Ödön von Horvath: Der jüngste Tag

Als am 11. Dezember 1937, zwei Tage nach seinem 36. Geburtstag, in Mährisch-Ostrau Ödön von Horvaths Schauspiel in sieben Bildern „Der jüngste Tag“ uraufgeführt wurde, ahnte niemand, dass der Autor seinen 37. Geburtstag schon nicht mehr erleben würde. Auf dem Weg dahin lag jener 1. Juni 1938 in Paris, als ein an Seltenheit schwer zu übertreffender Unfall das noch junge Emigrantenleben jäh beendete. In Klaus Manns Lebensbericht „Der Wendepunkt“ lesen wir den wundersamen Satz: „Horvath, eine der merkwürdigsten dichterischen Begabungen seiner Generation, plauderte für sein Leben gern über seltsame Unglücksfälle, groteske Krankheiten und Heimsuchungen aller Art.“ Da die erste englische Fassung 1942 erschien, kannte Klaus Mann natürlich die besonderen Todesumstände genau. Sein Tagebuch vom 2. Juni 1938 hält fest: „Die schreckliche Nachricht, die Uli Becher mir telephonierte: Ödön Horvath auf den Champs Elysées von einem Baum erschlagen. Es klingt zu grausig-phantastisch. Hoffe noch, es ist nicht wahr.“ Am 3. Juni: „Die Schreckensnachricht über Horvath bewahrheitet sich …“. Auch „Der jüngste Tag“ spricht von Heimsuchungen aller Art.
 
Im weiten Sinne natürlich nur, aber immerhin: Weil die Wirtstochter Anna aus einer wohl gar nicht so augenblicklichen Augenblickslaune heraus dem Stationsvorstand Thomas Hudetz vor den Augen seiner Frau einen Kuss aufnötigt, der wiederum den bis dato hypervorbildlichen Mann nicht völlig und total unvorbereitet trifft, wird ein Signal zu spät betätigt und es stoßen ein Eilzug 405 und ein Güterzug zusammen, es gibt 18 Tote, zahlreiche Verletzte, unter den Toten auch beide Lokführer. Unter den Überlebenden ein Heizer, der aber nichts bezeugen kann, weil er just im Moment des Frontalzusammenstoßes die Kesselheizung beschickte. Es gibt eine Untersuchung, damals eilten noch nicht zahlreiche Funk- und Fernsehstationen für ihre Nachrichten herbei, Mitglieder der Landesregierung flogen noch nicht im Hubschrauber zum Unglücksort, unterwegs ihre betroffene Miene für die Kamera am Handspiegel einübend. Es sind Gendarmen zugange, ein Staatsanwalt und zunächst ist der hervorragende Leumund des Stationsvorstandes ein Schutzwall gegen jeden Verdacht, er könnte einer Dienstpflicht nicht nachgekommen sein. Er hat zum Unglücks-Zeitpunkt ein Übermaß solcher Pflichten.
 
Knapp dreißig Jahre nach der Uraufführung in Mährisch-Ostrau, Regie Paul Marx, resümierte Kurt Kahl, „Der jüngste Tag“ sei das meistinszenierte Stück Horvaths. Weitere fünfzig Jahre später mag sich die interne Horvath-Hitliste geändert haben, das Schauspiel wird auf alle Fälle immer noch an sehr verschiedenen Häusern auf die Bühne gebracht, zuletzt im Oktober in Augsburg, Regie Maria Viktoria Linke, davor im April in Detmold, Regie Grit Asperger, davor im Februar in Bremerhaven, Regie Dominique Schnizer, davor am 27. November 2015 das Theater am Bahnhof Abensberg, Regie Franz Englbrecht und Christian Trippner, um nur vier Neueinstudierungen innerhalb eines Jahres zu nennen. Da haben es diverse lebende Dramatiker extrem viel schwerer und das liegt nicht nur daran, dass die Theater Tantiemen sparen wollen. Ihre Stücke besitzen zu oft ein Verfallsdatum, das schon bei den Premieren knapp überschritten ist. „Ich verzichte auf Ihre Wahrheit“, sagt in Horvaths „Rund um den Kongress“ ein Herr in der siebenten Reihe. Hans Hollmann (Jahrgang 1933) hat das 1971 ans Ende einer selbstbewussten Erklärung über Grundsätze künftiger Horvath-Regisseure gesetzt.
 
Da war er selbst erst seit vier Jahren überregional bekannt, weil er in Stuttgart „Italienische Nacht“ in Szene gesetzt hatte. Von ihm stammt der Satz: „Die Geschichte der Handlung von Horvath-Stücken zu erzählen, ist deshalb so unergiebig, weil sie unwichtig ist.“ Weniger vorlaut dagegen liest sich: „Die Fabel der Stücke kann man überhaupt nur erzählen, wenn man bei jeder Beschreibung eines Vorganges dazusagt, was dabei gesprochen wird.“ Gedruckt liest sich das auf der Bühne zu Sprechende fast immer leicht und schnell, was nicht gegen den Autor spricht. Sagt zum Beispiel gleich im ersten Bild ein Waldarbeiter: „Es kommt eben alles daher, weil immer nur abgebaut und abgebaut wird. – Die werden noch so lange rationalisieren, bis überhaupt nix mehr fahren wird.“ Es geht um den Stationsvorstand, der auf der kleinen Station inzwischen alles allein machen muss. Und nicht man, aber ich denke, das ist doch wie bei den Zeitungen, in denen so lange rationalisiert wird, bis am Ende keine Zeitung mehr erscheint, weil sich weiße Papierseiten einfach nicht täglich verkaufen lassen. Zu Horvaths Lebzeiten gab es noch Morgen-, Mittags- und Abendzeitungen, unfassbar.
 
Ein Kosmetik-Vertreter sagt: „Jaja, die Herren Weiber, die bringen dich auf die Welt, und dich auch wieder um.“ So klingt Horvath-Humor. Ein Fleischhauer tritt auf, Ferdinand, von dem vermutet wurde, er sei eine Art Pendant zum Havlitschek aus „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Hier, in „Der jüngste Tag“ aber, muss Frau Leimgruber den Fleischhauer im sechsten Bild zum Herzerbarmen finden. Sie spricht: „Jaja, man sollte gar nicht meinen, wieviel zartes Gefühl in so einem rauhen Lackl von Fleischhauer stecken kann und umgekehrt.“ Sie lupft mit diesem Satz ein wenig den Deckel über dem innersten Kern von Horvaths Weltbild und man versteht, dass der Fleischhauer ein Stellvertreter ist, nicht der Gottes, wohl aber der jener übergroßen Gruppe von Menschen, denen Horvath eine Nicht-Sprache gibt, die tatsächlich ihre Sprache ist. Die Lackl von Fleischhauern sind gleich nach den Fräulein Ödön von Horvaths immer wieder bevorzugte Hauptfiguren, mit Fleisch müssen sie gar nicht zu tun haben, wobei der Havlitschek ja mit Fleisch auch gleich noch die Frauen meint. Der Ferdinand aber, der macht sich Vorwürfe, dass er die Anna nicht genug beschützt hat.
 
Denn die wird in diesem Stück ermordet. Sie wird von Thomas Hudetz ermordet, weil sie, wie der Münchner Kritiker Armin Eichholz anlässlich einer Aufführung in den Kammerspielen 1970 schrieb, „ihm bei heimlich erpresster Umarmung auch noch ihre Schuldgefühle aufhalsen will.“ Hudetz weiß am Ende des ersten Bildes sofort, was er getan hat, dennoch setzt er auf Lüge und Verdrängung. Anna liefert mit einem Meineid die Bestätigung seiner Version des Herganges, kann aber dann im Gegensatz zu ihm damit nicht umgehen. Sie sagt es auf eine Weise, wie es nur ein Horvath-Fräulein sagen kann: „…ich hab mir nichts dabei gedacht, aber jetzt ist alles anders und wenn die Nacht kommt, dann hab ich die Sterne vergessen.“ Hudetz hat die Sterne nicht vergessen, wohl aber, wie er sie umgebracht hat. Das stellt Horvath so hin, andere würden da vielleicht das tiefenpsychologische Seziermesser auspacken. Er stellt es auch einfach so hin, dass die Enthüllung der Frau Hudetz, es sei anders gelaufen, ihr Hass und Verachtung eintragen, weil sie ihren Mann so ins Gefängnis bringt. Auch wenn es nur eine Untersuchungshaft ist, die immerhin vier volle Monate dauert.
 
Im dritten Bild sind die vier Monate schon um. Der Saal wird gerüstet für die große Wiedersehensfeier mit dem frei gesprochenen Stationsvorstand, die Zeugenaussage der Anna vor Gericht hat ihm zum Freispruch geholfen, das ganze Dorf ist auf den Beinen. Der Wirt und Vater von Anna sieht seine Gäste nüchtern: „…es rührt sie nicht, ob einer verurteilt wird oder freigesprochen, schuldig oder unschuldig – sie denken nur an ihr Bier.“ Der Ferdinand ist stolz auf seine Braut: „Meiner Seel, ich hab schon direkt das Gefühl, als wär meine Braut eine Filmdiva!“ Nur, weil sie vor Gericht aussagte! Im vierten Bild trifft Thomas Hudetz auf den Gendarmen, der ihn vor umherstreifenden Zigeunern warnt. Und dann sagt Anna zu ihm: „Ich möchte nicht mehr leben, Herr Vorstand.“ Alles deutet voraus, fast jeder Satz wird im Stück von mindestens einer anderen Person missverstanden. Drei Tage später trinkt Hudetz gegen jede Gewohnheit Rotwein im Wirtshaus Zum Wilden Mann. Spätestens hier wüsste Inspektor Columbo, dass er der Täter ist, es müssten nur noch die finalen Beweise gefunden werden. Aber Hudetz überrascht mit der Aussage: „Ich hab mich mit dem Fräulein Anna verlobt.“
 
Was bleibt da, wenn man im Auge behält, welchen Titel der Autor seinem Stück gegeben hat? Natürlich kann sich der fälschlich rehabilitierte Stationsvorstand beispielsweise vom Viadukt stürzen, den Mord durch Selbstmord sühnend, da, wo er geschah. Natürlich kann sich der Mann auch vor einen Zug werfen, idealerweise und wegen des Symbolgehaltes vor den Eilzug 405. „…und wenn ich vor Gericht gestellt werden soll, dann möchte ich aber gleich vor die höchste Instanz. Wenn es einen lieben Gott gibt, der wird mich schon verstehen …“, sagt Thomas Hudetz. Man könnte das Thema „Horvath und der liebe Gott“ aufmachen, es ergäbe einen soliden Stoff. Georg Hensel blickt auf diesen Punkt im siebenten Bild: „In die Debatte über diese sehr viel schwierigere Schuldfrage lässt Horvath in der letzten Szene sogar die Toten eingreifen, auch den Lokomotivführer, der beim Zusammenstoß getötet worden ist.“ Als Horvath das Stück schrieb, als es gespielt wurde ab 1937, war das eine dramaturgische Innovation. Hans Weigel meinte 1957: „Er hat, auch im „Jüngsten Tag“, die spätere Mode, Tote und Lebende gleichberechtigt nebeneinander auftreten zu lassen, vorweggenommen“.
 
Der tote Pokorny, der Lokomotivführer war und Opfer des von Hudetz verschuldeten Unglücks, will, dass der Stationsvorstand sich vor den E 405 wirft. Hudetz wiederum fragt den untoten Toten, wie es denn sei, drüben im Jenseits und wieder sind wir bei einer Antwort, die es nur in einem Horvath-Dialog geben kann: „Weißt, wie in einem stillen ländlichen Wirtshaus, wenns anfängt zu dämmern – draußen liegt Schnee und du hörst nur die Uhr – ewig, ewig – liest deine Zeitung und trinkst dein Bier und musst nie zahlen“. Ist das Vision eines spießbürgerlichen Jenseits, wie behauptet wurde? Nein, das ist die vertrackte Poesie, die die Horvath-Texte durchzieht, ohne dass ihnen das signalisierende P auf dem Rücken klebt. „Wir spielen oft auch Tarock und ein jeder gewinnt – oder verliert, je nachdem, was einer lieber tut. Man ist direkt froh, dass man nimmer lebt.“ Kurt Kahl darf das Schlusswort haben: „… eines der reifsten Werke dieses Autors. Er hat darin ruhige Überzeugungskraft, die man gegen die aufgeregte Derbheit seines ersten Stückes vom Bau der Zugspitzbahn halten muss, um den Weg, den er zurückgelegt hat, ermessen zu können.“ Das gilt sicher heute auch noch.


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