Arthur Schnitzler: Lebendige Stunden

Als Arthur Schnitzler am 21. Oktober 1931 in den Abendstunden verstarb, ohne dass er zuvor noch einmal zu Bewusstsein gekommen war, wurde das für Stefan Zweig zum Anlass, nach fast genau dreizehn Jahren Unterbrechung wieder mit Tagebuch-Notizen zu beginnen. Frieda Pollak (1881 – 1937), Sekretärin Schnitzlers seit 1909, hatte ihn am Vormittag bewusstlos auf dem Fußboden gefunden. Zwei Tage später fand er seine letzte Ruhe auf dem Wiener Zentralfriedhof. Konstanze Fliedl zitiert in ihrer Schnitzler-Biographie die letztwillige Verfügung: „Keine Trauer tragen nach meinem Tode, absolut keine.“ Frieda Pollak ist übrigens nicht identisch mit der gleichnamigen Mutter der Holocaust-Überlebenden Helga Pollak. Sonst hätte sie Richard Beer-Hofmann in seinem Brief vom 12. September 1929 wahrscheinlich nicht mit „Liebes, verehrtes Fräulein Frieda“ angesprochen, das aber nur am Rande. Stefan Zweig erfuhr vom Tod Schnitzlers noch in der Nacht aus der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ und bekennt im frisch begonnenen Diarium: „Der Tod von Menschen ergreift mich wenig, wenn nicht Tragik für die Familie damit verbunden ist … Aber doch, Erinnerungen waren damit verbunden, Dankbarkeit und die Ehrfurcht vor einem Menschen, der so wundervoll Maß zu halten wusste – viel mehr als ich ...“.

Der überlieferte Briefwechsel zwischen Arthur Schnitzler und Stefan Zweig beginnt am 17. Oktober 1907 und schließt am 19. Februar 1931. Die Unterschiede im Maßhalten erklärte sich Zweig auch damit, dass Schnitzler „nicht viel von sich persönlich hergab, sich nicht stark herauswagte und stärker auf sich und in sich centriert war. Aber welche noble Gestalt! Ich weiß, dass er mich von Anfang an gerne hatte auf eine sichere Art – zu activer Freundschaft war er schon zu alt, aber er gab mir ab, soviel er noch damals an Jüngere geben konnte und wollte.“ Hätte Zweig die viel später veröffentlichten Tagebücher Schnitzlers gekannt, insbesondere die Aufzeichnungen seiner Träume, die 2012 im Umfeld des 150. Geburtstages am 15. Mai nicht wenige Feuilletons heftig bewegten, hätte er vielleicht weniger bestimmt geschrieben. Ein pensionierter Lehrer namens Rolf-Peter Lacher ist neuerdings mit einem Buch und diversen Folgeaktivitäten hervorgetreten, die auf einer eigenen Interpretation des Todes der Schnitzler-Geliebten Maria Reinhard (13. März 1871 – 18. März 1899) ein weithin neues Schnitzler-Bild aufbauen wollen. Wie auch immer, ich kenne das Buch nicht aus eigener Lektüre, am hinterlassenen Werk Schnitzlers würde das nichts ändern, neue Interpretationsaspekte wären ja auch bestenfalls Stoff für überschaubar wenige Experten.

Das Werk aber, beispielsweise das für die Bühne, ist auch 85 Jahre nach seinem Tod noch von weit mehr als nur literargeschichtlichem Interesse. Ich greife den Einakter „Lebendige Stunden“ heraus, der im Jahr 1901 entstand und später den Gesamttitel eines ganzen Einakter-Zyklus lieferte, dem Arthur Schnitzler fünf Werke zuordnete, eines dann aber wieder herausnahm. Im Zyklus steht „Lebendige Stunden“ in jetzigen Ausgaben am Beginn, gefolgt von „Die Frau mit dem Dolche“, „Die letzten Masken“ und „Literatur“. Unter dem Titel „Arthur Schnitzlers Margarete zwischen Klemens und Gilbert“ hatte ich mir 2012 „Literatur“ zum Gegenstand genommen, um meinerseits des 150. Geburtstages von Schnitzler zu gedenken, noch immer nachlesbar hier in meiner Rubrik JAHRESTAGE unter dem Datum 15. Mai 2012, weitere vier Versuche zu Schnitzler finden sich in THEATERGÄNGE, die erfreuliche Zahl der Zugriffe auf alle fünf Texte, die jüngsten erst von Januar und Februar diesen Jahres belegen anhaltendes Interesse am Wiener, dem Friedrich Torberg einst nachsagte, als er 1964 im Theater an der Josefstadt „Lebendige Stunden“ als Auftakt eines Abends „Drei Einakter“ erlebte: „Man wird noch dahinter kommen, dass dieser Arthur Schnitzler einer der bedeutendsten Untertreiber der Weltliteratur ist.“ Ja, diese unvermeidlichen Superlative!

Um zu demonstrieren, wie ein überschaubares Bühnengeschehen, an dem nur drei Personen beteiligt sind, ein pensionierter Beamter, dessen Gärtner, und ein junger Dichter, durchaus unterschiedlich zusammenfassend nacherzählt werden kann, lasse ich hier einige Zitate für sich sprechen. Beginnen wir mit Renate Wagner: „In den „Lebendigen Stunden“ stellt Schnitzler die Frage, ob Leben oder Kunst wichtiger sei, ganz präzise: Der Dichter Heinrich akzeptiert den Selbstmord seiner Mutter als ihm gebrachtes Opfer, weil sie ihm damit ein unbeschwertes Schaffen ermöglicht. Als Dichter kann er den „Lebendigen Stunden“, auf die seine Mutter seinetwegen verzichtet hat – was ihm sein Gegenspieler Hausdorfer nicht verzeiht -, eine Art „Ewigkeit“ verschaffen.“ Lassen Konstanze Fliedl folgen: „In der titelgebenden Szene, die im Sommer 1901 entstanden ist, trauert der pensionierte Beamte Anton Hausdorfer um seine verstorbene Lebensfreundin. Ihre Krankheit hatte ihrem Sohn Heinrich, einem Dichter … das Schreiben unmöglich gemacht. Nun teilt ihm Hausdorfer den Inhalt ihres Abschiedsbriefes mit: Um Heinrichs Arbeitskraft wiederherzustellen, hat sie vorzeitig den Freitod gewählt. Zu Hausdorfers tiefer Erschütterung fühlt sich Heinrich aber dieses Opfers würdig.“

Bei Oskar Seidlin steht: „Da ist ein junger Dichter (Lebendige Stunden), der nicht weiß, dass seine Mutter Selbstmord begangen hat, um den Sohn zu befreien von den Schatten, den ihre jahrelange Krankheit über sein Leben warf. Aber dieses heldenhafte Opfer wird zunichte gemacht von ihrem Freund, der, um den Sohn zu vernichten, das Geheimnis verrät, ohne zu wissen, dass gerade dieses Wissen den jungen Mann zu einem sinn- und verantwortungsvollen Leben zurückführen wird.“ Bei Friedrich Torberg: „… was steckt nicht alles in dieser Geschichte eines einsam Alternden, dem die unheilbar kranke Freundin um ein paar Jahre früher verloren geht, als es vielleicht sein müsste: denn sie hat Selbstmord begangen, sie wollte ihren Sohn, den jungen Dichter, nicht länger in seinem Schaffen hemmen und belasten; und der von ihr allein gelassene Freund sagt ihm das, macht ihm diese ungleich schwerer belastende Mitteilung, macht sie ihm entgegen der ausdrücklichen Bitte des Abschiedsbriefs. Was steckt da nicht alles drin von der Brutalität des Generationskonflikts, vom eifersüchtigen Aufbocken des Alters wider die Jugend, von der Kluft zwischen Bürger und Künstler. In Lübeck hat man aus sowas ein halbes Lebenswerk geschrotet …“. Torberg sieht in den Einaktern Schnitzlers auch Werke des „großen, weisen Menschenkenners und Menschengestalters“.

Bliebe Reinhard Urbach: „Die Themen der vorangegangenen Akte, Erlebnisdichtung, Eifersucht, Eitelkeit, werden aufgegriffen und persifliert. Eine Mutter ist für ihren Sohn in den Tod gegangen. Sie hat ihr Leiden abgekürzt, um ihm das Leiden über ihr Leiden zu nehmen; denn ihr Sohn ist ein Dichter, der vielleicht ihretwegen keine Kraft zum Schreiben findet. Ihr Freund Hausdorfer offenbart diesen Grund ihres Todes dem Sohn, obgleich es der Wille der Mutter war, Heinrich davon nichts erfahren zu lassen. Doch ist dem Freund die Vertraute gestorben, und der Hass auf den Sohn, um dessentwillen sie starb, ist größer als der Respekt vor dem Willen der Toten. Er ist der Benachteiligte; sie ist nicht seinetwegen am Leben geblieben, sondern um des Sohnes willen in den Tod gegangen. Das setzt die Gestalt des Hausdorfer ins Zwielicht. Der Edelmut der Mutter für den Sohn wird getrübt durch den Hochmut des Sohnes, der es für selbstverständlich nimmt, dass sie sich für sein Werk geopfert hat. Ob dieses Werk einen Tod rechtfertigt, wird nie bewiesen werden können.“ Urbach will seine Leser sich eine eigene Meinung bilden lassen: „... zwei Meinungen stehen einander gegenüber, und eine jede ist wohlbegründet. Wer will sich ein Urteil darüber erlauben, welches die richtige ist?“ Man hätte immerhin etwas zu streiten, halte ich dagegen.

Auffallend an all diesen Paraphrasen des Bühnen-Plots ist, dass der Gärtner gar keine Erwähnung findet. Wohl ist hier der Gärtner keineswegs der Mörder, dennoch hat ihn Arthur Schnitzler nicht erfunden, damit er übersehen werde. Im Briefwechsel von Otto Brahm und Schnitzler finden sich gleich mehrere Stellen, wo eben auch die Besetzung des Gärtners eine Rolle spielte. Brahm (5. Februar 1856 – 28. November 1912) war derjenige, der Schnitzler in Berlin durchsetzen half. Der noch unbekannte Schnitzler war gut für Brahm, der seine erste Spielzeit vorbereitete. Agnes Sorma spielte ihm „Liebelei“ zu. Wir lesen bei Günther Rühle: „Schon Mitte Februar – also lange vor der Uraufführung im Burgtheater – sicherte Brahm sich die Rechte für Berlin. Es sollte ein Lebensbund werden. Schnitzler wurde – neben Ibsen und Hauptmann – Brahms dritte Kraft.“ Und Brahm war es, der sich von „Lebendige Stunden“ besonders angesprochen fühlte, mehr als von den anderen frühen Einaktern, die ihm zugesandt wurden. Und dort gibt es eben den Gärtner Borromäus, der als alter Mann beschrieben wird, also auf jeden Fall älter ist als der pensionierte Beamte Anton Hausdorfer, dessen Alter Schnitzler mit nahe 60 angibt. Borromäus gräbt den Garten um, es ist Oktober, ein Monat, dessen Witterung man mit Misstrauen begegnen sollte, wie er weiß und sagt.

Was der Gärtner noch nicht weiß, ist, dass die gnädige Frau Hofrätin nicht mehr lebt, die doch sieben Jahre jünger war als Hausdorfer und auch sehr krank, aber doch eben nicht so krank, dass mit ihrem Tod jeden Augenblick zu rechnen war. Hausdorfer ist zerstreut, halb abwesend, er hört nicht richtig hin, was ihm der Gärtner erzählt. Was der Leser oder Zuschauer nicht gleich weiß: die Hofrätin war nicht die Gattin des Mannes. Spätestens, wenn Heinrich, der junge Dichter, ihn anspricht und siezt, stutzt man, auch wenn man das Siezen von Eltern aus dem österreichisch-ungarischen Kulturraum als durchaus vorkommend schon einmal zur Kenntnis genommen hat. Heinrich ist der Sohn der Hofrätin, so um die 27 Jahre alt und in einer Schaffenskrise. Das Stichwort ist glücklicherweise nur aufgerufen bei Schnitzler, nicht breitgequält. Heinrich ist nach dem Tod seiner Mutter abgereist. Ich gestehe, dass mich das Wort abreisen immer wieder elektrisiert, es war einmal ein Hauptwort der deutschsprachigen Literatur, weckte weit über den profanen Vorgang hinaus Assoziationen. Denn Abreise pur ist eben nicht auf ein örtliches Ziel gerichtet, sondern gegen die Zurückbleibenden, gegen das Zurückbleibende. Folglich will Hausdorfers Nachfragen nach Salzburg und München genau diesen Aspekt mit Absicht ausblenden.

Von der absichtsvoll und aggressiv gegen Heinrich gerichteten Sinnes- und Tunsart des Pensionärs, die die oben zitierten Stimmen alle mehr oder minder klar erkannt haben wollen, ist mir beim Lesen des Einakters wenig aufgefallen. Vielleicht fehlt mir der Sinn für solche subtilen Ausfaltungen von Alterseifersucht? Der Beamte, der sich und seine Tätigkeit richtigerweise für ersetzbar hält, der auch richtigerweise sieht, dass das Ausscheiden eines Künstlers aus dem Leben anders als das des Beamten unter Umständen eine Lücke hinterlässt, die ihn nicht vollkommen ersetzt, muss freilich diese Erkenntnis nicht zwingend so verinnerlichen, dass er sich damit abfindet. Er neidet wohl auch dem Künstler ein wenig seinen Status und verhält sich entsprechend. Der Bürger, der, wie wir aus DDR-Zeiten wissen, durchaus auch Proletarier sein kann, ist gegen den Intellektuellen, den Künstler, leicht zu mobilisieren und zu instrumentalisieren. Jedem nach den Westen Gegangenen, dem keine Träne nachgeweint wurde, wurde immerhin die üble Nachrede zu teil, ihm sei es zu gut gegangen. Von oben herab haben wir auf den vermeintlichen Spießer Hofbauer nicht zu sehen. Da hat Reinhard Urbach mit seiner Sicht auf gleichwertige Argumentationen sehr genau den Nagel auf den Kopf getroffen. Weniger mit seiner Sicht auf die Qualität des rechtfertigenden Werkes.

Wäre, um die Überlegung zu verdeutlichen, ein Selbstmord um des Sohnes willen bei Goethes Mutter eher gerechtfertigt als bei, sagen wir, Tiecks Mutter? Die große Tat, die unfassbare, bleibt die Tat dieser kranken Mutter. Wer immer irgendwo über Selbstmord und Selbstmordgründe fabuliert, sollte diesen Einakter für die Materialsammlung notiert haben. 1908 schrieb übrigens Otto Brahm rückblickend auf das Uraufführungsjahr 1902: „Eine sogenannte Bühnenwirkung hat es in der Tat nirgends gehabt.“ Und Schnitzler selbst hatte aus den Medienreaktionen von Wien aus ein wenig resigniert erkannt: „Die Einmütigkeit, mit der das innerlich reichste der Stücke, die Lebendigen Stunden … verurteilt, und die Einmütigkeit, mit der das innerlich ärmste, die Literatur, überschätzt werden sollte, hab ich nicht vorausahnen können.“ In dieser Hinsicht sind sich Publikum und Kritik bis heute erstaunlich treu geblieben. Und Brahm registrierte ebenfalls genau, dass die Wirkung der Wiederholung deutlich besser war als die der Premiere. Bis heute wird Theatergeschichte anhand der Premieren geschrieben, zu denen die Kritiker gehen, es besteht mehr als ein Restrisiko, dass diese Geschichtsschreibung ihren Gegenstand mehr oder minder deutlich verfehlt. Doch alle, die gesehen werden wollen, gehen eben zur Premiere, und eigens drapiert.

Als Heinrich behauptet, er würde alles geben, säße seine Mutter noch einmal hier im Garten, holt ihn Hausdorfer auf den Boden zurück. Und er verallgemeinert sogleich in den Plural: „Hochmütig seid ihr – das ist es: hochmütig, alle, die Großen wie die Kleinen! Was ist denn deine ganze Schreiberei, und wenn du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat, oder auch geschwiegen...“. Heinrich aber kontert: „Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über ihre Zeit hinaus. … Im Frühjahr, wenn Ihr Garten aufs neue blüht, sprechen wir uns wieder. Denn auch Sie leben weiter.“ Die Entwicklung seit Schnitzler und Brahm hat dahin geführt, dass selbst vollkommene Talentlosigkeit nicht gehindert wird, ihre spezifischen „Lebendigen Stunden“ zu Papier zu bringen und zum Buch zu machen. Im Meer, das sie bilden, die ihrem Ende entgegen gehende Buchmesse in Frankfurt liefert mit ihren Neuerscheinungszahlen einen Seitenbeweis zur These, sind „Lebendige Stunden“, die Literatur genannt werden dürfen, vorm endgültigen Untergang zunehmend weniger sicher. Man darf das bedauern. Und betrauern.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround