Rudyard Kipling: Nur so Märchen

Seine Danksagung an Rudyard Kipling nach dessen Tod beendete Arnold Zweig 1936 mit dem Satz: „Für uns bleibt er immer über dem Horizont, ein Stern, der nicht trügt und nicht erlischt.“ Und immer neue Lesergenerationen wachsen dem Nobelpreisträger von 1907 zu, wenn Kinder in das Alter kommen, wo Abenteuer in fernen Ländern zur liebsten Lektüre werden. „Das Dschungelbuch“ und „Das neue Dschungelbuch“, „Die schönste Geschichte der Welt“ und „Kim“ – das sind Titel Kiplings, die unvergänglich zu nennen kein Wagnis darstellt. Waltraud Lewin hat sich auf diesen Seiten ganz schlicht bekannt: „Verliebt in Kim“ (JW vom 13. 9. 1988) Und auch ich bekenne sehr gern die besondere Neigung zu Kipling, die mich sogar veranlasste, meiner Tochter ein Kinderbuch vorzuenthalten und es in meinem Regal zu belassen. „Das kommt davon“ heißt es, es trägt die Nummer 95 von „Robinson’s billigen Büchern“. Zu schön waren und sind die Geschichten „Wie das Elefantenkind seinen Rüssel bekam“, „Wie das Kamel seinen Buckel bekam“, „Wie das Gürteltier entstanden ist“, „Die Katze geht ihren eigenen Weg“ und „Wie der erste Brief geschrieben wurde“. Sie und die sieben weiteren dazu gehörigen „Stories“ präsentiert jetzt die Reihe „Fabula“ des Buchverlags Der Morgen in der alten Übersetzung von Sebastian Harms.

Das allein wäre schon ein löbliches Unternehmen, doch setzt der Verlag noch eins drauf: er bringt „Nur so Märchen“ mit den verkleinerten Originalillustrationen Kiplings und seinen dazu geschrieben Bilderklärungen. Die sind jede für sich eine Perle. Beispiel: „Das Ding, das wie ein Löwe aussieht, ist wirklich ein Löwe, in Stein gehauen; und das Ding, das wie eine Milchkanne aussieht, ist wirklich ein Stück von einem Tempel oder einem Haus oder so etwas.“ Und: „Gelber Hund Dingo ist schwarz gezeichnet, denn ich habe keine Erlaubnis, diese Bilder mit richtigen Farben aus dem Tuschkasten zu malen, und außerdem wurde Gelber Hund Dingo so furchtbar schwarz von dem Rennen durch die Kohlen und die Schlacken.“ Aufmerksame Leser werden nicht nur rasch die paar Druckfehler finden, die das schöne Buch leider verunzieren, sie werden auch Spuren des Konservatismus bemerken, dem Kipling anhing. Am deutlichsten vielleicht in der ansonsten herrlichen Schlussgeschichte „Der Schmetterling, der mit dem Fuß stampfte“. Sei’s drum: Kiplings Variante der Entstehung des Alphabets muss man einfach kennen und die haarsträubende Geschichte, wie Taffimai Metallumai (wir wollen sie aber wieder Taffy nennen, Liebling) den ersten Brief der Weltgeschichte „schrieb“, ebenso.

Kiplings „Stories“ haben den Ton mündlichen Erzählens, sie haben auch da und dort den Zeigefinger gerade so deutlich, wie es einem Sprössling des viktorianischen England verziehen werden kann. „Nur so Märchen“ – wir zwinkern mit Kipling. Genau an dieser Stelle endete vor nunmehr 26 Jahren meine kaum Kritik zu nennende Annotation des Buches mit den zwölf Geschichten, der letzte Satz lieferte die Überschrift „Kiplings Zwinkern“. Es war, das wurde mir erst nach Zuhilfenahme meines Archivs bewusst, mein letzter Beitrag für die monatlich erscheinende Literaturbeilage der DDR-Tageszeitung JUNGE WELT, er erschien am 28. November 1989, Ausgabe Nummer 280 des Jahres. Er entschädigte mich auch selbst ein wenig dafür, dass drei Jahre früher zwei andere Zeitungen keine Verwendung hatten für ein Gedenken zu Kiplings fünfzigstem Todestag. Das erwähnte Robinson-Buch ist in meinem Besitz geblieben, eine zweibändige Ausgabe „Die phantastischen Erzählungen“ ergänzte meinen kleinen Kipling-Bestand. Und heute? Heute will mir die Übersetzung von Sebastian Harms streckenweise etwas anstrengend vorkommen, sie reproduziert wohl den mündlichen Erzählton, stellt sich aber einer flüssigen Lektüre mehr als einmal in den Weg. Noch immer köstlich sind die kursiv gedruckten Texte zu den eigenhändigen Illustrationen.

Aus der zwölften und letzten Geschichte nehme ich als zusätzliches Beispiel dies: „Suleiman-ben-Daud habe ich nicht gezeichnet. Er ist gleich neben dem Bild, aber sehr erstaunt.“ So verhielt es sich einst mit dem berühmten Gemälde „Lenin in Polen“, das einem eifrigen Betrachter die Bemerkung entlockte: „Lenin ist ja nirgends zu sehen.“ Der Museumsführer darauf: „Deshalb heißt das Bild so. Weil Lenin in Polen ist.“ Kipling hat diese Geschichten und vermutlich etliche andere auch seinen Kindern Josephine, Elsie und John erzählt, er hat immer wieder zwischendrin an ihren Erfahrungshorizont angeknüpft, ihr Wissen beschworen und sie so bis zu einem bestimmten Punkt zu Mitwissern gemacht. Seine Zeichnungen zu den Geschichten ordnet die knappe Nachbemerkung schlankweg der englischen Kunstgeschichte zu: „Die Tuschzeichnungen des Autodidakten gelten heute als bemerkenswerte künstlerische Leistungen; stilistisch sind sie zwischen den Präraffaeliten und dem Jugendstil Beardsleys angesiedelt.“ Aubrey Beardsley starb mit nicht einmal 26 Jahren vier Jahre vor dem Erscheinen von „Nur so Märchen“, gewisse Parallelen fallen in der Tat ins Auge. Wobei das Format des Büchleins teilweise erhebliche Verkleinerungen der Originale erzwingt und so manches dem Blick schlicht entzieht.

In das Werkstatt-Geheimnis der Zeichnungen führen auf eigene Weise die Stories ein, die vom ersten Brief der Menschheitsgeschichte und der Entwicklung des Alphabets berichten. Das mag im Detail und auch darüber hinaus wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, es liefert jedoch höchst poetisch kindgerechte Erklärungen, wie es gewesen sein könnte. Anachronismen sind einkalkuliert, man muss gar nicht eigens die Frühstücksrunde der vorweltlichen Damen erwähnen, auf die der Fremde mit dem Brief am Höhleneingang trifft. So weit waren Höhlenbewohner noch nicht in Richtung Kleinfamilie fortgeschritten. Aber herrlich sind die Missverständnisse, die dieser Brief auslöst. Herrlich sind die Frauen, die dem Fremden Dreck in die Haare schmieren und zu sechst auf ihm sitzen, um seine Gegenwehr zu unterbinden. Wie malt man Biber, wenn man keine Biber malen kann? Wie malt man einen Speer in der Höhle, wenn man die Höhle nur von außen malt? Rudyard Kipling hat mit dem kleinen Mädchen Taffimai Metallumai, genannt Taffy, ein zauberhaftes Wesen geschaffen und der Fremde, ein Tewara, wird am Ende erfolgreich in den Stamm der Tegumai integriert. Den Papa, der wie sein Stamm heißt, stattet er mit welthistorischer Voraussicht aus: „Ich glaube, wir haben das große Geheimnis der Welt gefunden.“

Den Wächtern neupädagogischer Gralsburgen werden Kiplings Geschichten bisweilen sauer aufstoßen, denn nicht nur das neugierige und deshalb ewig fragende Elefantenkind wird ständig geklapst von Eltern, nahen und fernen Verwandten. Auch von Taffy heißt es: „Und der Name seiner kleinen Mädchentochter war Taffimai Metallumai, und das bedeutet: Kleine Person ohne irgendwelche Manieren, die geklapst werden müsste“. Und ergänzend: „… sie wurde nicht halb so viel geklapst, wie gut für sie gewesen wäre“. Hundert Jahre nach Rudyard Kiplings Geburt galt in (West-)Deutschland die klapsende Kleinfamilie als Keimzelle des Faschismus, Taffimai Metallumai hätte neu übersetzt werden müssen mit: Kleine Person ohne irgendwelche Manieren, die auf Kommunarden-Tischen im Salatdressing spielen darf. Das geklapste Elefantenkind jedenfalls lernt sehr rasch die elementaren Vorzüge eines Rüssels kennen: „Es zog seinem großen Onkel Strauß die Schwanzfedern aus und packte seine große Tante Giraffe bei den Hinterbeinen und schleifte sie durch einen Dornbusch“. Man kann sich Schlamm auf den Kopf werfen und Bananen pflücken, die man sonst nicht erreicht hätte. So verwundert es kaum, dass alle die Elefanten mit den alten Nasen sich eine neue holen gingen am Limpopo-Fluss, wo das Krokodil wohnt.

In der zweiten Geschichte erfährt der geneigte Leser, warum Walfische niemals Männer oder kleine Mädchen essen. Und was nicht in der Geschichte steht, steht neben dem Bild: „Der Walfisch hieß Lachemund und der Seemann hieß Herr Heinrich Albert Seetüchtig oder, was dasselbe ist, Baccalaureus. Der kleine Fisch steckt hinter des Walfisches Ohr, sonst hätte ich ihn auch gezeichnet.“ Die Phantasie darf auch heftiger über die Stränge schlagen: „und dann entstand da ein magischer Kürbis, der sich zu einer riesigen weißen Flamme verwandelte.“ Da geht es schon um das faule Kamel, das sich einfach nicht nützlich machen will. Während das Rhinozeros eine Haut mit Knöpfen am Bauch hat, die bedarfsweise abgelegt werden kann. Und so geht es durch das Buch. In der Geschichte vom Leoparden, der seine Flecken bekommt, gibt es auch einen, huch, Neger, also einen schwarzafrikanischen Farbigen ohne Migrationshintergrund. Den fragt der Leopard, nachdem er von den Vorteilen der Flecken unterrichtet wurde, warum er sich nicht auch selbst fleckig gemacht habe. Die Antwort: „Oh, einfach Schwarz passt besser für einen Neger“, sagte der Neger.“ Da schlag doch der Blitz in die Savanne! Zum Ausgleich nennt Mammi Jaguar ihren Sohn Stoffel, was der Zentralrat der Jaguare sicher nicht ohne Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen hat.

Rudyard Kipling berichtet außerdem von Ebbe und Flut, die nur deshalb entstanden, weil der Älteste Magier nicht auf Pau Amma achtete, den Krebs, der sich seitlich davon machte, als alle anderen ihre Spiele zugeteilt bekamen. Er berichtet von der Katze, die allein spazieren ging und es dennoch schafft, sich einen Haustierplatz in der Höhle zu erobern. Und immer gibt es dazu die Zeichnungen, auf denen etwas fehlt, etwas nicht zu erkennen ist oder ganz anders aussieht, als es aussehen sollte. „Zuweilen zieht der Fischer vom Mond zu fest, dann bekommen wir Springfluten, und zuweilen zieht er etwas zu wenig, und dann bekommen wir Springebben, aber fast immer macht er es sehr sorgfältig, aus Furcht vor dem Ältesten Magier.“ Auf dem Mond gibt es auch eine Ratte, die an des Fischers Seil nagt. Und die Babys des Krebses Pau Amma mögen es gar nicht, wenn sie in Einmachegläsern nach Hause getragen werden. Bleibt das Känguruh, das vor der Rechtschreibreform hinten ein h hatte und außerdem völlig anders aussah, nämlich mit vier kurzen Beinen. Warum wollte es unbedingt ganz anders sein? „Känguruh hat keinen rechten Namen außer Prahlhans. Seinen richtigen Namen hat es verloren, weil es so stolz war.“ Heute ist Rudyard Kiplings 150. Geburtstag. Seinen Namen hat er offensichtlich noch immer nicht verloren.


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