Jack London: Fischpiraten

Wer sich die sieben Geschichten des Bandes her nimmt, der Originaltitel lautet „Tales of the Fish Patrol“, was einst der DDR-Verlag Neues Leben Berlin ganz brav und tapfer mit „Geschichten von der Fischereipatrouille“ wiedergab (Übersetzung: Günter Löffler), das kommt bei Ullstein halt ein wenig reißerischer, muss sich in unangenehm massiver Weise mit seemännisch-seglerischem Fachjargon plagen lassen. Mir rief das dunkel all die Glossare in Erinnerung, mit denen die Seefahrer- und Piratenromane versehen waren, die ich in meiner frühen Jugend las und zwar mit forcierter Begeisterung, letztlich aber neige ich dazu, das heute als Manier zu sehen, der keine, schon gar keine künstlerische Notwendigkeit innewohnte. Es erschwert, falls man hinten nachblättert, das Lesen, es erschwert, falls man das unterlässt, das Verständnis, denn man weiß als Landratte ohne Seglerschein schlicht nicht, was dieser selbstverliebte und heldenhafte Bube da treibt, der in dichter Folge seine saucleveren Manöver und Tricks in der Schaluppe beschreibt. Denn der Ich-Erzähler ist gerade 16 Jahre alt und ähnelt seinem Schöpfer zugleich sehr und auch nicht.

Das ist überhaupt so eine Sache bei Jack London. Sehr viele namhafte Autoren, die ein derart abenteuerliches Leben geführt haben, wie er, gibt es nicht, viel mehr waren stille Schreibtischtäter, die sich ihre Abenteuer am Kamin oder unter Zuhilfenahme diverser Stimulanzen selbst erfanden und darin hinreichend Befriedigung. London aber ist selbst voller Skorbut-Beulen aus Alaska zurückgekehrt, London hat selbst bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen, war Räuber, hat die Welt umsegelt und im Londoner East End den Wallraff gespielt. Nur im Leben von Miguel de Cervantes Saavedra ging es noch bunter, wilder und gefährlicher zu, sein vierhundertster Todestag hat eben erst die erwartbare mediale Aufmerksamkeit gefunden. Der Nebeneffekt: Nicht nur Amateur-Deuter sind permanent auf der Suche nach der Entsprechung von Leben und beschriebenem Leben. Was in den Fällen zuungunsten der Literatur ausgelegt wird, die nicht wunschgenau mit dem Urbild, dem vermeintlichen, übereinstimmen. Doch selbst deutlich autobiographisch ausgelegte Romane und Erzählungen dürfen eben keinesfalls als Lebens-, bestenfalls als Schreibenszeugnisse gelten.

So trivial das scheint, es wird immer wieder und ohne schlechtes Gewissen vergessen. Macht man sich also beispielsweise die Mühe zu erkunden, wie es denn im Leben Jack Londons, nicht in den Geschichten, die er später darüber verfasste, zu jenem immerhin bemerkenswerten Schritt kam, der ihn vom eigenen Mittun bei der Austernräuberei an die Seite jener führte, die den Räubern das Handwerk legen wollten, stößt man auf zwei Phänomene. Das erste: keine einzige Biographie, ich habe sieben aus ganz unterschiedlichen Entstehungsjahren zu Rate gezogen, belegt ihre diesbezüglichen Aussagen mit belastbaren Quellen. Eine referiert, ohne dies als ihre Quelle anzugeben, völlig ungeniert die erste der „Tales“, die in der hier besprochenen Übertragung den Titel „Weiß und Gelb“ trägt. Das zweite Phänomen: Allein durch ihre Formulierung des Vorgangs suggerieren sieben Biographen genau sieben verschiedene Vorgänge mit nicht einmal immer gleichen Motiven dahinter. Die kurioseste, weil sich selbst in Frage stellende Darstellung behauptet, Jack London sei vor eine Wahl gestellt worden: Haft oder Seitenwechsel.

Wenn das so gewesen wäre, hätte der Biograph mindestens begründen müssen, warum ausgerechnet der noch minderjährige Jack London von Haft bedroht gewesen wäre, während alle anderen strafmündigen Räuber mit Bußgeldern zu rechnen hatten, von denen ein Anteil, die Rede ist mehrfach von fünfzig Prozent, aber auch hier wird nirgends eine Quelle für solche Zahlen genannt, zur Honorierung der Patrouille verwendet wurde. Ein Biograph erweckt den Anschein, es sei eben zu Londons Jungräuber-Zeit diese Institution erst gegründet worden, tatsächlich existierte sie schon etwa acht Jahre, als der spätere Bestseller-Autor sich von ihr in Dienst nehmen ließ. Mindestens zwei Biographen erwecken den Anschein, als sei der Wechsel auf die andere Seite ein aktiver Schritt Londons gewesen. Einmal ist er sofort Patrouillenführer, einmal wird er es erst, nachdem er sich mehrfach auszeichnete. Schaut man sich die sieben Geschichten an, die von dieser Zeit erzählen, dann hatte der Ich-Erzähler selbst auf dem Boot immer einen Vorgesetzten und es gab einen Mann, der die Aufträge an dieses und an andere Boote der Patrouille überhaupt erst erteilte.

Die sieben Erzählungen erwecken zum Ende den Anschein, als habe die Patrouillenzeit des Erzählers runde zwei Jahre gedauert. Nimmt man es pur autobiographisch, dann könnte man das gar zur Fälschung erklären, es war tatsächlich höchstens ein Jahr und auch dies keineswegs als kontinuierliche Tätigkeit verstanden. Schon in der genannten ersten Geschichte gibt es eine Aussage des Ich-Erzählers, die in dieser Hinsicht aufhorchen lassen könnte: „Deshalb jubelten wir fast vor Freude, als wir den Auftrag erhielten, einen Feldzug gegen die chinesischen Krabbenfänger zu starten.“ Jeder Auftrag war also ein Freudengrund. Denn in Zeiten ohne Auftrag gab es auch kein Geld. Und Aufträge gab es schon dann nicht, wenn sich der erwähnte Vorgesetzte (Neil Partington im Buch) mit Angelegenheiten seiner kranken Frau befassen musste. London und sein Kumpel, der im wirklichen Leben Nelson, im Buch Charley heißt, sind dann schlicht und ergreifend arbeitslos, lungern herum und schlagen ihre Zeit tot. Was London aber vor allem erzählen will, sind ja Geschichten von (eigener) Pfiffigkeit, von cleveren Ideen, die zum (Jagd-)Erfolg führen.

Der Ich-Erzähler ist in dieser Hinsicht auffallend bescheiden, er zeigt sich zwar immer wieder als Bootsfahrer, als Segler erster Güte, als mutigen jungen Mann, der selbst hohes Risiko nicht scheut, als körperlich kräftig, die zielführenden Ideen hat aber fast immer Kompagnon Charley, der sie auch noch mit Neil Partington abzustimmen hat. Dieser weisungsberechtigte Mann ist zwar klar erfolgsorientiert, aber nicht blind. Dinge, die nur Zeichen setzen, die nur Aktivismus demonstrieren, lehnt er ab oder bremst sie. Und der Erzähler lernt, wie später auch der Erzähler der „Abenteuer des Schienenstranges“ immer noch und stolz ein Lernender war. Was lernt er gleich in der ersten Geschichte? „Ich wurde jedoch schnell gewahr, dass es auf der Welt keinen größeren Unterschied geben konnte als den, auf Männer zu schießen, die angreifen, oder auf solche, die weiter nichts tun, als sich weigern zu gehorchen.“ Es konnte auf der Welt natürlich größere Unterschiede geben, aber irgendwie musste der junge Mann sich ja ausdrücken. Immerhin bezichtigt er George, Kumpel in der ersten Geschichte, der nicht schoss, der Minderwertigkeit und Feigheit.

Das Boot, mit dem die Patrouillenfahrten unternommen werden, heißt in den Geschichten, wie es in der Wirklichkeit hieß: „Reindeer“. Londons eigenes Boot „Razzle Dazzle“ war schon vor seinem Wechsel auf die Seite des Gesetzes zu irreparablem Schaden gekommen, er selbst deshalb so etwas wie Gast auf der „Reindeer“, alle zusammen so etwas wie unvereidigte Hilfssheriffs auf eigene Rechnung. Der Staat praktizierte das, was man heute Outsourcing nennt. Die Ziele, wie sie der Ich-Erzähler gelegentlich erwähnt, machen die Fischereipatrouille in der Bucht von San Francisco zu einem frühen Organ praktischer Nachhaltigkeitspolitik, ging es doch um den Schutz von Jungfischen, die Verhinderung unerlaubten Beifangs, Dinge, die ihre Aktualität bis heute nicht nur nicht verloren haben, die sogar noch wichtiger geworden sind. Die kriminellen Akteure in den Geschichten sind vor allem Chinesen und Griechen. Einer der Biographen ist auf die absurde Idee verfallen, von Mongolen zu schreiben, die weder bei London noch sonst in der US-Geschichte eine nennenswerte Rolle spielten, es mangelte ihnen zu Hause laut Atlas an Küste fürs Piratentraining.

In der dritten Geschichte, Titel „Eine Razzia gegen Austernräuber“, lesen wir über Neil Partington: „Er ließ uns viel Freiheit, was wir sonst nicht gewöhnt waren. Diese Geschichte ist Beweis dafür.“ Es geht darum, dass ein Privatmann, dessen Austerngründe beraubt werden, eine Zielprämie ausgesetzt hat, die Patrouille verwandelt sich dafür im Nebenberuf in Kopfgeldjäger, wenn mal so will und wieder ist die Aufgabe als so schwer beschrieben, dass sie vorher niemand lösen konnte. Schon bei Big Alec war das ähnlich, dem „König der Griechen“, der dennoch letztlich geleimt wurde, jetzt ist der Trick der, sich unter die Räuber zu mischen, als wäre man blutiger Anfänger auf See, nur Anlass zum Lachen und keineswegs Grund für Misstrauen. Die Tour klappt. Wenn auch die schließliche Lehre arg trivial ausfällt: „Wenn man etwas plant, dann muss man eben an alles denken, sonst hat alles keinen Zweck.“ Die vierte Geschichte im Buch ist dann die erste, die direkt an der vorigen anknüpft, das wiederholt sich später und stellt damit einen Buch-Zusammenhang her, der weit über die Gemeinsamkeit der Hauptfiguren hinausgeht. Hier reicht die Idee allein nicht mehr.

„Vielleicht haben Charley und ich unsere bittersten Erfahrungen im Dienst der Fischereischutzpatrouille gemacht, als wir zwei Wochen lang einen großen englischen Viermaster belagerten.“ Die Zeitangabe verrät, dass die Arbeit keine verbindliche Relation zwischen Aufwand und Nutzen kannte, es konnte rasche Erfolge ebenso geben wie lange Mühen. Jack London erzählt nie von totalen Fehlversuchen, nur die Mühen, zum Erfolg zu kommen, machen die Unterschiede aus. Zwei Italiener werden hier mit Hilfe eines Griechen und eines schnellen Bootes eines reichen jungen Mannes dingfest gemacht, der Plan beruht auf der angeblichen Feindschaft der Griechen gegen Italiener, eine Rolle spielt auch die Furcht vor diplomatischen Verwicklungen, die der junge Ich-Erzähler freilich tunlichst nicht ausmalt. Eine die früheren ergänzende Lehre: „Aber Idee bleibt Idee - egal von wem, und Hauptsache, sie hatte Erfolg.“ Wie schön wäre das, wenn es wahr wäre. Im wirklichen Leben kommen die guten Ideen von den richtigen Leuten, die falschen Leute haben entweder gar keine Ideen oder ihre Ideen müssen aus Prinzip abgelehnt werden.

„Wenn Männer zu schimpfen anfangen, dann kannst du sicher sein, dass sie allmählich die Geduld verlieren. Und sobald sie die Geduld verloren haben, verlieren sie meistens auch bald den Kopf.“ Sagt Charley. Den entsprechend kühl zu halten dann die Nutzanwendung für den Erzähler London und seine Figur wäre. In der fünften Geschichte hilft ein Schwede, zwanzig Griechen unschädlich zu machen, die ausdauernd und provokativ das Sonntags-Fangverbot für Lachs missachten und die Patrouille regelrecht vorführen wollen. „In dieser Geschichte will ich von jener Unternehmung berichten, die zwar allen den meisten Stoff zum Lachen bot, die aber gleichzeitig auch unser gefährlichstes Abenteuer bei der Fischereischutzpatrouille war.“ Erkennbar wird ein geradezu archaisches Erzählprinzip: immer geht es um superlativische Erfahrungen: das gefährlichste, das längste, das lustigste, das einprägsamste. Wenn man weiß, dass die Geschichten ausdrücklich für junge Leser geschrieben wurden, bevor sie gesammelt in ein Buch kamen, versteht man dies besser.
Wer von einem gefährlichen Abenteuer noch erzählen kann, hat es jedenfalls überstanden.

Ehe die Geschichte endet, erfährt der Leser noch, dass auch die Bergarbeiter in Merryweather die griechischen Fischer nicht leiden können und sich deshalb gern gegen sie einspannen lassen. Und als wäre das die Überleitung, geht es in der vorletzten Geschichte des Bandes um Demetrios Contos, den nächst Big Alec gefährlichsten Griechen der Bucht. Das ist für mich die schönste Geschichte des Bandes, die mit menschlichen Gesten schließt, die fast schon zu schön sind, um wahr sein zu können: Der Grieche rettet den Erzähler vorm sicheren Ertrinken, obwohl er damit einem Verfahren nicht entgeht. Kumpel Charley zahlt Geldbuße und die Anwaltskosten des Griechen. Man möchte meinen, Jack London beteilige sich an aktuellsten Griechenland-Debatten, wenn er schreibt: „Sie lebten weit außerhalb der Gesetze und ihrer Vorschriften, sie verstanden sie nicht und hielten sie für Tyrannei.“ „Doch mit dieser Geschichte über Demetrios Contos will ich zeigen, dass sie ebenso großmütig handeln wie erbittert hassen konnten.“ Das gelingt ihm. Und natürlich geht es vorher um Mannesstolz, um das schnellste Boot und den Genussfaktor von Provokationen.

Ein Superlativisches in dieser Geschichte ist der Umstand, dass der Erzähler nie so gut segelte wie an diesem Tag und trotzdem keine Chance hatte. Mit Charley aber tauscht er sprechende Komplimente aus. Charley: „Du fängst ja an, deinen Kopf zu benutzen. Das macht deinem Lehrer alle Ehre, muss ich schon sagen.“ Der Erzähler retour: „Solange du dem andern immer um einen Gedanken voraus bist, wirst du gewinnen.“ Ein zweites Superlativisches: „Ich war als Zeuge vorgeladen. Das war mir von allem, was ich in meinem Leben bisher tun musste, die verhassteste Aufgabe.“ Selten geht es, ein Kennzeichen der Geschichten, eine Nummer kleiner. Immerhin, am Ende wird Demetrios Contos zum Freund und Bootsinhaber Charley steigt im Ansehen seiner Feinde. Damit kann das Buch zurückkehren zu just dem Chinesen, der in der ersten Geschichte eine wichtige Rolle spielte, der „Gelbes Schnupftuch“ genannt wird. Er fällt der Patrouille eher zufällig in die Hände und der Erzähler kommt noch einmal in allerhöchste Lebensgefahr, obwohl er eigentlich nach zwei Jahren im Dienst mit dem verdienten Geld die Schule besuchen will.

Hier entfernt sich Jack London am weitesten vom tatsächlichen Verlauf seines Jugenderlebens, denn weder kam es zu diesem Schulbesuch, das Geld hätte nie gereicht, noch folgte später eine Hochzeit mit der Tochter des Vorgesetzten, mit einer real wie auch immer heißenden Alice Partington. Wohl aber zeigt er seine schwer schlagbare Fähigkeit, zähen Überlebenskampf zu schildern, Spannung zu erzeugen, wie sie eben junge Leser mögen. Der Chinese will Rache, will dem, der ihn einst fasste, ans Leben, auch gegen den Willen der anderen Chinesen. „Ich hätte vorher nie geglaubt, dass man so viel erdulden kann. Ich war schließlich so unterkühlt und erstarrt, dass ich nicht einmal mehr zittern konnte.“ Genau darauf kommt Jack London immer wieder gern zurück: Was der Mensch erdulden kann. Hier aber erfindet er sich eine Perspektive als Kapitän auf eigenem Schiff, eine Rückkehr aus China und eine Braut aus respektablem Hause. Über die Substanz der Geschichten haben übrigens alle Biographen, also Irving Stone, Andrew Sinclair, Robert Barltrop, Thomas Ayck, Herbert Rentmeister, Rolf Italiaander, Rolf Recknagel, Michael Krausnick, auffällig geschwiegen.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround