Siegfried Lenz: Zaungast

Da keiner der sieben in diesem schmalen Buch versammelten Texte „Zaungast“ heißt und dem Buchtitel „Zaungast“ auch kein Untertitel beigesellt ist, dem der Kritiker eine erste Idee abnötigen könnte, formuliert etwa als: „Novellen, die keine sind“, bleibt nur die Folgerung, dass Autor und/oder Verlag der Meinung waren, dass das Zaungast-Sein als verbindendes Element gesehen werden soll. Dann würde, wie man so schön sagt, Siegfried Lenz sein Sein an anderen Orten als das Sein eines Zaungastes deuten wollen und just dies auch seinen Lesern nahe legen. Der Verlag Hoffmann und Campe Hamburg hat seinem Buch ein Nachwort angefügt, verfasst von Rainer Moritz, der immer und überall als Leiter des Literaturhauses Hamburg vorgestellt wird und dort offenbar so unfassbar wenig zu tun hat, dass er nebenher sämtliche deutschen Feuilletons mit Kritiken beliefern und meterweise eigene Bücher verfassen kann. Wenn es einen deutschen Mann gibt, den man beneiden muss, dann diesen Hausleiter. Freilich nicht um dieses Nachwort, denn das ist unübertrefflich überflüssig, enthält triviale Zusammenfassungen und Verallgemeinerungen dessen, was Leser/in eben genussvoll genoss. Was die Seiten vorher aber füllt, ist Genusslektüre.

2004 hatte in Deutschland niemand Lust, dies Büchlein zu besprechen. Das KLG führt in meinem Ausdruck vom 26. März 2007 ganze zwei Besprechungen, eine von Peter Mohr im „Mannheimer Morgen“ und eine von Anonymus „ncb“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Meine Notiz vom 1. Oktober 2005, anderthalb Jahre vor dem Ausdruck also: „Man kann, so die These, die sich daraus ergibt, die Grundüberzeugungen deutscher Literaturkritik nicht nur daran ablesen, was sie feiert, fast noch präziser daran, was sie einfach ignoriert.“ Es handelte sich immerhin um Siegfried Lenz, nicht um irgendwen. Marcel Reich-Ranicki, der keine Gelegenheit ausließ, von seiner ersten Begegnung mit Lenz im Hamburg des Jahres 1957 zu berichten und in der großen Autobiographie „Mein Leben“ auch verriet, wie er mit einem Urteil in seinem „Deutsche Literatur in Ost und West“ dem Erzähler schwer zu heilenden Schmerz zufügte, kam als Freund nicht in Frage. „Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte habe ich zwar gern bei allerlei Gelegenheiten, Jubiläen zumal, über Lenz geschrieben und gesprochen, doch mich gehütet, je wieder sein Werk in einer literaturkritischen Arbeit zu behandeln. Siegfried Lenz hat für diese strenge Enthaltsamkeit viel Verständnis.“

Was sollte dann aber auch der gemeine Kunstrichter über ein Buch schreiben, in dem es so vorrangig um leibliche Genüsse geht, um ein im doppelten Sinne kulinarisches Buch? Ich war selten so begeistert von einem ersten Text in einem Buch wie hier von „Kummer mit jütländischen Kaffeetafeln“. Mir ist Jütland keineswegs fremd und ich hätte, wären die Zeitläufte nicht über eine schöne Freundschaft hingeflossen, die eben im Begriff war, uns zu Dauergästen in Dänemark zu machen, vielleicht eines schönen Tages auch Zaungast-Status erreicht, nie zu vergleichen natürlich mit Lenz, dem das Land zweite Heimat wurde. In einem wunderbaren Erzählton, den man zu hören vermeint, berichtet Lenz von einer Fressorgie sondergleichen, die zu den Ritualen jütländischer Gastfreundschaft gehört. Jene Kaffeetafel beginnt nach dem Abendessen, das durchaus nicht armselig ist, enthält nicht nur mehrere Gänge schlechthin, sondern innerhalb jedes einzelnen Ganges nimmt man auch nach, den Auftakt machen Butter-Rundstücke, dann folgen diverse Kuchen mit fetter Sahne und Nusssplittern und am Ende noch einmal Kleingebäck. Dazu wird Kaffee in Massen getrunken, der zum Ende hin immer stärker wird. Die Folge für ungeübte Gäste ist gnadenlose Überfüllung, Schlaflosigkeit und die akute Furcht, sich überfressen zu haben.

Eine hübsche Folgerung des Zaungastes: „Denn merke: Die Besorgtheit um den Gast schließt auch seine Gehfähigkeit beim Nachhauseweg ein.“ Voller Humor wird alles vorgetragen, kein aufdringlicher, kein vordergründiger Humor: Wohltat. Der Humor verlässt den Erzähler auch in den folgenden Texten nicht, die nach Japan führen, nach Australien, ins Nachkriegs-Hamburg, nach den USA, nach Spanien. Erst „Hinter der Fliegenschnur“ erreicht wieder, meine ich, die Höhe des ersten Textes und manche Wendung vermittelt den Eindruck, als schaue das alte Vorbild Hemingway mal wieder etwas kräftiger hervor. Anmerkung: Siegfried Lenz hat in seinem in einigen Auflagen erschienenen Sammelband „Beziehungen. Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur“ nicht nur über Hemingway, auch über etliche andere Amerikaner geschrieben. Lesenswert geschrieben. 1968 etwa schrieb er unter der Überschrift „Warnung vor dem Talent“ den so gar nicht zu 1968 passenden Satz: „Kurzum, es leuchtet mir nicht ein, dass ein Talent seine Nützlichkeit erst gewinnt, wenn es als politisches Wesen funktioniert.“ Der Wirt in „Hinter der Fliegenschnur“ schreibt nichts an und füllt Gläser auf, die noch gar nicht vollkommen geleert sind, ohne das erkennbar anzurechnen.

Das Lenz Faszinierende ist unter anderem das ständige Kommen von Menschen, die vollkommen selbstverständlich alles miteinander teilen, die allerdings auch den in einer deutschen Gaststätte vollkommen unvorstellbaren Brauch pflegen, sich Essen mitzubringen beziehungsweise mitgebrachtes Essen zubereiten zu lassen, einer bringt beispielsweise Pferdebohnen, Fischer aber bringen einen riesigen Topf mit essfertiger Mahlzeit, in die dann alle ihre Weißbrotstücke tauchen, die selbst auf wundersame Weise plötzlich in Menge da sind. „Oh, sie erzählten alles, was sie bedrückte, ihr Herz öffnet sich schnell und leicht, ohne Rest ziehen sie den Fremden ins Vertrauen“, dies fällt dem Zufallsgast auf, der aus dem ja keineswegs für seine rasche Aufgeschlossenheit und Mitteilsamkeit bekannten deutschen Norden kommt. Bei Sätzen über rehköpfige Hunde und über den komischen Bordhund der Fischer musste ich unwillkürlich an Hunde im Hafen von Pozzuoli denken, die so auffallend unaggressiv waren und respektvollen Abstand zum Touristen hielten, der zur Fähre nach Ischia strebte. Ganz groß sind die Welten doch wieder nicht, die Nord von Süd trennen. Auch ein singender Hirte mit einem neugeborenen Lamm unterm Arm schaut herein.

In „Eine Schulstunde auf japanisch“ erzählt Lenz von zwei Schulstunden. Auf Fragen muss er antworten und erregt Verwunderung, weil er nicht klar antworten kann, ob er sein Land liebt, weil er keine Kinder hat und weil er als Kind Scherz mit seinem Lehrer in Masuren trieb. „In keinem andern Land der Welt habe ich persönlich soviel Höflichkeit gegenüber Fremden erfahren, soviel Fürsorglichkeit, soviel Bereitschaft, ihm zu verzeihen, dass er andere Gewohnheiten hat.“ Darf man hier im Land der Hölderlin-Akrobatik und der Celan-Hochämter, „einfach schön“ sagen oder ist das gar genau das, was man dem nun toten Lenz immer noch einmal anzukreiden hätte? Dass er verdammt herkömmlich erzählt, stellt ihn unter Dauer- und Generalverdacht. Und dann schreibt er auch noch solche Sätze, die man einfach verstehen kann: „Sie sind ohne Zweifel die reiselustigsten Schulklassen der Welt, und sie sind Eigentümer von Traditionen, über deren Herkunft sie sich versichern können.“ Immerhin erkennt der deutsche Gast: „Offenbar ist es also nicht allein ein deutsches Bedürfnis, sich von einem Fremden Aufschluss über sich selbst zu holen, auch den Japanern scheint viel daran gelegen, ein Urteil von außen zu erhalten“. Und fühlt sich berührt.

In Australien fragt sich Siegfried Lenz, ob man mit Vorkenntnissen reisen sollte oder nicht, bekennt sich dann zum Reisen ohne Vorkenntnis. „Soll man sich durch Kenntnisse schützen, soll man sich heimisch fühlen in einem fremden Land, da Fremdheit doch eine spezielle Bedingung des Erlebens ist.“ Das sollten sich alle an den Spiegel stecken, die schon beim Wort „fremd“ zurückschrecken, als wäre es reines Teufelswerk, als gelte alle gebotene Anstrengung korrekten Sprechens dem Ausschalten vollkommen nahe liegender, vollkommen grundmenschlicher Empfindungen und Gedanken. Fremdheit ist Erlebens-Bedingung, sagt der Autor, der sich wohl nicht gern Dichter genannt haben wollte, obwohl genau das Dichtung ist: nebenbei und ohne Warnsignal plötzlich in Tiefen zu führen. Und dann fängt dieser Lenz natürlich alles auf mit einem Satz wie: „Gegenüber dem Koala ist ein Oblomow ein Arbeitstier.“ Hatten wir nicht eben noch den 125. Todestag von Gontscharow auf dem Schirm, wie es heute so schön heißt? Iwan Gontscharow, den Schöpfer Oblomows? Im unfeinen Feuilleton darf man jetzt schon sagen: Ich liebe Koalas, weshalb mir Sätze, in denen Koalas vorkommen, sympathischer sind als Sätze ohne Koalas. So klingt Endzeit.

„Die Stunde der Taucher“ ist eine ernste Würdigung einer enormen Nachkriegsleistung. Lenz beschreibt, wie die Taucher Hamburgs den Hafen von insgesamt 2380 Wracks räumten, er nennt technische Details, Lebenserfahrungen. Es ist aber nicht im engeren Sinne journalistisch geschrieben, indem etwa einzelne Namen stellvertretend mit ihren Aussagen zu Wort kommen. Lenz nennt keinen einzigen Namen, nur Namen von Schiffen kommen vor und grauenerregende Details: wie Taucher die Reste von 30 Pferden finden oder zusammengekauerte Reste von zwei Soldaten, die wohl auf Heimaturlaubsfahrt waren. Und ich lernte, dass der „totale Krieg“ auch bedeutete, „dass jede Tonne Schiffsraum genutzt wurde.“ Der „Sonntag eines Ranchers“ gewinnt eine neue Dimension, wenn man „Amerikanisches Tagebuch 1962“ von Lenz gelesen hat, dieses Ambivalenz-Dokument von Faszination und Distanz. „Selbstverständlich und überwältigend ist die Gastfreundschaft im mittleren Westen.“ Im Tagebuch: „Einstweilen: kein Land für mich, in dem ich leben möchte.“ Lenz sieht den Amerikanern ab, was auch für Russen gilt: „... sonderbar ist das Verhältnis des Amerikaners zu großen Entfernungen: er ist an sie gewöhnt, mitunter verliebt er sich in sie ...“. Auch der Mut zur echten Trivialität gehört also zu diesem Büchlein. Und das ist gut so.


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