Michail Lermontow: Maskerade

Auch ein sehr rundes Jubiläum hilft nicht immer aus der Vergessenheit. Es wären der Vorurteile viele aufzuzählen, das zu erklären im Falle eines russischen Dichters wie Michail Lermontow. Gewiss ist dies: Würde ihn ein amerikanisches Verlagsimperium in den deutschen Markt pressen wie zuletzt unbekannten Nachwuchs a la Garth Risk Hallberg oder eben Emma Cline, dann würden die Feuilletons schon die Posaunen von Jericho blasen lassen, im ZEIT-Magazin dürfte Lermontow entweder einen Traum erzählen oder was ihn gerettet hat. Dummerweise ist er nun schon 175 Jahre tot, obwohl 2014 erst sein 200. Geburtstag fast flächendeckend vergessen wurde. Mein von Polemik angeknabberter Text zum Jubiläum ist in fast zwei Jahren seltener aufgerufen worden als meine jüngste Bad-Hersfeld-Kritik in einer halben Woche. Es liegt am Namen. Auch die Dostojewski-Rauner haben ihn nicht „auf dem Schirm“, wie es so flott heißt, die Tolstoi-Beschwörer nicht und bei Turgenjew wäre bereits selbst wieder zu fragen, wer den noch kennt. Man tröste sich mit den zahlreichen Verweisen auf die tiefe Berechtigung, die dem Vergessenwerden innewohnt, die der gute alte Marcel Reich-Ranicki in seiner finalen Schaffensphase immer wieder zu Papier brachte.

Dabei passt Lermontow (fast) perfekt in das Narrativ (endlich gelingt es mir, diese hochmodische Wendung auch einmal zu benutzen) von all den mit just 27 sterbenden Wunderknaben und Wunderknäbinnen. Es hält sich die Mär, er habe bei diesem Duell in die Luft schießen wollen, während der andere lange zielte und traf, ich mag mich dazu nicht wiederholen. Dass Lermontow auch für die Bühne schrieb, die sein Angebot freilich stoisch ablehnte, das erwähnen selbst von denen, die ihn überhaupt erwähnen, die meisten nicht. Immerhin findet man die Übertragung des Versdramas, von dem hier die Rede sein soll, in der Fassung von Heinz Czechowski noch im Henschel-Bühnen-Vertrieb mit dem Hinweis auf zwei Damen, fünf Herren plus Episodenrollen, die hier zum Einsatz kommen könnten, eine Textprobe ist als PDF-Datei zur Ansicht freigegeben. Man könnte natürlich auch auf die Werkausgabe von Roland Opitz verweisen, die 1987 das Licht der späten DDR erblickte und schon zwei Jahre später in einer Lizenzausgabe auch das Licht des Altbundesgebietes rund um Frankfurt am Main. In der „Maskerade“ gibt es einen Mann namens Arbenin, den man in Bezug bringen kann zu einem gewissen Othello, einem gewissen Ferdinand.

Diese beiden, wir erinnern uns möglicherweise tatsächlich, waren dadurch charakterisiert, dass sie bei Shakespeare und Schiller gewissermaßen aus dem Stand in einen Zustand der rasenden Eifersucht manipuliert wurden, der sie dazu brachte, ihre Desdemona respektive Luise eigenhändig umzubringen. Othello, eine heute kaum ohne Beipackzettel aus der Correctness-Apotheke auf die Bühne zu stellende Person schwarzer Hautfarbe, erwürgt die weiße Gattin, während Ferdinand, der gefälschten Briefzeilen glaubt wie nur irgendeiner dem Befund aus den Akten eines zeitlich später agierenden Ministeriums für Staatssicherheit, seine Luise mit einer Limonade vergiftet. Arbenin vergiftet seine Gattin Nina ebenfalls, die Limonade aber überlässt er Schiller, er krümelt sein tödliches Pulver in ein altrussisches Softeis. Die Wirkung ist ähnlich langsam, es bleibt Zeit für ausführliche finale Dialoge. Man könnte darüber nachdenken, was denn eigentlich diese totale Abwesenheit jeglichen Vertrauens in die eben noch Geliebte verursacht. Ist es die Eva-basierte Ursünden-Mythe? Ist es der wohl doch nicht so dumme Spruch: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft“ in einer fatalen Tiefenwirkung? Beides, ein Drittes dazu?

Man weiß aus der überlieferten Kunst-, Literatur- und/oder Filmgeschichte, dass es weiblichen Heldinnen gar nicht so selten als forcierter Liebesbeweis gilt, wenn der Mann an der Seite (die inzwischen entdeckten weiteren nichtweiblichen Gottesgeschöpfe einmal grob vernachlässigt) Eifersucht nicht nur empfindet, sondern auch zeigt. Ins tragische Fach fallen dann die Fälle, wo es zu Tötungsdelikten kommt, in der Regionalpresse werden diese Ereignisse, wo ein bis dato unbescholtener Feuerwehrmann erst die sieben Kinder, dann die Mutter der sieben Kinder, die Mutter dieser Mutter und schließlich sich selbst erschießt, bisweilen antikische Familientragödie genannt. Desdemona, Luise und Nina aber sterben kinderlos. Die Notfallseelsorge kann zu Hause bleiben, es weint das Publikum im Parkett. Das alles klingt lustiger als es ist. Es ist, im Gegenteil, überhaupt nicht lustig. Lermontow hat Arbenin eigene Züge verliehen, was nun wirklich niemanden überrascht, ebenso die sofort anzuhängende Fußnote, dass Arbenin natürlich nicht Lermontow ist. Aber dieser doch merkbare zynische Pessimismus, diese ziemlich heftig sarkastische Selbstironie, die zeichnen den jungen Mann schon aus in seiner russischen Zeit ohne viel Hoffnung.

Arbenin gehört zur Spezies der überflüssigen Menschen, die die russische Literatur des 19. Jahrhunderts schon bevölkert, als der Begriff noch gar nicht formuliert war. Der Westen hat diesen Begriff nie, jedenfalls nicht nachhaltig, auf eigene Literatur-Phänomene bezogen. Arbenin ist klug, souverän, er nennt sich im Stück dennoch nur einen Spieler. Er hat, als das Stück einsetzt, dieses Laster überwunden, was beispielsweise seinem Freund Kasarin nur wenig gefällt. Der möchte ihn am liebsten sofort wieder ins alte Leben zurückführen. Denn es gilt einen Grundzug dieses Lebens vergessen zu machen: die Langeweile. Fällt uns da nicht halbwegs zwanglos ein gewisser Georg Büchner ein, ein Jahr älter als Lermontow, aber mehr als vier Jahre früher schon tot? Langeweile bei Büchner ist keine andere als die bei Lermontow, wenn auch etwa der Leonce kaum Gefahr läuft, Lena in den Würgegriff zu nehmen oder am Gift nippen zu lassen. Nina, Arbenins junge ihn liebende Frau, hat einen Maskenball besucht wie auch die Baronesse. Unmaskiert hätten beide kaum unbegleitet ausgehen dürfen und Nina empfindet, europäisch gebildet auf George Sand verweisend, diese ihre Rolle als Frau in ihrer Gesellschaft mit schlechtem Gewissen bedrückend.

Alexander von Benckendorff (1781 – 1844) war von 1826 bis kurz vor seinem Tod Chef der Geheimpolizei des Zaren, der Überlieferung nach ein bekennender und selbstredend sehr mächtiger Feind Lermontows. Dennoch hat er, als ihm Januar 1836 das Manuskript der „Maskerade“ auf den Zensorentisch gelegt wurde, einen Wunsch an den Dichter geäußert: er möge doch den Giftmord an Nina streichen. Es ist trotz allem tröstend zu wissen, dass die Geheimdienstchefs schon früher mit Literatur nicht viel am Hut hatten, dieser Konstantin Alexander Karl Wilhelm Christoph, so die komplette Versammlung seiner deutschen Vornamen, hielt ein Drama offenbar für etwas, dem man beliebige Bestandteile entnehmen oder eventuell auch hinzufügen konnte. Was klingt, als zeige es eine haarsträubende Dummheit, ist in Wahrheit nichts als Ausdruck eines mechanistischen Weltbildes, das in bisweilen bestürzender Reinheit noch heute fortlebt in keineswegs dummen Köpfen, ein gewisser Lenin hat sich vor mehr als hundert Jahren darüber lustig gemacht. Genutzt hat es nichts, wie wir wissen. Lermontow hat dem Wunsch damals nicht entsprochen, „Maskerade“ wurde folglich weder gedruckt noch gar auf einer Bühne inszeniert.

Zu DDR-Zeiten meinten Lermontow-Deuter ihren Lesern zwanghaft erklären zu müssen, warum weder Lermontow noch seine Helden revolutionäre Ambitionen entwickelten. Das wäre ein lustiges Erklären geworden, wenn alle derartigen Helden der Weltliteratur höchstinstanzliche Absolution nötig gehabt hätten um zur Wahrnehmung freigegeben zu werden. Nun zeigen Staatswesen, die einen allwirkenden Optimismus als Basisideologie ihren Bürgern verordnen wie weiland sorgende Großmütter Sorgen machenden Enkeln den Lebertran, ihre defizitäre Grundkonstitution an. Wenn also ein einst etwas einseitig als Anarchist berühmter Mann wie Pjotr Krapotkin in seiner wirklich feinen Abhandlung „Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur“ dem Pessimismus bei Michail Lermontow einen tiefen Sinn gab, dann hätte seine Deutung auch DDR-Ohren spitz werden lassen können, nur erschien das Buch eben erst in Zürich, als aus DDR-Ohren längst Einheitsohren geworden waren. „Lermontows Dämonismus oder Pessimismus war nicht der Pessimismus der Verzweiflung, sondern ein kühner Protest gegen alles Unedle im Leben. Und in dieser Beziehung hat seine Dichtung auf die ganze nachfolgende Literatur tief eingewirkt.“

„Sein Pessimismus war die Entrüstung eines starken Mannes, der andere um sich herum so schwach und niedrig sieht.“ Die revolutionäre Ungeduld, die „Verkürzung der revolutionären Perspektive“, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder geschichtstragend wurde mit teilweise schlimmen Folgen, sie ist nichts anderes als solche Entrüstung auch. Gegen solche Selbstüberhebungen, die schon die Griechen mit dem Wort Hybris bezeichneten, hat das Christentum die Lehren von der Schwäche des Fleisches gesetzt und die bekehrten Sünder gegen die Gerechten gestellt. Krapotkin hat mit den zitierten Sätzen mehr als nur einen Lermontow im Wesen erfasst. Und er kannte noch nicht die Massenbewegungen Gerechter, die ihr gesamtes Selbstwertgefühl aus der Verachtung der Schwachen und Niedrigen ziehen und sich mit definierten Outdoor-Marken einander zu erkennen geben. Arbenin bei Lermontow wird immerhin am Ende des vierten und letzten Aktes wahnsinnig. Während der beleidigte Fürst nur Fragen kann: „Wo ist mein Seelenfrieden, meine Ehre?“ Sein Anteil am Tod Ninas, die er dummdreist und natürlich auch rücksichtslos belästigte, sein Irrtum mit dem Armband entlastet ihn dabei kaum, wird ihm nicht annähernd bewusst. Seine Ehre ist keine.

Es gibt im Drama eine Figur namens Sprich. Von dem vermutet Kasarin, er sei ein Jude und er charakterisiert ihn so: „Doch er ist / Mit Atheisten Atheist und Jesuit / Mit Jesuiten.“ Der Jude würde sich also just so verhalten wie alle anderen auch: Er trägt Masken. Nur ihm macht man es, wenngleich folgenlos, zum Vorwurf. Auf die Idee, hier eine homöopathische Dosis Antisemitismus bei Lermontow zu diagnostizieren, scheint bisher niemand gekommen und das ist gut so. Denn es geht um anderes. Arbenin sagt: „Die Maske macht uns alle gleich, sie hat / Kein Herz und keinen Rang“. Eine Maske spricht den Fürsten an: „Du bist charakterlos, bist gottlos, böse, / Unsittlich, voller Eigenliebe, schwach. / So spiegelt sich in dir unser Jahrhundert, // Dies glänzende und nichtige Jahrhundert.“ Und Arbenin verrät über sich: „Ach, ich kenn das alles. / Wo man auch hinkommt: Böses und Betrug.“ Und fragt sich: „Hat dich nun endlich auch / Dies elende Jahrhundert feig gemacht?“ Immer wieder scheint Schiller durchzuschimmern mit seinem tintenklecksenden Säkulum, wobei Lermontow anders als Karl Moor keinen Plutarch dagegen hielt. Und nicht wenige Stellen weisen auf spätere russische Literatur, etwa auf Gogols „Tote Seelen“.

Eine Rede Arbenins aber an seine sterbende Frau Nina geht so: „O was / Ist denn das Leben? Eine längst bekannte / Scharade, für die Kinderschule tauglich:“ Und zynisch setzt er fort: „In jungen Jahren sollt man Abschied nehmen, / Solang die Seele nicht gekettet ist / An die Gewohnheit herzensloser Leere.“ Kannte Sergej Jessenin das so gut, dass er sein „Freund, leb wohl“ in der grandiosen Zeile gipfeln ließ: „Sterben -, nun ich weiß, das hat es schon gegeben; / doch: auch Leben gabs ja schon einmal.“ Paul Celan hat das Gedicht übertragen, was alles sagt. Arbenin herrscht die vergiftete Nina an: „Ja, weine! Aber was / Sind Frauentränen? Wasser! Aber ich / Ich war es, der geweint hat, ich, ein Mann, / Vor Wut und Eifersucht, vor Qual und Schande. / Du weißt ja nicht, was es bedeutet, wenn / Ein Mann weint!“ Schiller wusste es, als er den „Don Carlos“ in seine endgültige Fassung brachte: „Der König hat geweint!“ Nur schlechte Inszenierungen spielen darüber hinweg. Arbenin weist den Fluch seiner sterbenden Frau ab: „Verfluchung! Was hat es für einen Sinn, / Mich zu verfluchen? Gott hat mich verflucht.“ Für den vierten Akt bleibt wenig übrig, nur den Unbekannten führt Lermontow noch ein, der ein zweites Ich des Mörders ist und alles weiß.

Einer alten Dame, die zu den Episodenrollen zählt, hat Michail Lermontow in den Mund gelegt: „Eben daran, / Dass eure Welt so schlecht ist, deshalb werdet ihr / Auch allesamt zugrunde gehen.“ Roland Opitz hat Arbenin zusammenfassend dieses Zeugnis ausgestellt: „Arbenin ist kein Held, er ist geschickter im Intrigieren als seine Gegner, wirksamer beim Verleumden, brutaler beim Zerstören des menschlichen Glücks, auch des eigenen.“ Die Frage nach der Berechtigung solcher Figuren zwischen Buchdeckeln und auf Bühnen stellte er 1986 schon nicht mehr. Dreißig Jahre später wäre angesichts der merkwürdigsten Dinge, die Intendanten und Regisseure ringsum in die Theaterspielpläne bringen, die Frage nicht vollkommen absurd, ob nicht auch eine „Maskerade“ einmal einen Versuch wert wäre. Ich räume ein, andere Dramen eher und lieber sehen zu wollen, wenn es denn ans Entdecken ginge. Aber allein der Nachweis, dass außer Tschechow auch andere Russen für die Bühne schrieben, hätte etwas. Die Frage ist nur, für wen. Otto Brahm bescheinigte 1884 den Meiningern mit Lessings „Miss Sara Sampson“ einen Fehlgriff: „Im Theater gelten keine gelehrten Erwägungen, sondern nur der unmittelbare naive Eindruck…“. Ich widerspreche nicht.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround