Thomas Mann: Bilse und ich

Man könnte mit Heinrich Wiegand beginnen. Wenngleich aus dem etwas dürftigen Grunde, dass der eben seinen elften Geburtstag feierte in Leipzig, als in München, in den „Münchner Neuesten Nachrichten“, der zweite und letzte Teil von „Bilse und ich“ erschien, eines polemischen Aufsatzes mit Selbstverteidigungspotential, der nebenher gleich wichtige grundsätzliche Fragen der Literatur und ihrer Deutung behandelte, Autor Thomas Mann. Heinrich Wiegand war viel später einer der nicht sonderlich vielen Deutschen, die Thomas Mann in einer für ihn schwierigen Zeit lobten und verteidigten. DDR-Leser hatten bereits 1978 das Vergnügen, den Sachsen kennen zu lernen, als der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar das Buch „Hermann Hesse: Briefwechsel mit Heinrich Wiegand. 1924 bis 1934“ herausbrachte. Das Buch ist bis heute ein Wundertier unter unfassbar zahlreichen Hesse-Büchern, denn nicht Volker Michels hat es herausgegeben, sondern Klaus Pezold und dieser Klaus Pezold wiederum zeichnet verantwortlich für ein Buch mit dem Titel „Am schmalen Rande eines wüsten Abgrunds“. Es enthält „Gesammelte Publizistik 1924 – 1933“ von Heinrich Wiegand. Und erschien in dem Leipziger Lehmstedt-Verlag, der mit eben solchen Büchern Unschätzbares leistet, wohl ohne damit eine Chance auf einen Platz in Bestseller-Listen erhoffen zu dürfen.

Nur zwei Texte Heinrich Wiegands gelten Thomas Mann, keiner der beiden erwähnt „Bilse und ich“ auch nur. Der erste heißt „Richard Wagner und Thomas Mann“ und erschien am 20. April 1933 in der Abendausgabe der Berner „Bund“. Der zweite heißt „Der Weg zu den Patriarchen. Bemerkungen zu Thomas Manns biblischem Roman“. Er erschien in der Beilage des „Bund“ am 10. Dezember 1933 und ist der letzte überlieferte Text von Wiegand, der im Druck erschien. Wiegand war am 10. März 1933 aus Nazi-Deutschland geflohen und wollte über die Schweiz eigentlich nach Lerici bei Spezia in Italien gelangen, wo sein Freund Ossip Kalenter lebte und wohin auch seine Familie folgen sollte. In Montagnola besuchte Wiegand Hermann Hesse und vier Tage nach seiner Ankunft, genau am 24. März 1933, erschienen in Hesses neuem Haus weitere Gäste: Thomas Mann nebst Gattin Katia, sie kamen aus Lugano. Mit ihnen reiste Wiegand am 28. März wieder ab. Thomas Mann versprach unterwegs, ihm seinen Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ zukommen zu lassen, später ließ er über seinen Verlag „Die Geschichten Jaakobs“ folgen und genau diesen beiden Zusendungen verdanken sich die genannten Artikel Wiegands.

Keine drei Wochen vor seinem neununddreißigsten Geburtstag starb Heinrich Wiegand am 28. Januar 1934 in Lerici, Hesse erfuhr es von Johannes Burkhardt und informierte Thomas Mann umgehend. Der schrieb an Eleonore Wiegand: „Dass der Arzt nicht einmal den Namen der Krankheit zu nennen weiß, ist charakteristisch genug. Wir kennen diesen Namen wohl, er lautet Deutschland …“. Wiegands Besprechung des ersten der Joseph-Romane enthält den Satz: „Die Verhöhnung des Sehers durch die Menge hat den Reiz eines sehr alten Brauches ...“. Der Blick zurück zu „Bilse und ich“ ist von hier aus weniger gewaltsam, als er erscheinen mag. Zuvor sei lediglich noch ein zweites Zitat, diesmal aus dem ersten Wiegand-Artikel, hier aufgenommen: „Seit Nietzsches „Fall Wagner“ dürfte kaum Bedeutsameres und Reizvolleres über das Thema gesagt worden sein als nun von Thomas Mann. … Thomas Mann ist Ordner des Erbes, seine Schrift ist Klärung, Überredung, Huldigung.“ Bleibt anzumerken, dass der Herausgeber der zehnbändigen Tagebuch-Ausgabe von Thomas Mann, Peter de Mendelssohn, für den Band 1933 – 1934 noch nicht wusste, dass jene Kritik Wiegands, die Thomas Mann unter dem 14. November 1933 festhält („Ungedruckte Besprechung von Wiegand“) und im Anmerkungsteil als im Thomas-Mann Archiv Zürich unveröffentlicht liegend bezeichnet, tatsächlich gedruckt wurde.

Ein Defizit an Informiertheit ist auch Harry Matter zu bescheinigen, der den Band I der Ausgabe „Thomas Mann: Aufsätze Reden Essays“ verantwortete (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1983), die Jahre 1893 bis 1913 umfassend. Fritz Oswald Bilse, zu dem es in den Anmerkungen zu „Bilse und ich“ gar keine Notiz gibt, nicht einmal einen Verweis darauf, dass man ein Minimum den Anmerkungen zu „Ein Nachwort“ entnehmen sollte, war deutlich jünger als angegeben. Nicht 1860 wurde er geboren, sondern erst 1878, und zwar am 31. März. Damit gehörte er zu einem Autoren-Jahrgang voller berühmter Namen: von Martin Buber und Alfred Döblin über Egon Friedell und Georg Kaiser bis Carl Sternheim und Robert Walser. Neben denen der Bilse natürlich wie ein Sandkorn neben einigen Matterhörnern wirken muss. Und dennoch hat er Aufnahme in Killys Literatur-Lexikon gefunden, den dortigen Beitrag über ihn verfasste Reinhard Tenberg. Und der heute kaum noch vermeidliche Artikel in der Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA kennt sogar das Todesjahr 1951, wenn auch kein genaues Datum. Bilse starb in Eberswalde. Das bisschen Nachruhm, das überhaupt auf ihn fällt, leitet sich ausschließlich aus dem Zusammenhang her, in den er ohne eigenes Zutun mit Namen und Werk Thomas Manns geriet.

Bilse, der auch unter den Pseudonymen Fritz von der Kyrburg und Fritz Wernthal publizierte, legte als Leutnant des preußischen Heeres 1903 mit 25 Jahren einen ersten Roman vor. Er hieß „Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild“. Wegen seiner Kritik am Offizierskorps, die kaum verhüllt und verschlüsselt in seiner eigenen Garnison spielte, zog er sich einen Prozess auf den Hals, wurde unehrenhaft entlassen und mit einem halben Jahr Haft zusätzlich bestraft. Dem zeitweiligen Erfolg des Romans war das, wie üblich in vergleichbaren Fällen, alles andere als schädlich, schon 1904 waren 150.000 Exemplare gedruckt. Über wie viele der heute bekannten Informationen zu Bilse Thomas Mann 1905/1906 selbst verfügte, ist schwer zu sagen. Der Roman wurde ins Französische und ins Russische übersetzt, was seine Qualitäten weder belegt noch in Frage stellt. Und dennoch möchte ich vermuten, dass Thomas Mann vielleicht etwas milder geurteilt hätte, was die Person Bilse betrifft, wenn er die Person wirklich gemeint hätte. Fritz Oswald Bilse aber musste als Vehikel dienen, um Thomas Mann die öffentliche Verhandlung einer eigenen Angelegenheit zu ermöglichen. Und die betraf vor allem „Die Buddenbrooks“.

Ein Ankläger namens Enrico von Brocken sprach in einem Verfahren gegen den Schriftsteller Johannes Dose (23. August 1860 bis 17. Februar 1933) von „Bilse-Romanen“ und meinte damit das, was man gemeinhin Schlüsselroman nennt. Als Beispiel dafür nannte er mehrfach ausdrücklich „Die Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Der reagierte gallig: „Ich verzeihe es Mittelstadtadvokaten und alten Jungfern, wenn sie ein Kunstwerk nicht losgelöst aus bürgerlichen Beziehungen zu würdigen vermögen. Den Künstler, der dieser männlichen Sachlichkeit unfähig ist, verachte ich.“ Diesen aus dem Vorwort zur ersten Auflage stammenden Passus hat der Autor aus dem erweiterten Vorwort zur vierten Auflage komplett gestrichen. Für die broschierte Ausgabe strich er weitere Passagen aus dem Urtext der „Münchner Neuesten Nachrichten“, die Fassungen verhalten sich zueinander wie ein normaler Wutausbruch und einer, den man eine Nacht überschlafen hat. Die normalen sind für Außenstehende oft herrlich unausgewogen, dennoch neigt das denkende Publikum eher dazu, den Wütenden Souveränität in dem Sinn abzuverlangen, dass sie den Anschein erwecken, über den Dingen zu stehen. Man steht dort nur leider nicht automatisch fest und sicher und der moderne Psychotherapeut sagt eher: Lass es raus.

„Ich mache auf den Irrtum aufmerksam, der darin besteht, eine Wirklichkeit mit einem künstlerischen Nachbilde derselben praktisch zu identifizieren.“ liest man im erweiterten Vorwort. Und dann im Text selbst, noch einmal über den Advokaten: „Der Bildungsgrad, den zu erwerben er Gelegenheit genommen hat, gestattet ihm nicht, zu wissen, dass stets neben der eigentlichen Literatur eine andere, bedenkliche, eine Bilse-Literatur, wenn man will, bestanden hat … Hoch aufgerichtet, in streitbarer Einfalt, steht er da. - Und so wollen wir ihn stehen lassen.“ Man könnte es als harsche Arroganz sehen, wenn nicht der Vorwurf der Arroganz meist von den kleineren gegen die größeren Geister gerichtet würde, es ist die Schutzbehauptung der Kleingeister gegen alle, denen sie nur mit Minderwertigkeitskomplexen begegnen können. „Wenn man alle Bücher, in denen ein Dichter, ohne von anderen als künstlerischen Rücksichten geleitet worden zu sein, lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat, auf den Namen Leutnant Bilses taufen wollte, so müsste man ganze Bibliotheken von Werken der Weltliteratur unter diesem Namen versammeln...“. Thomas Mann fährt schwerste Kaliber auf: Goethe und Turgenjew und er hat natürlich recht. Dennoch machte seine Sicht bis heute keine Schule. Kläger und Klägerinnen bekommen immer wieder einmal recht, wenn sie sich gegen ihr vermeintliches oder tatsächliches Porträt wehren.

Thomas Mann kennt natürlich die Argumente, die in derlei Debatten eine Rolle spielen, die Erfindungsgabe beispielsweise, und er hat eine klare Meinung dazu: „Es scheint gewiss, dass die Gabe der Erfindung, mag sie dichterisch sein, doch bei weitem nicht als Kriterium für den Beruf zum Dichter gelten kann.“ Turgenjew, sein Beispiel Zwo, sagte von sich selbst, er habe fast keine Erfindungsgabe. Und Shakespeare, den Thomas Mann „den ungeheuersten Fall von Dichtertum“ nennt? „Auch die krausen Intrigen seiner Lustspiele sind nicht von ihm erdacht. Er arbeitete nach alten Theaterstücken, nach italienischen Novellen … Er fand viel lieber, als dass er erfand.“ Den Dichter macht nicht die Erfindung, sondern die „Beseelung“. Dieses Wort zieht Thomas Mann heran, um den Unterschied kenntlich zu machen. „Die Wirklichkeit überschätzt dabei den Grad, in welchem sie für den Dichter, der sie sich aneignet, überhaupt noch Wirklichkeit bleibt – besonders in dem Falle, das Zeit und Raum ihn von ihr trennen.“ Und er schießt dann doch ein wenig übers Ziel hinaus, wenn er behauptet: „Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe – was hat die Sache noch mit dem Satz tun tun? Philisterei ...“. Das hätte marxistischen Erkenntnistheoretikern gar die Haare grau werden lassen, die lasen aber wahrscheinlich eher selten Thomas Mann.

„Alle Gestalten einer Dichtung, mögen sie noch so feindlich gegeneinander gestellt sein, sind Emanationen des dichtenden Ich …“. Selbst Shakespeare, so Thomas Mann, war ein bisschen Shylock. Man habe zu begreifen, dass es objektive Erkenntnis im Reich der Kunst überhaupt nicht gibt. Das wäre dann eine etwas andere Baustelle, wie man heute flott sagt, um die es dem Autor gar nicht ging. Er hat ein anderes Feindbild: „Schon als Kind hat die Publikumssitte, angesichts einer absoluten Leistung nach Persönlichem zu schnüffeln, mich rasend gemacht. … Noch immer forscht man: Wer soll es sein?“ Man achte auf die Wortwahl. Da steht nicht: „Als Kind machte mich...“ , sondern „Schon als Kind …“. Das Rasen ist also geblieben, so dezent verrät ein Meister sich. „Ich bin nicht Ästhet genug, um mit einem schönen Stil alles entschuldigen zu können. Ich leugne nicht, dass es gut geschriebene Niederträchtigkeiten gibt.“ Wiewohl er sich hier eine Namensnennung verwehrt, hat er den Namen dennoch genannt, der jedem sofort einfällt, der mit der deutschen Literaturgeschichte halbwegs vertraut ist. Thomas Mann hat das Vorwort zur ersten Auflage der Broschüre „Bilse und ich“ datiert mit: „Am 50. Todestage Heinrich Heines“. Der war es, der Vorwürfen zerknirscht recht gab und zugleich fragte: Aber war es nicht schön geschrieben?

Fast wie Heine in seinen besten Momenten spitzt Thomas Mann nun zu: „Der treffende Ausdruck wirkt immer gehässig. Das gute Wort verletzt. … Die Wirklichkeit wünscht mit schlappen Phrasen angesprochen zu werden; künstlerische Genauigkeit macht ihr Gift und Galle.“ Man weiß längst, mit Fritz Oswald Bilse hat das alles nichts zu tun, rein gar nichts. Der Autor spricht noch seinen spätesten Gegnern vorausschauend entgegen: „Nichts unkünstlerischer als der Irrtum, dass Kälte und Leidenschaft einander ausschlössen!“ Sogar ein Ausrufezeichen kommt zum Einsatz, wahrlich keine Wunderwaffe des Lübeckers. Und dann erteilt er sich Generalabsolution in seinem Zorn: „Nichts ungeheuchelter, nichts tieferen Ursprungs als die enthusiastische Empörung, in der er sich aufrichtet, wenn eine Wirklichkeit in plumper Eigenliebe die Hand auf das Werk seiner Einsamkeit zu legen wagt.“ Auch das Wort Freiheit darf final noch aufmarschieren, „jene innere Unabhängigkeit, Ungebundenheit und Einsamkeit, welche die Vorbedingung jeder neuen und ursprünglichen Leistung ist“. Weil Thomas Mann heute vor sechzig Jahren starb, soll ihm ein „Empörte Enthusiasten aller Länder, vereinigt euch!“ nachgerufen werden.


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