnlichen Wutanfall, zieht die gerade erteilte Reiseerlaubnis nicht nur umgehend zurück, sondern wandelt sie gleich noch in einen Hausarrest um.

In den mir zugänglichen englischen Literaturgeschichten deutscher Zunge spielt jener Gascoigne keine oder nur eine Nebensatz-Rolle, es darf also erlaubt sein, ihm keinen großen Exkurs zu widmen. Er soll Verfasser der ersten englischen Prosa-Komödie gewesen sein, auf Lodovico Ariost fußend. Von diesem seinem Stück soll sich Shakespeare Inspiration für „Der Widerspenstigen Zähmung“ geholt haben. Das Shakespeare-Handbuch verweist außerdem auf den Beitrag Gascoignes zur Entwicklung des Sonetts, was wiederum ebenfalls auf Shakespeare gewirkt haben könnte und wohl auch hat, wenngleich es dazu wie zu fast allem anderen in und um Shakespeare keinerlei Dokumente gibt. Gascoigne war, als er 1577 starb, je nach angenommenem Geburtsjahr 44 oder 52 Jahre alt. Tieck lässt diesen Mann in seiner Novelle zweimal eine Rolle spielen. Das zweite Mal führt dazu, dass William Shakespeare ein Erlebnis hat, das ihn, so die mit dezenter Verführungskraft vorgetragene These der Novelle, zeitlebens stark und tief beeindruckte.

Dann geht es zu wie in einer richtig zünftigen Geschichte für Knaben. Der Vater geht auf eine Geschäftsreise nach Bristol, die Mutter und die beiden Hathaways entschließen sich mit mittelschlechtem Gewissen, William aus seinem Gefängnis zu befreien. „Die Freude und der plötzliche Schreck und Kummer drohten den zartgebauten und feinfühligen Knaben auf das tiefste zu erschüttern; einen so großen Schmerz hatte er bis dahin in seinem eng umgrenzten Leben noch nicht erfahren.“ William ist bereit und willig, die Mutter hat zuvor schon seinen körperlichen Kräften für den Fußmarsch ein gutes Zeugnis ausgestellt und so geht es auf den Weg in einer kleinen Wandergruppe. Tieck zeigt uns den Jungen randvoll mit Geschichten und Geschichtchen, er kennt die lokalen Überlieferungen, vor allem die vom Riesenritter Guy. „Vom Guy von Warwick war die erste schöne Geschichte, die mir meine liebe Mutter erzählte.“ Altklug belehrt er seine erwachsene Begleitung: „Soll nicht jeder Engländer“, erwiderte der Knabe, „die Geschichte seines Landes innehaben? Besonders den Krieg der weißen und roten Rose? Haben wir doch dazu unsre Chroniken.“ Umgehend referiert er die Rittergeschichte in lebendigen Farben. „Nun habe ich den Platz mit Augen gesehen, mit dem ich aus Erzählungen schon so genau bekannt war. Ich wußte auch gleich, daß diese Felsen die merkwürdige Stelle sein mußten.“

So schön es aber ist, zum offenbar ersten Mal dem Elternhaus und seinem engsten Umkreis entronnen zu sein, schon das Stehen auf der Brücke über den Avon gilt dem Vater als unerlaubte Missetat, noch viel schöner ist es, all die Herrlichkeiten ganz allein zu erleben. Nicht zu Gesprächen gezwungen zu werden, die er zu jeder Zeit gern führen würde, nur nicht gerade jetzt, da Herz und Augen übervoll sind und er für sich sein will. So nutzt er, furchtlos und gedankenlos, die erstbeste Gelegenheit, die sich bietet, und macht sich unsichtbar. Er sorgt sich nicht um den Schrecken, den er den anderen bereitet, die ihn vermissen werden. Ihn hat die seltsame Erscheinung eines Waldgottes hoffnungslos neugierig gemacht, den will er aus der Nähe sehen. Und er sieht ihn. Er sieht ihn nicht nur und dabei auch, dass das nur ein kostümierter Mensch ist, Teil des Festes, zu dem alle unterwegs sind, zu dem viele auf ihre jeweilige Weise eben auch beitragen. Der Zufall will, ihn stiften die Dichter, diesenfalls Tieck, dass der Mann, der den Waldgott spielt und damit der Königin selbst eine Freude bereiten will, niemand anderes ist als der Dichter George Gascoigne.

Man muss hartleibig sein, die erzählte Freude des jungen William nicht nachempfinden zu können, der da seinem Idol begegnet, leibhaftig, handgreiflich. Denn Williams Glück wird fast augenblicklich noch viel größer. Der Junge, den Gascoigne bei sich hat, damit er das vorgesehene Echo spielt, ist unpässlich. So bekommt William Shakespeare, der elfjährige, die einmalige Chance, vor der Königin aufzutreten. Auch wenn, so der Plan der Inszenierung, sein Auftritt ein nur akustisch wahrnehmbarer sein wird. William, der zum Ärger seines Vaters schon immer Verse aus den Büchern deklamierte, besteht das Kurzcasting im Walde mit Bravour. Gascoigne engagiert ihn als Ersatz-Echo, die kränkelnde Erst-Besetzung akzeptiert es ohne Murren. Es wird geprobt und die Probe nach einer gewissen Zeit abgebrochen. William lernt seine erste Lektion für spätere Jahre: „... sonst wird es uns allzu geläufig, und die poetische Aufmerksamkeit ist dann nicht mehr dabei.“ Tieck schürzt da und dort die kleinen Knoten, die vorausdeuten, wie man später bemerkt. Einer davon ist die ausdrückliche Mahnung, peinlich genau auf das Manuskriptblatt zu achten. Denn wohl schaffte es Gascoigne, die hundert Verse kurzfristig zu dichten, nicht aber, mehrere Abschriften davon anzufertigen. Dann geht alles glatt, fast glatt. Einmal spricht William sein Echo schon, als das Stichwort noch gar nicht gefallen ist. Robert Dudley macht sich darüber lustig. Und auch die Königin kann sich das Lachen nicht verbeißen.

Dann aber passiert das Erwartbare. Das Manuskript fliegt plötzlich fort, es ist ein winziger Moment der Unachtsamkeit. Im Versuch zu retten, was zu retten ist, gerät ein Diener an einer Fackel in Brand und der eben noch lachende Earl of Leicester will strafend eingreifen. „Halt, Dudley! Nicht so hastig! Es ist ein liebes Kind, und jener Brennende wird schon wieder gelöscht sein.“ Für William öffnet der siebente Himmel seine Pforten: „Die Königin winkte und ein Ritter erhob den Knaben, indem er ihm auf ihr Geheiß eine goldene Medaille mit dem Bildnisse Elisabeths gab.“ Shakespeare soll sich etwas wünschen und er wünscht sich für die kurze Zeit, die er noch dabei sein darf, die Schauspiele im Schlossinneren zu sehen, was ihm die Königin erfreut erlaubt. Ihr erneute Freude kommt vor allem daher, dass William sich das Privileg für sich und seine Frau ausbittet. Was angesichts seines Alters natürlich mehr als nur Verwunderung auslöst. Er erklärt es der Königin und der schöne Witz an dieser Episode ist, dass der wirkliche William Shakespeare die wirkliche Anna Hathaway, von Tieck immer Johanne genannt, tatsächlich heiratet, mit ihr Kinder hat, obwohl sie gut acht Jahre älter ist als er.

Dann bleiben alle zusammen doch nicht so lange, wie zunächst gewünscht und dafür hat wieder William eine wunderbare Begründung: „... was konnte nun noch geschehen, das dieses Gefühl überträfe? Es war mir auch lieb, daß diese Gnade sich nicht zum zweiten Male wiederholte, daß die Königin mich gar nicht wieder bemerkte, weil mir solch Nachspielen desselben Dinges wohl auch den Geschmack am ersten Glück verdorben hätte. Ach, die liebe, herrliche, majestätische Königin!“ Nichts zeigt deutlicher als diese Erklärung, dass dieser Tiecksche Shakespeare alles andere als ein Kind mehr ist. Denn Kinder wollen Wiederholung dessen, was Spaß macht, und zwar bis zum Überdruss für alle anderen Beteiligten. Thomas Hathaway entwickelt sogar dramaturgische Kritik an der Festinszenierung, auch das mit Seitenblick auf den späteren Dramatiker Shakespeare von Ludwig Tieck mit größtem Bedacht eingestellt: „... die Aufzüge, Erfindungen müßten sich steigern, so scheine alles aber mehr der Laune als einer verständigen Anordnung überlassen gewesen.“ Robert Dudley ist eben kein Inszenator und keiner an seiner Seite.

In recht moderner Schnitttechnik lenkt Tieck den Blick seiner Leser zwischendurch nach Stratford zurück, denn dort erscheint vorzeitig und überraschend Vater Shakespeare von seiner Geschäftsreise zurück. Auf dem Wege gen Bristol erfuhr er, dass er seinen Partner nicht antreffen werde, der sei nach Kenilworth gereist. Und so eröffnet sich dem Vater plötzlich die Perspektive, seinem Sohne verzeihen zu können. Denn wie kann man einem Knaben etwas verargen, das sogar einen gereiften Mann seinen Alltag vergessen lässt? Dumm ist nur, dass der Vater den Sohn zu Hause nicht vorfindet, er ärgert sich darüber so heftig, dass er für Stunden das Haus verlässt. Währenddessen bemerkt Shakespeares künftige Gattin noch unterwegs, ihr William sei scheinbar um zehn Jahre älter geworden. Und das nimmt Ludwig Tieck zum Anlass, seinen Shakespeare-Knaben in einer Art über die Königin dozieren zu lassen, die eben nicht seines Alters ist. Was er an der Königin beobachtet haben will, ist dennoch höchst interessant: „Auch sich so ergötzen und bewundern zu lassen, ist mühselig, und was hatte sie mehr an allen diesen Anstalten als der ärmste Untertan, da alle die Kniebeugungen, Zeremonien und Opfer der Ehrfurcht doch nicht in ihr Herz dringen können?“ Wer sich so einfühlen kann, der kann auch Königsdramen schreiben in Serie.

Was Tiecks junger Shakespeare im Schlossinneren an Schauspiel gesehen hat, stellt ihn keineswegs zufrieden. „... immer waren die Figuren gar nicht wie Menschen; sie bedeuteten nur etwas wie Großmut, Güte und andre Tugenden, und ging alles so bloß die Königin an, daß es für sich selbst gar nichts bedeuten konnte.“ Genau das aber würde ihm besser gefallen: „So eine wahre Begebenheit, wenn die Verse auch nicht schön wären, mit gewöhnlichen Kleidern, in kurzen, schnellen Reden oder mit heftigen Worten, fröhlichem oder ernsthaftem Inhalt, das anzusehen, müßte außerordentlich lustig sein.“ Hier ist Bühnenprogramm vorformuliert, das dem späteren Shakespeare zwanglos zugeordnet werden kann. Man kann dies feine Komposition nennen, ohne Tieck übertrieben zu schmeicheln. Die Gruppe kommt fast zeitgleich im Haus in Stratford an mit dem Vater, der seinen Ärger unterdrückt hat und sich am Erzählten, noch mehr aber an der Medaille der Königin, erfreut. So etwas macht Väter stolz, Erfolge rehabilitieren immer wieder in der Geschichte nachträglich Lebensläufe, die die Alten zunächst bei den Jungen mit allen Kräften zu verhindern suchten. Der Vater will die Medaille nicht nur für seinen Sohne aufheben, er hat sich der ganzen Familie auch erstmals von einer Seite gezeigt, die niemand an ihm kannte: Er lachte aus ganzem Herzen. Und schafft es, mitten in alle Freude und Erleichterung doch wieder einen Misston zu tragen.

Die Geschichte vom gespielten Echo bringt den Vater darauf, Spaß auf Kosten seines Sohnes zu machen: „Solltest du Lust bekommen, dich einmal auf das Eis der Poesie zu begeben, so wirst du auch nur Nachbeter, ein schwaches, verhallendes Echo früherer Toren sein.“ Es versteht sich, mit welcher Botschaft Tieck ihm das in den Mund legt. Und das noch draufsetzt: „Ja, Kind, du wirst Lärmen in der Welt machen, das ist gewiß!“ Am versöhnlichen Schluss hätte wohl auch der uralte Goethe seine Freude gehabt, der von allem, was Tieck zu Shakespeare publizierte, Kennntnis nahm und teilweise auch darauf reagierte, doch bezieht er sich nirgends auf die Novellen. Tieck lässt seinen Vater Shakespeare dem Sohn ein Geschenk machen, das eigentlich erst für den nächsten, den zwölften Geburtstag vorgesehen war. Es ist ein „großes, schön eingebundenes Buch“. Ein Buch von Geoffrey Chaucer. Nehmen wir Gelegenheit, diese hübsche Erfindung dadurch zu steigern, dass es sich nicht um die „Canterbury Tales“ gehandelt haben möge, sondern um „Troilus und Criseyde“. Es spänne den Bogen bis zum gleichnamigen Drama der Spätzeit des Dichters.

Anna Hathaway plaudert noch vor dem Ausmarsch gen Kenilworth Castle einen Traum Williams aus. Dieser fiktive Traum ähnelt verblüffend dem materialisierten wohl tatsächlichen Traum Robert Dudleys, die Königin möge bei ihm einkehren. Dass der alte Goethe sich Eckermann gegenüber dagegen verwahrte, wenn ihm Tieck an die Seite gestellt wurde, wird gern dahingehend missverstanden, als bedeute die unbestreitbare Nichtgleichrangigkeit automatisch Tiecks Minderwertigkeit. Diese Logik aber setzt alle Literatur außer Kraft. Das hat nicht nur Ludwig Tieck nicht verdient. Auch Goethe selbst nicht.
Geschrieben im März 2014 für ein Shakespeare-Buch, das nicht zustande kam


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