Jack London: Joe unter den Piraten

Besondere Mühe hat sich Jack London nicht gegeben, die literarische Figur Frisco Kid mit sich selbst identisch zu halten. In ihrer frühesten Ausformung, zwei jeweils nicht ganz vier volle Druckseiten umfassende Stories, die 1895 zuerst in der Zeitschrift „The Aegis“ erschienen, ist Kid ein Slang sprechender, großmäuliger Kerl, den sein Schöpfer einen Monolog an ein Gegenüber richten lässt, das bestenfalls indirekt sein schwaches Profil erhält. Einmal ist das ein Vater auf der Suche nach seinem Sohn, der verschwunden ist, das andere Mal sind es offenbar die alten Kumpels, die erfahren, wohin er längere Zeit verschwunden war. Den Sohn hat Kid aus einer bedrohlichen Situation errettet, um ihn, wenngleich ohne Absicht, in eine neue, letztlich weit bedrohlichere Situation zu bringen. Der Junge ertrinkt vor den Augen der badenden Kumpane, weil er nicht schwimmen kann und dazu noch ein wenig Pech hat. In der zweiten Story rettet Kid wiederum eine Person, diesmal einen alten Mann, der nahe am Ertrinken ist, die Situation ist in gewisser Weise der aus der ersten Geschichte komplementär. Der Alte und seine Frau wollen Kid adoptieren aus purer Dankbarkeit, vor allem aber wollen sie aus ihm machen, was sie für einen guten Menschen halten.

Der Frisco Kid dieser beiden Geschichten hat keinen erkennbaren Bezug zur Seefahrt oder gar der Austernpiraterie, die Art aber, wie er mit den beiden Alten umgeht, wie er seine eigene vorgebliche Familiengeschichte sentimental und melodramatisch vorträgt, erinnert an jene Art von Legenden, mit denen der Erzähler aus „Abenteuer eines Tramps“ (wahlweise auch unter dem Titel „Abenteuer des Schienenstrangs“) die Herzen altruistischer alter Damen erobert, die ihn zur Belohnung sogar mit sich am Tisch essen lassen. Dieser Erzähler aber ist Jack London selbst, der sich für diese Phase seines Lebens so schildert, wie er gesehen werden möchte und sich weitgehend wohl auch selbst sah. Der Tramp London wirft kurze Blicke zurück auf die Zeit, da er Frisco Kid war. Es ist die Zeit, da ihm, wie in allen Biographien mehr oder minder ausführlich nachlesbar, auch der Beiname „König der Austernpiraten“ oder „Prinz der Austernpiraten“ gegeben wurde. Die dazu gehörige Geschichte freilich wird in Variationen geboten, die bisweilen sogar nennenswert voneinander abweichen. Für „Joe unter den Piraten“ aber ist das alles irrelevant, denn hier erzählt London eine Geschichte mit bestenfalls gelegentlichen autobiographischen Reminiszenzen in verteilten Rollen.

Jack London erzählt in diesem seinem zweiten Roman, wenn man ihn denn als solchen sehen will, die Geschichte vom verlorenen Sohn. Joe Bronson ist der verlorene Sohn und das Besondere an ihm ist der rasend schnell verlaufende Lernprozess, dem er sich selbst aussetzt, ohne zunächst genau zu wissen, worauf er sich mit seiner Flucht aus dem Elternhaus tatsächlich einlässt. London erzählt in kontinuierlich zeitlicher Folge, zerlegt den kurzen Text in sehr kurze Kapitel mit jeweils eigener Überschrift und lässt einen sehr entscheidenden Fakt auffallend lange unerwähnt: das Alter seines Titelhelden, der freilich nur in der deutschen Übersetzung von Erwin Magnus Titelheld ist, denn das Buch heißt im Original „The Cruise of the Dazzler“ und „Dazzler“ ist der Name des Piratenbootes, auf dem sich Joe Bronson wiederfindet, auf dem Franzosen-Pete als Chef und eben Frisco Kid als zweiter Mann in der Bucht von San Franzisco unterwegs sind. Erwin Magnus hat für mich unsinnig auch den Namen des Bootes übersetzt: es ist im Buch als „Blender“ vor dem Wind, was unnötige Assoziationen weckt. Auf London selbst geht die übermäßige Nutzung seemännischen Fachvokabulars zurück, das gerade für ein Jugendbuch zwingend ein Glossar benötigt hätte.

Man versteht über die Maßen viele Sätze schlicht nicht, wenn man all diese Takelage-Wörter und Manöver-Vokabeln nicht kennt und eben nicht hinten nachschlagen kann. Das kann Eitelkeit eines noch unerprobten Autors sein, vielleicht ist es auch nur einfache Gedankenlosigkeit. Joe Bronson jedenfalls ist, wie sich spät vernehmen lässt, 15 Jahre alt, sitzt mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester dennoch in einer Schulklasse, was seine Ehre durchaus angreift. Dass er ein Sitzenbleiber war, muss man sich hinzudenken, wahlweise aber auch überragenden Fleiß der Schwester. Joe ist am liebsten mit seinen beiden besten Kumpels auf Achse, auf Fahrrädern und mit Neid erregen sollenden leuchtenden Pullovern. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen ist das Drachen-Steigen. Nimmt man alles zusammen, was man in den ersten Kapiteln über diesen Joe erfährt, dann staunt man über seine fast noch vorpubertäre Kindlichkeit. Die nicht sehr gut zu den 15 Lebensjahren passen will. Auch nicht zu der Art, wie er später Erfahrungen formuliert, die ihm in weniger als einer Woche zugewachsen sind. Jack London, darf man vermuten, war wegen seiner eigenen Nicht-Kindheit kaum in der Lage, sich in einen wie Joe tatsächlich hineinzuversetzen.

Geht man davon aus, dass er sich selbst eher in Frisco Kid sehen wollte, eher als Frisco Kid, dann fallen an Joe einige Züge auf, die man von typischen männlichen London-Figuren erwartet und hier eben aus dramaturgischen Gründen eher nicht. „Der Junge, der öfter als die anderen das Tempo bestimmte, die Jagd begann und die Kraftproben vorschlug, wurde von seinen Freunden Joe genannt.“ Wenn Joe das Treiben auf dem Wasser neidvoll beobachtet: „Das war Leben, das hieß leben! Etwas fertigbringen in der Welt und etwas darstellen in der Welt.“ Noch drei weitere Male gibt es fast identisch diese Sichtweise: „Joes Hang zum Romantischen regte sich bei diesem Anblick. Das war Leben! Die da unten lebten doch wirklich! Sie verdienten sich ihr Leben in freier Natur unter der Sonne und unter dem Sternenhimmel.“ Und schon der Blick auf Kid: „Aber der da unten führte ein freies Seemannsleben in der Bucht, dem Schauplatz bewegter Abenteuer, und er hatte richtige Männer zu Freunden.“ Und nochmals: „Joe kam es vor, als würde er über sich selber hinaus und weit aus der Welt gehoben. Ah, das hier, das war Leben! Hier wurde gehandelt!“ Sein eigenes, soll das alles heißen, sieht Joe, der Sohn aus gutem Hause, nicht als richtiges Leben.

Joe hat das literaturzufällige Glück, dass auf der „Blender“ eben ein dritter Mann gesucht wird, und dass sowohl Kid als auch Franzosen-Pete nicht auf ein sehr strenges Auswahlverfahren aus sind. Kid, das ist die nächste Überraschung, ist zwar nicht älter als Joe, aber in den Dingen des praktischen täglichen Lebens sehr viel reifer, männlicher, erwachsener. Er hat bereits einen gefestigten Kodex, ist auf der anderen Seite naiver als Joe. Der registriert erstaunt bis verwirrt das auffällige Interesse Kids für Joes Elternhaus, vor allem aber für seine Schwester. Und erkennt bald, denn mehr als hundert Buchseiten stehen nicht zur Verfügung, dass Frisco Kid ihn um genau das beneidet, was er selbst nie erfahren durfte: ein intaktes Elternhaus, Familie, eine Schwester, also alles, was Joe letztlich zur Flucht trieb. Joe fragte sich: „Wozu taugten Mädchen eigentlich? Dauernd mussten sie heulen und Theater machen und sich in anderer Leute Sachen einmischen.“ Kid aber trägt ein altes Zeitungsfoto mit sich mit einem unbekannten Mädchen, das direkt in die Kamera sieht und er träumt von diesem Mädchen. Er will sogar wissen, ob Joes Schwester diesem Mädchen ähnelt. Was sie natürlich nicht tut. Joe versteht nicht einmal die Frage danach wirklich.

Dass Joe auf einem Boot gelandet ist, das zu Raubzügen unterschiedlicher Art ausfährt, verwirrt ihn sehr, seine moralischen Grundsätze alarmieren ihn. Doch hat Jack London etwas getan, was er nur in diesem Jugendbuch tat, weil er sich dazu verpflichtet wähnte, weil die Konvention es forderte. Er hat das Treiben der Piraten, obwohl alle buchstäblich in einem oder mehreren Booten zusammen sitzen, von seinen beiden jungen Helden so weit wie nur irgend möglich fern gehalten. Der erste Raubzug ist zwar gefährlich, geht aber schief, der zweite Raubzug ist ebenfalls gefährlich, geht aber auf andere Weise ebenfalls schief und beide Male sind Joe und Kid allenfalls am Rande persönlich beteiligt, zu Lande würde man sie als Fahrer und Beifahrer des Fluchtfahrzeugs sehen wollen. Der zweite Raubzug trifft literaturzufällig einen gut gefüllten Safe just der Firma, die Joes Vater und dessen Kompagnon gehört. Joe ist einem weiteren Konflikt ausgesetzt. Seinem gescheiterten ersten Fluchtversuch aus moralischer Empörung folgt der Plan zu einem zweiten gemeinsam mit Kid. Alle geraten in akute Seenot, Joe macht die ihn faszinierende Erfahrung der begeisternden Segel-und Navigierkünste der Ober-Piraten Franzosen-Pete und Red Nelson, er spürt in sich Bewunderung.

In mehreren Zügen ist Joe Bronson schon vor dem Zusammentreffen mit Frisco Kid wie ein Double von diesem, wenn man seine sonstigen Auftritte im Werk Jack Londons einbezieht. „Aber man hatte ihm sein Eigentum entwendet und seinen Stolz getroffen, und daher nahm er unverzüglich die Verfolgung auf.“ „Man hatte sein Gefühl für Anständigkeit und gerechtes Handeln verletzt.“ „Joe verspürte plötzlich Respekt vor den Fähigkeiten seines Gegners, aber das hatte lediglich zur Folge, dass seine ganze Hartnäckigkeit auf den Plan gerufen wurde. Er war entschlossen, um jeden Preis zu gewinnen.“ „Er fühlte, dass er für ein Prinzip kämpfte, wie seine Vorfahren für ein Prinzip gekämpft hatten.“ Ist hier nicht schon der ganze Jack London auch in einem vermeintlich bedeutungslosen Buch für Schuljungen, wie es der Biograph Robert Barltrop nannte, ausschließlich „nur aus einem Grunde geschrieben, nämlich, um ihm Geld einzubringen.“? Nur macht weder der Umstand, dass ein Buch für Schuljungen geschrieben wurde noch der, dass es dem Erzielen von Einkommen diente, es a priori und gar selbstverständlich schlecht und näherer Betrachtung unwert. Man muss es umgekehrt allerdings auch nicht unnötig aufwerten.

Joe und Kid bringen den gestohlenen Safe samt wertvollem Inhalt, der keineswegs nur aus Bargeld besteht, sondern auch aus wichtigen Dokumenten, unversehrt und allenfalls ein wenig nass an Land und nach Hause. Mr. Bronson ist doppelt glücklich und in einem seinen Sohn Joe beschämenden Maße großzügig. Die fünftausend Dollar Belohnung, die die Firma aussetzte, sollen je zur Hälfte an Frisco Kid und an Joe gehen. Joe soll außerdem nun seinen Weg in der Firma gehen, auch Kid könnte ein Probejahr absolvieren, wird aber dazu in keiner Weise gedrängt. Ja er ist überhaupt im letzten Kapitel nicht mehr selbst präsent. „Mr. Bronson stockte, und plötzlich begann Joe zu schluchzen, als müsse ihm das Herz brechen. Er hatte seinen Vater nie richtig verstanden. Nun spürte er, welchen Schmerz er ihm zugefügt haben musste – von seiner Mutter und seiner Schwester zu schweigen.“ Letzten Anstoß für seine Einsicht gab Joe der ihn begeisternde Anblick von Red Nelson: „Aus dem Stoff waren Helden gemacht. Aber Helden besaßen, was dem Roten Nelson fehlte: Entscheidungskraft, Ausgewogenheit des Urteils, nüchterne Selbstbeherrschung, kurz: alles, was sein Vater ihm so oft „gepredigt“ hatte.“ Das will nun Joe Bronson auch für sich selbst.

Frisco Kid aber, der hier nur ein bisschen, ein kleines bisschen Jack London ist und sein soll, will richtiger Seemann werden und auf einem richtigen Schiff anheuern, wie es sein Schöpfer nach seiner Periode bei der Fischereipatrouille auch tatsächlich tat. Wer wissen möchte, wie es in jenen jungen Jahren tatsächlich war, muss „Joe unter den Piraten“ umgehend vergessen. Ein deutlich realistisches Bild findet sich in den Kapiteln VII und folgende in Londons „John Barleycorn oder Der Alkohol“, oft auch kürzer betitelt mit „König Alkohol“, im Original „John Barleycorn or Alcoholic Memoirs“. Doch auch dort ist Vorsicht geboten. Nach Michael Krausnick hat London in „König Alkohol“ „die Segelabenteuer, Raubzüge, Raufereien und Alkoholorgien seiner Halbstarkenzeit mehr oder minder realistisch nachgezeichnet. Ob er allerdings wirklich der erfolgreichste Tunichtgut, der wildeste Schläger und der freigebigste Zecher am Kai von Oakland war, lässt sich nicht überprüfen.“ In Joes Augen jedenfalls ist Kid ein Vorbild: „Frisco Kid wusste, was er leisten konnte, und hatte darum Vertrauen zu sich selber. Er war kühl und beherrscht; er arbeitete flink und dennoch nicht nachlässig. Pfuschen kam nicht in Frage.“

Frisco Kid vermittelt Joe Bronson eine Einsicht, „deren Fehlen schon so viele Menschen scheitern ließ: nämlich wie wichtig es ist, seine eigenen Fähigkeiten zu kennen.“ „… seine kühle Ruhe und sein Selbstvertrauen, sein mannhafter Mut und ein gewisser freundlicher, sympathischer Zug in seinem Wesen“ sind es, die dem Ausreißer Joe in seiner nur Tage währenden Piratenzeit sehr imponieren. Es sind dies Eigenschaften, die man bei vielen männlichen Helden Londons später immer wieder finden kann, ausführlich beschrieben oder nur knapp angedeutet. Das Schuljungen-Buch ist deshalb, wie auch immer, echter Jack London. Der wohl eigene Hafterfahrung aus der Trampzeit in ein Urteil fließen lässt, wie es der Frisco Kid dieses schmalen Buches über seine dreißig Tage in einer Fürsorgeanstalt mit ihren Zöglingen formuliert: „Die meisten von ihnen waren Straßenjungen von der übelsten Sorte – Lügner und Kriecher und Feiglinge, in denen auch nicht der winzigste Funke Mannhaftigkeit steckte und die keine Ahnung hatten von Anstand und fairen Spielregeln.“ Mannhaftigkeit, Anstand, faire Spielregeln, dazu gehört auch die Achtung vor dem Gegner, den man erbittert bekämpft, sind nicht die schlechteste Botschaft, die Jack London hat.


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