Arnold Wesker: Der kurze Prozess
Als 2005 Harold Pinter den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, gab es die üblichen Verdächtigen, die den Juroren in Stockholm ihre progressive Paralyse bescheinigten und, falls überhaupt, darauf hinwiesen, Pinter hätte den Preis Jahrzehnte früher vielleicht bekommen müssen. Arnold Wesker stand vermutlich nie auf einer Vorschlagsliste und als er am 12. April 2016 starb, gab es in einem reichlichen halben Dutzend Medien leicht redigierte Agenturmeldungen zu diesem Ableben. Selbst Hans-Dieter Schütt begnügte sich überraschend mit einer gestreckten Notiz in NEUES DEUTSCHLAND, verwies aber auf den königshäuslichen Ritterschlag für Wesker aus dem Jahr 2006 und nannte ihn bei der Gelegenheit einen „Sohn jüdischer Kommunisten“. Die angebliche Renaissance auf britischen Bühnen ist nach Deutschland jedenfalls nicht geschwappt seither, das ZEIT-Lexikon Literatur kennt den Namen Wesker gar nicht mehr. Schütt hat wenigstens noch ein paar Fakten falsch oder dicht daneben abgespeichert. Heute wäre Wesker 85 Jahre alt geworden.
Der erste von zwei DDR-Auswahlbänden mit Wesker-Stücken erschien schon 1970 im Verlag Volk und Welt, den zweiten brachte der Henschel-Verlag Jahre später in seiner dialog-Reihe. Zu großer Bühnenwirksamkeit animierten beide Bände nicht. Mal eine Premiere 1975 in Karl-Marx-Stadt, das Stück nach Dostojewski, 1971 brachte das Deutsche Theater Berlin „Goldene Städte“, 1973 gastierte zu den Berliner Festtagen das Ateneum Theater Warschau mit „Die Küche“, 1976 gab es „Tag für Tag“ in den Kammerspielen, Simone von Zglinicki war jene Beatie Bryant, die Wesker nach dem Vorbild seiner Frau Dusty gestaltet haben soll, die er kennenlernte, als er Koch war und sie Serviererin. Man findet in alten Jahrgängen von „Theater der Zeit“ da und dort etwas zu Wesker, sogar ein Interview, letztlich aber hatte der Brite zu viele Fehlstellen im Profil, um der Kulturpolitik der SED nahtlos ins Portefeuille zu passen. Denn im Grunde erzählte der 1932 geborene Migranten-Sohn mit Ausdauer in immer neuen Variationen vom Scheitern von Hoffnungen und Illusionen, im Grunde war der Sozialismus, dem er über längere Zeit huldigte, nie real existierender Sozialismus.
Das Stück „Chips with Everything“, den Verfassern der Leipziger Reclam-Geschichte „Englische Literatur im Überblick“ 1986 den deutschen Titel „Bratkartoffeln, nichts als Bratkartoffeln“ wert, als hätte es nicht schon sechzehn Jahre früher in eben der bereits genannten DDR den Titel „Der kurze Prozess“ erhalten in der Übertragung von Harry Raymon und Wolfgang Parr, ist ein mehr als seltsames Stück. Und es lässt sich ohne zu viel Dreistigkeit behaupten, dass eher zwei Kamele aufrecht nebeneinander durch ein Nadelöhr marschiert wären, als dass ein Theater im ersten deutschen Arbeiter- und Bauern-Staat dieses Drama um acht Wochen Grundausbildung in einer Kaserne der Royal Air Force in seinen Spielplan aufgenommen hätte. Denn was die Deuter darin zu erkennen meinten oder tatsächlich erkannten, nämlich die kritische Behandlung der Klassenstruktur am Fallbeispiel Kaserne im Imperialismus, hätte Theaterbesucher in der DDR, soweit sie ihren Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) hinter sich hatten, zu völlig anderen Erkenntnissen geführt. Zum Beispiel dieser: Bei uns ist es in wichtigen Punkten definitiv deutlich schlimmer.
Das kritische Stück eines britischen Bekenntnis-Sozialisten, weit entfernt von dem, was in der DDR als „wissenschaftliche Weltanschauung“ galt, hätte auf einer Bühne mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen antiimperialistischen Propaganda-Effekt erzielt, wäre eher in einer maximal unerwünschten Richtung wirksam geworden. Denn ein Problem mit „Klassen“ in der Armee hatte die DDR natürlich auch, wenngleich nicht im Sinne ihrer eigenen Klassentheorie. Für einen Abiturienten, einen Fachschul- oder gar Hochschulabsolventen konnte der Kontakt mit Vorgesetzten, noch mehr natürlich der Kontakt mit den Mit-Soldaten in der Grundausbildung, im Grundwehrdienst, verheerendere Folgen haben als in diesem letztlich harmlos ausgehenden Spiel um angeblich systemimmanent erzwungene Anpassungszwänge. Wesker in der DDR hätte mit diesem seinem Stück aus dem Jahr 1962 vermittelt, dass Armeen einander viel mehr gleichen, als den Ideologen einer völlig neuen, angeblich sozialistischen Armee in ihren schlechtesten Träumen vorstellbar gewesen wäre. Der DDR-Rekrut mit Bildung war massiver Intelligenzfeindlichkeit ausgeliefert.
Ich habe, verrückter Effekt einer Lektüre, fast durchgehend an meine 18 Monate Wehrdienst denken müssen, mein 2013 erschienenes Buch „Kulturschock NVA“ macht überprüfbar, dass mir keine späte Gleichsetzung von unvergleichbaren Phänomenen zur Hilfskonstruktion für heutige Wesker-Reflexionen wird. Die Geschichte, wie sie Arnold Wesker schrieb und fast noch mehr, wie sie in der DDR von professionellen Lesern gelesen wurde, hat mehr mit Absichten als mit Realitäten zu tun. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass im Vereinigten Königreich am Ende von acht Wochen Rekrutenzeit, von der der Dramatiker wenig mehr als elementare Szenen des Exerzierreglements mit und ohne Waffe wirklich vorführt, ein Rekrut von sich aus seine Uniform auszieht und in eine Offiziersuniform schlüpft. Woher sollte er zu diesem Zeitpunkt eine solche Uniform überhaupt haben? Ein Dramatiker freilich, der Uniformen als Klassen-Signalement verstanden wissen möchte, gibt etwas Symbolwert, was tatsächlich an Voraussetzungen gebunden ist, die von der vorgegebenen Handlung des Spiels nicht erfüllt worden sind. Realismus ist das kaum. Was aber ist es dann?
Jeder Dramatiker setzt eine Ausgangssituation, die der Leser, der Theatergänger, hinnehmen muss. Diese ist idealerweise, was man einst Exposition nannte, ein Schiller erfand „Wallensteins Lager“, um für alles Spätere eine solche zu haben. Arnold Wesker lässt eine begrenzte Zahl von Rekruten in eine Kasernenstube einziehen, ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist ein Corporal Hill. Der bei der anfänglichen Suche nach einem Stubenältesten zwischen Neunzehnjährigen die Wahl treffen muss, alle Rekruten sind also sehr jung. Schon mit dieser einfachen Feststellung wird klar, dass alle Deutungen, die einen Konflikt zwischen einem linksliberalen Intellektuellen und Arbeitern sehen wollen, sich auf dem Holzweg befinden. Mit 19 ist niemand ein linksliberaler Intellektueller, er ist schlimmstenfalls ein arroganter Schnösel aus besseren Kreisen als seine Stubengefährten. Wenn sich dieser junge Mann namens Pip Thompson bis zum Schluss nie zu wirklicher Kameradschaft bereitfinden will, Annäherungen zurück weist, dann ist das Charakter-, keineswegs Klassenfrage. Warum er als einziger seiner Herkunft unter diesen Rekruten landet, bleibt Weskers Geheimnis.
Dass sich Vorgesetzte, militärische zumal, vor Untergebenen, denen sie zum ersten Mal begegnen, zu privaten Bekenntnissen, zu Selbstcharakteristiken hinreißen lassen, die mehr als nur Imponier-Rhetorik darstellen, scheint mir absolut undenkbar, Weskers Text also abermals höchst unrealistisch. Das gilt für die dubiosen Absprachen zwischen unterschiedlichen Dienstgraden wie Oberstleutnant, Major und Leutnant in einem Zuge ebenfalls. Der Haupteinwand aber, aus Sicht meiner NVA-Erfahrung keine zehn Jahre nach dem Erscheinen des Stückes: einen renitenten Rekruten, der provozieren und imponieren will, würde kein Offizier normaler Konstitution je mit Hinweis auf gemeinsame Zugehörigkeitsempfindungen auf seine Seite zu ziehen versuchen, selbst wenn er eine akute Gefährdung von Disziplin und Ordnung bei den anderen durch diesen einen befürchten würde oder befürchten müsste. Nach dem Fahneneid ist der Rekrut ein Ausgelieferter, schwer vorstellbar, dass das in der Royal Air Force ihrer Majestät anders gewesen sein sollte. In der NVA bestimmte allein der Zeitpunkt der Einberufung in hohem Maße die Soziostruktur, war das in England anders?
Pip Thompson schafft es einmal, seinen Mit-Rekruten uneingeschränkten Respekt einzuflößen: als in einer faktischen Notsituation Kohlen besorgt werden müssen, wozu er eine clevere Logistik und eigenes praktisches Mittun investiert. Einmal riskiert er eines der schwersten Militärvergehen, das in Kriegszeiten mit Todesstrafe geahndet wird: Befehlsverweigerung. Das kenne ich besser, als mir einst lieb war. Es geht um den Vollzug eines Bajonett-Angriffs gegen eine Strohpuppe, der von dem Vorgesetzten zwar in deftigen Worten vorbereitet, aber letztlich doch fast entschuldigend erklärt wird. Ich kenne mitten aus dem Sozialismus die sadistisch-genüssliche Schilderung, wie das Bajonett in Hals oder Körper des Feindes zu drehen ist, damit die Wirkung maximal wird. Ich kenne auch die pädagogisch-psychologische Begründung des nötigen Urschreis bei Vollzug des Mordes. Britische Bajonette waren in der Rekrutenausbildung keinesfalls schrecklicher oder gar förderlicher für Pazifismus als DDR-sozialistische. „Es enthüllt vor allem die Klassenspaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung und bestimmte Methoden der Herrschenden, sie aufrechtzuerhalten und das Rebellentum von Nonkonformisten zu neutralisieren.“ So wollte es einst Günther Klotz sehen.
Dass nun ausgerechnet dies Stück des angeblich von der bürgerlichen Kritik, von den Mainstream-Theatern geschnittenen Dramatikers sein größer Erfolg geworden sein soll, sogar am New Yorker Broadway, ist schlicht unvorstellbar, wenn es tatsächlich den kritischen Impuls vermitteln würde, der ihm interpretierend unterstellt wird. Man müsste Kritikern und Theatern haarsträubende Einfalt unterstellen, solche Deutungen zu bedienen. In Wahrheit ist Arnold Wesker wohl immer wieder auf Bühnen-Geschichten verfallen, die Resignationen vorführen, Scheitern von Idealen. Und in den besten Fällen liefert er dem aufmerksamen Leser noch implizit die Gründe für das Scheitern mit. Oder waren je in Großbritannien tatsächliche Hoffnungen auf grundlegende Änderungen der Gesellschaft an die Labour Party zu binden? Brauchte es tatsächlich irgendwelche Enttäuschungen von 1945 bis, sagen wir, 1960, um Illusionen zu verabschieden? Glaubte auf der Insel jemand tatsächlich an die anglisierte Ideologie der Arbeiterbildungsvereine? Hielt tatsächlich irgendein denkender Mensch William-Morris-Experimente für mehr als von Anfang zum Scheitern verurteilt?
Die verbale Kraftmeierei eines Vorgesetzten wie Corporal Hill bei Arnold Wesker ist kombiniert mit nicht anders als urhuman zu nennenden Appellen an die Kameradschaft seiner jungen Untergebenen kein Schreckbild. Der argumentierende Leutnant, der sich rückversichernde Oberstleutnant, keiner von ihnen taugt als Gegenbild zum sozialistischen Offizier oder Unteroffizier. Bedingungsloser Gehorsam ist bedingungsloser Gehorsam, Ordnung und Disziplin sind Ordnung und Disziplin, wer dort Klassenunterschiede konstruieren und behaupten möchte, muss andere als Bühnenliteratur studieren. Es gibt auch eine Stelle im Stück, die wirklich erschreckt: „Was hält dich eigentlich zusammen, Mann? Du siehst ja aus wie ein alter Jude. Du weißt, was mit Juden passiert? Die kommen in Gaskammern.“ Das sagt der Corporal Hill zum Rekruten Smiler, der sein Gewehr hat fallen lassen. Zeigt Arnold Wesker hier statt Klassenstrukturen gar faschistische Überzeugungen aus dem Arsenal des Kriegsfeindes mitten in der eigenen Luftwaffe? Und darüber haben offenbar alle hingelesen? „Wir erwarten, dass Sie stolz darauf sind und sich der Uniform nicht schämen, die Sie tragen.“ Sagt der Oberstleutnant. Allein solcher Gedanke ausgesprochen: in der DDR undenkbar.
Im Jahr 1997 hat Arnold Wesker ein Stück veröffentlicht, Titel „Denial“, in dem es um betrügerische Manipulationen einer Therapeutin geht, die einer Frau einredet, sie sei von ihrem Vater vergewaltigt worden, das führt zu vielen falschen Anschuldigungen. Diese für Feministinnen sicher wenig aufbauende Stückidee hat dennoch höchstwahrscheinlich nicht dazu geführt, dass Ina Schabert als Autorin des dicken Buches mit dem Titel „Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung“ (Kröber Stuttgart 1997) den Namen Wesker offenbar gar nicht kennt. Dabei spielen Frauen in dessen Stücken, wenn sie denn überhaupt vorkommen, exemplarische und sehr oft positive Rollen. Wunder der Rezeption, die als Forschungsthema gar kein so abartiger Gegenstand wären. Denn auch das frühe Stück „The Kitchen“ hat das seltsame Schicksal erlitten, in England selbst als Darstellung aus dem Fabrikleben vereinnahmt worden zu sein. Küche und Fabrik, das kann, möchte man meinen, nicht einmal ein Engländer in eins setzen. Und ob ein britischer Oberleutnant vor Zeugen sagen dürfte: „Eine perfekt ausgerüstete Rakete ist wichtiger als eine Bibliothek.“? Wie ging der Satz mit den offenen Fragen und den geschlossenen Vorhängen?