Walter Muschg: Gedenkrede auf Jean Paul

„Ach, Gott, wenn ich bedenke, wie viel der Herr Legationsrat hier, hier auf dieser Stelle geschrieben hat! Und wenn er sich hätte ausschreiben sollen! Funfzig Jahre noch hätte er zu schreiben gehabt, das hat er mir selber oft gesagt, wenn ich ihn bat, sich zu schonen und das Essen nicht kalt werden zu lassen. Nein, nein, so ein Mensch wird nicht wieder geboren. Er war nicht von dieser Welt.“ Am 17. August 1826 soll das Andrea Dorothea Rollwenzel (1756 – 1830) zu Wilhelm Müller (1794 – 1827) gesagt haben. Sie war die Wirtin der „Rollwenzelei“ bei Bayreuth, er der Dichter mit der „Winterreise“ und „Die schöne Müllerin“. Als beide miteinander sprachen, trug der Dichter schon den Keuchhusten in sich, der letztlich zu seinem Herztod wenige Tage vor seinem 33. Geburtstag führte. Gesprächsgegenstand aber war der als Johann Paul Friedrich Richter am 21. März 1763 in Wunsiedel im Fichtelgebirge geborene Jean Paul. Fast auf den Tag seit neun Monaten tot, der Frau Rollwenzel aber unvergesslich und nicht nur ihr einstweilen. Vom 14. November 1825 haben wir einen recht ausführlichen Bericht von Richard Otto Spazier (1803 – 1854), der 1825 und 1826 bei seinem Onkel Jean Paul lebte. Von ihm stammen „Jean Paul Friedrich Richter in seinen letzten Tagen und im Tode“ (1826) und „J. P. Fr. Richter. Ein biographischer Commentar zu dessen Werken“ (1833), letzterer übrigens Ludwig Börne gewidmet, der am 2. Dezember 1825 die berühmte Trauerrede für Jean Paul in Frankfurt am Main gehalten hatte.

Am 21. März 1963 hielt Walter Muschg in Bayreuth seine „Gedenkrede auf Jean Paul“. Wunsiedel, Hof und Bayreuth veranstalteten eine gemeinsame Feier zum 200. Geburtstag Jean Pauls und der Schweizer Muschg (21. Mai 1898 – 6. Dezember 1965), der von 1936 bis zu seinem Tode die Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel inne hatte, sprach Bleibendes. Es gibt diese Rede gedruckt unter anderem als „Zweiter Francke-Druck“ vom Neujahr 1964, Satz aus der Monotype Bell-Antiqua, Druck auf weiß holzfrei Federleicht-Werkdruckpapier der Firma Matzenauer & Co., St. Gallen, ausgeführt durch die Offizin Benteli AG in Bern-Bümplix, die Bindearbeiten besorgte die Buchbinderei R. Gygax & Co. in Bern. Das Büchlein selbst sieht ziemlich normal aus, von hinten fast wie ein Exemplar der Insel-Bücherei, mir fehlt halt leider die bibliophile Andacht. Walter Muschg aber hätte der Frau Rollwenzel vermutlich widersprochen, wenn auch nicht harsch, war er doch der Meinung, Jean Paul sei mit 42 Jahren verstummt, auch wenn er „noch einige von ätzendem Hohn getränkte Kleinwerke“ schrieb und eine „Fülle journalistischer, pädagogischer und philosophischer Schriften“ dazu, dazwischen sogar das Roman-Bruchstück „Komet“. Verstummen, lernen wir, kann vielstimmig sein und andauern.

Walter Muschg, dessen wunderbare „Tragische Literaturgeschichte“ und „Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays“ bei Diogenes wieder zu haben und jeden Cent ihre Preises wert sind, sprach mit begnadeter Souveränität über den Jubilar Jean Paul. Die dreißig Druckseiten sind, soweit ich es überschaue, seine umfangreichste zusammenhängende Äußerung über den Franken, auch wenn das Personenregister der „Tragischen Literaturgeschichte“ 34 über das gesamte Buch verteilte Seitenzahlen ausweist, sechs davon mit dem kleinen f, das auf die folgende Seite verweist, wie wir alle in der Zitierschule gelernt haben. 1963 war es noch nahe liegend, hundert Jahre rückwärts auf 1863 zu schauen, als Ruhmreden für Jean Paul so ausfielen, dass der Schweizer Muschg resümierte: „Wir erschrecken heute vor solchen Worten. … Was sie als herrliche Zukunft vor sich sahen, ist für uns furchtbare Vergangenheit.“ Dem ist schlicht zuzustimmen, wie auch der korrigierende Hinweis des Redners: „Vollends Jean Paul ist immer ein Außenseiter des deutschen Parnasses gewesen...“. Wirklichen Ruhm und fast kultische Verehrung aber erlangte er nach dem „Hesperus“ und der Umstand, dass er in Weimar weder bei Goethe noch bei Schiller erhofften Beifall fand, hob für ihn selbst das alles fast komplett auf. Muschg macht klar, dass die Rezeption Jean Pauls Phasen erlebte, die immer nur eine, oder wenige Seiten seines Wesens und Werkes heraushoben.

„Kein Zufall auch, dass dieser schwärmende Jean Paul die Schmetterlinge liebt.“ Lesen wir und denken sofort an einen, der die Schmetterlinge ebenso liebte, so sehr, dass seine heutigen Vermarkter aus allen einschlägigen Äußerungen im Werk einen eigenen Band destillieren konnten: Hermann Hesse. Kein Zufall, dass der Jean Paul sehr mochte, diesen Jean Paul. Beiden schien, in den Worten Jean Pauls „der Papillon ohne Magen und Hunger zwischen Blüten und Blumen zu gaukeln“, was natürlich mehr über die Nöte ewig hungriger Dichter als über Schmetterlinge besagt. „Wir begreifen es kaum mehr, wie man einst nur den Dichter des idyllischen Humors und der verzückten Schwärmerei in ihm sehen konnte. Ein ganz anderer Jean Paul, der uns als der wahre erscheint, hat sich von seinem populären Bild abgelöst.“ Dass das so gekommen ist, bringt Muschg mit Eduard Berend (5. Dezember 1883 - 23. September 1973), mit Max Kommerell (25. Februar 1902 – 25. Juli 1944) und Walther Rehm (13. November 1901 – 6. Dezember 1963) in Zusammenhang. Sie haben erfolgreich daran gearbeitet, „den Totgeglaubten wieder lebendig zu machen“. Das Fazit des neuen Bildes lautet, knappst umrissen: „Er ist kein realistischer Erzähler. Die vitale Sinnlichkeit des in die Welt verliebten Epikers ist ihm völlig fremd.“

„Auch Jean Pauls Humor und Satire sind eine Art des Schwebens, des freien Spiel mit der Wirklichkeit … Als körperlos schwebender Phantasiemensch ist er nicht einmal imstande, die objektive Wirklichkeit in eindeutig-präzisen Worten wiederzugeben. Statt in genau zutreffenden Beschreibungen erzählt er in abgeleiteten Metaphern und Vergleichen.“ So beschreibt Muschg das Phänomen, auf das rasch jeder stieß, der sich mit Sprache und Stil Jean Pauls befasste. Nicht wenige Vergleiche sind ihrem Nutzer selbst erläuternde Fußnoten wert, was die Lektüre keineswegs erleichtert. Für die englische Romantik in Rückbezügen zum Barock war, wenn ich mich recht erinnere an Lesestoffe der Studienzeit, für solche Art der Vergleiche, der Bilder, das Wort englische Wort „conceit“ im Umlauf, Concetto auf italienisch, dies Wort dürfte Tauglichkeitswert auch für die Metaphorik Jean Pauls besitzen, dem natürlich Barockes auch eignet. „Der „Teufel der Gleichnisse“ habe ihn bisweilen gepackt, weiß Muschg von Jean Paul zu zitieren. „Alle seine Bilder haben das gemeinsam, dass sie die objektive Wirklichkeit ins Innerliche, Geistige übersetzen . … Auch wenn er von der Schönheit der Erde schwärmt, ist er außerstande, sie sichtbar zu machen.“ Das ist eine mehr als bemerkenswerte Feststellung.

Muschg scheut sich nicht, es Allotria zu nennen, was Jean Paul mit seinen Vorreden, Vorberichten, Beiblättchen, Extrazeilen, Nachkapiteln, Anhängen, mit „Billets an meine Freunde“ treibt. Immer gelingen ihm freilich rasante Erfindungen und doch: „Fortdauernd spricht der Dämon des Unglaubens, des Hohns, des Grauens vor dem Dasein in seine Schönheitsträume hinein.“ „Zwischen Weinen und Lachen, Rausch und Spott hin- und hergezogen, ist er der Meister des Grotesken, der unheimlichen Verquickung des Erhabenen mit dem Lächerlichen.“ Napoleon wird die Aussage zugeschrieben, das sei von einem zum anderen nur ein Schritt. „Sein Groteskhumor öffnet den Ausblick ins Bodenlose.“ Muschg stellt das Bild eines 1963 hochmodernen Autors vor seinen Hörern auf: „Dieses Leiden des modernen Menschen an der Sinnlosigkeit hat Jean Paul als einer der ersten gekannt und gestaltet.“ „Neben den Äußerungen des modernen Nihilismus wirkt Jean Pauls Verzweiflung allerdings meist noch sentimental, als in der Zeitsprache befangene Kehrseite seiner romantischen Phantasiekunst.“ Jean Paul hatte neben allem auch eine Fähigkeit, die seltener ist, als man annimmt: Distanz zu sich selbst. Er konnte sich über Bücherschreiber lustig machen und damit über sich selbst.

Der Gedenkredner Muschg kommt hier wie selbstverständlich auf das Schulmeisterlein Wutz und auf Quintus Fixlein, von denen der eine sich seine Bibliothek selber schreibt, weil er sich fremde Bücher nicht kaufen kann in seiner tiefen Armut, während der andere sonderbare Statistiken erarbeitet, er „stellt gelehrte Untersuchungen an der Bibel an: darüber, wo sich ihr mittelster Buchstabe befindet, in welchem Bibelvers alle Buchstaben vorkommen und wie oft jeder Vokal in der Heiligen Schrift auftritt“. Als Krone seiner Parodien auf Dichtung sieht Walter Muschg Jean Pauls „Leben Fibels, des Verfasser der Bienrodschen Fibel“: „Das Leben Fibels ist das erste surrealistische Dichtwerk in deutscher Sprache, ein Werk der Verzweiflung am Wort, des Gelächters über alle Literatur.“ Danach kann dann nicht mehr viel folgen und das meint Muschg eben, wenn er vom Verstummen spricht trotz fortwährender Produktion. Andrea Dorothea Rollwenzel hat ihre Behauptung mit den fünfzig Jahren ja nicht datiert, sie muss, selbst wenn sie es oft hörte, wie sie sagt, ja nicht zwingend aus den späten Jahren stammen, den letzten zwanzig, die Muschg meint und auch begründet. „Die Resignation ist das eigentlich Moderne an ihm.“

„Wer liest heute noch Jean Paul?“ hörten die Feiernden am 21. März 1963 in Bayreuth fragen und sie ließen sich wohl gern überreden, dass manches auf eine Renaissance deute. Fünfzig und mehr Jahre später ist klar, es ist zu keinem neuen Durchbruch gekommen, auch das große Festjahr 2013 hat es nicht geschafft. Was dennoch immer bleiben wird, hat Walter Muschg sehr prägnant gesagt: „Jean Paul hat Seiten von beispiellos sublimer Geistigkeit geschrieben, wie man sie auch bei Goethe nicht findet.“ Und er hat „etwas in der deutschen Literatur Einzigartiges geschaffen: den tragisch untermalten humoristischen Roman“. Der große Schweizer Robert Walser assistiert zum Schulmeister Wutz: „das vielleicht der schönste kleine Roman ist, der aus dem Schoß des erzählenden Deutschlands hervorging.“ Und zu den „Flegeljahren“, in denen ein Larventanz vorkommt, „der wohl das Tiefsinnigste ist, das je geschrieben wurde.“ Günter de Bruyn, der nicht nur eine romanhafte Biografie Jean Pauls verfasste, sondern auch den vergnüglich pädagogischen Versuch „Lesefreuden mit Jean Paul“, war sich sicher: „Und wenn der ehemalige Erfolgsautor Jean Paul seit langem weithin als unlesbar gilt, sagt das nichts über den Wert seiner Bücher. Außerdem stimmt es nicht. Man muss ihn nur zu lesen verstehen.“ Das passt als Schlusswort zum 190. Todestag von Johann Paul Friedrich Richter wunderbar.


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