Sabine, meine Liebe

Weg ist es schon wieder, dieses Jahr. Ich weiß auch nicht, wie ich sagen soll: Wenn ich nicht allsonnabendlich gelesen hätte in meiner Wochenendbeilage „Sabine Latzel ist verheiratet und hat einen Sohn“, wäre das Jahr für mich um eine wichtige Konstante ärmer gewesen. Immer war ich in Furcht, dass plötzlich da stehen könnte, Sabine Latzel sei geschieden. Aber es wäre auch denkbar gewesen, dass Sabine Latzel sich zu einem weiteren Kind entschlossen hätte.
 
Nicht auszumalen die gegensätzlichen Eventualitäten: Sabine Latzels Sohn wäre einer unheilbaren Krankheit zum Opfer gefallen oder sie hätte ihn durch einen blöden, blöden Unfall verloren. Hätte meine Lieblingszeitung dann das Foto ausgewechselt und eine traurig schauende Dame abgebildet oder hätte sie das Foto ganz und gar weggelassen??
 
In all den Jahren (ein paar waren es, auch wenn es heute anders scheint), war ich auch verheiratet und hatte einen Sohn. Ich hätte Sabine Latzel sogar noch eine Tochter entgegenhalten können, die ich schon vor meinem Sohn hatte, aber niemand kam auf die Idee, der Welt bei jedem meiner Artikel meinen Familienstand und meine Vaterwürden mitzuteilen.
 
Ich bin also, um es nutzwertig zu formulieren, Zeuge einer Weiterentwicklung geworden. Denn was weiß man schon von den Menschen, die einem täglich die Zeitung vollschreiben, wenn man sie nicht rein zufällig kennt und wem ist das schon vergönnt? Ahnt man, wer einen Turm besitzt und wer die zweite Gattin, während die erste von hinnen ging, angezogen von seltsamen Konkurrenten aus anderen Parteien?
Weiß man, wessen Auto schon 250.000 Kilometer auf dem Buckel hat, obwohl der Tacho 100.000 Kilometer weniger anzeigt?
 
Ich bin ehrlich, wenn ich geahnt hätte, dass die Zukunft meiner einstigen Zeitung sich nicht darin erschöpft, jeden Freitag dem Leser vorzuspielen, was ein Lieblingsplatz ist, jeden Montag, was man auf drei Fragen antwortet und so weiter, besonders interessant waren all die vielen Wander- und Gastrotipps, die sich jeden Donnerstag wechselweise in wunderbarer Weise ergänzten, ich hätte mich vielleicht nicht so belehrungsresistent gezeigt. Und wäre ein Kollege von Sabine Latzel geworden. Die verheiratet ist und einen Sohn hat.
 
Ansonsten war das Jahr natürlich ein traumhaftes. Es fing vollkommen überraschend am ersten Januar an und wie es derzeit aussieht, wird es am 31. Dezember enden. Ilmenau hat sich erfreulich entwickelt, auch wenn das aus meiner Zeitung kaum ersichtlich geworden ist, aus der man weder Sperrungen noch Öffnungen von Straßen, weder neue Bauprojekte noch abgeschlossene erfahren konnte. Es hat sich in den modernen Chefetagen die Meinung breit gemacht, wichtig sei es vor allem, dass niemand von irgendetwas Ahnung haben dürfe, sonst könne er keine objektiven Urteile abgeben.
 
Das ist eine grundsätzlich gute Idee. Man stelle sich vor, überall säßen betriebsblinde Chronisten. Die den Bürgermeister kennen. Die hören, was passiert, noch bevor es irgendjemand gesagt hat. Besser ist es, man schickt Blasmusikfeinde zur Feuerwehr, Narrenkappengegner zum Fasching und lässt Herbert-Roth-Fans zum
Performance-Trash gehen. Man muss nur darauf achten, dass die dann auch möglichst nicht schreiben können und schon hat man eine perfekte moderne Provinzzeitung.
 
Ich bin vollkommen sicher, dass 2007 alles unglaublich viel besser wird. Deshalb bin ich auch keineswegs zynisch, wenn ich allen anderen Bürgern meinen handgefeilten Optimismus ans Zentralorgan ihres Blutkreislaufes lege. So viele Kindergärten hat Ilmenau gar nicht, wie Sascha Bilay retten müsste, um Oberbürgermeister zu werden, so viele Eishallen wird die Stadt nicht errichten, um auch späteren Verhinderern noch ein schönes Argument zu liefern. Und wenn ich mich irre, sage ich: Es ist widerlich, immer recht zu haben. Rutschen sie gut hinein und falls die Glätte Sie zu Boden reißt, achten Sie darauf, sich den Steiß dabei nicht zu stoßen oder zu brechen!
 Zuerst veröffentlicht am 30. Dezember 2006 in: Ullrichs Ecke


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