Oskar Maria Graf: Der Mittler

Maria war er nicht von Anfang an. Zunächst war er nur Oskar und zwar nicht wesentlich mehr als einer unter vielen. Schon zu Hause. Als neuntes von elf Kindern steht man, heutig gesprochen, weder von Beginn auf der Siegerstraße noch auch nur auf einer Überholspur. Wahrscheinlicher ist dagegen, was dieser Oskar nach dem Tod seines Vaters tatsächlich erlebte: eine ersatzpatriarchale Bruderdikatur. Man liest von Flucht Oskars vor Max, man liest auch, Max habe Oskar vom Hof geprügelt. Immerhin: Oskar landete siebzehnjährig in München, wo er zunächst Visitenkarten drucken ließ, auf denen „Oskar Graf, Schriftsteller“ stand, erst 1917 schob er zwischen den Oskar und den Graf die Maria, einem gewissen Rainer Maria folgend, dem wiederum nachgesagt wird, er habe Oskar Maria das Leben gerettet per Intervention nach dem Sieg der Konterrevolution über die Räterepublik in München. Auf der offiziellen Website der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft findet sich als Beleg für Rainer Maria Rilkes Sicht auf Graf ein kurzes Zitat aus einem Brief an einen Anwalt, der sich 1919 um die Freilassung Grafs aus dem Gefängnis bemühte, sehr unspektakulär: „... ich wünsche von Herzen, dass dieser ernste und begabte junge Schriftsteller recht rasch seiner Tätigkeit wiedergegeben und einer Lage entzogen sei, in die ihn nur ein völlig verkennender Irrtum gestürzt haben kann.“ Verkennendes Irren wäre ein reizvolles, hier aber ablenkendes Thema.

Herzenswünsche von Dichtern, so schön es anders wäre, haben selten Rechtsvollzüge beeinflusst, selbst wenn das Unrechtsvollzüge waren. Oskar Maria Graf, der heute vor 50 Jahren in New York starb, war in seinem Vater- und Mutterland nach 1945 in seltsamer Situation: im Westen ignorierte ihn die tonangebende Kritik nahezu komplett: man sucht, ein paar Namen zu nennen, bei Friedrich Sieburg, bei Günter Blöcker, bei Hans Egon Holthusen vergebens nach einer Aussage, selbst der allgemein deutlich weiter links verortete Fritz J. Raddatz, Sieburg-Herausgeber, hat allenfalls da und dort eine knappe Nennung, keine Substanz. Im Osten dagegen, Sowjetzone, spätere DDR, hofierte man den Bayern geradezu, es gab Nachauflagen vergriffener oder schwer zugänglicher Bücher, es gab Ehrungen, Erstausgaben, schließlich verfasste der berühmte Traven-Forscher Rolf Recknagel sogar eine recht umfängliche Biographie „Ein Bayer in Amerika“. Und als die DDR schon in die Geschichte umgesiedelt war aus der Gegenwart, folgte ein Nachklapp: Detlev Ignasiak publizierte Grafs Briefe an den Rudolstädter Verleger Karl Dietz, Ulrich Kaufmann nutzte die Gunst der Stunde, alte Arbeiten aufzulegen, was Thomas Kraft in der Beilage der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zu einem sehr scharfen Verriss animierte, Quellenfreunde seien auf die Ausgabe vom 9. November 1994 verwiesen: es werde „mit hohlen Etiketten nur Verwirrung gestiftet“.

Die Kalender-Geschichte „Der Mittler“, die mir den Beitragstitel liefert, erschien in der DDR im Rudolstädter Greifenverlag in dessen Ausgabe anlässlich des 60. Geburtstages von Graf als „Auffassung freibleibend“. Mit diesem Titel übernahm der Verlag der Nation Berlin sie 20 Jahre später in seine Anthologie „Weltende. 33 Erzählungen von der Jahrhundertwende bis zum Beginn der faschistischen Diktatur“. In Wieland Herzfeldes berühmter Anthologie „Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa (1932)“ aber heißt sie „Der Mittler“ und ist in drei nummerierte Abschnitte gegliedert, worauf in Rudolstadt (und in Berlin natürlich auch) verzichtet wurde. Den „Kalendergeschichten“ (und dem Roman „Bolwieser“) ist die bis heute berühmteste Stimme zu Oskar Maria Graf gewidmet, sie ist aus dem Jahr 1931 und von Walter Benjamin. Allein das sichert ihr allseits Daueraufmerksamkeit, denn bis heute gehört Benjamin im veröffentlichten Bewusstsein der alten Bundesrepublik zu den Ikonen ganzer Intellektuellen-Regimenter. Dabei sagt Benjamin zu den Kalendergeschichten fast nichts, zum Roman wenig. Man müsste sogar kritisch anmerken, dass Benjamin von dem, was später in „Bolwieser“ gesehen wurde, wenig mitbekommen hat, weil er eben doch kein Hellseher war, wohl aber, wenigstens in dieser Kritik, ein Mann, der überraschend rasch vom konkreten Text in die allgemeine Literatur-Theorie fliehen wollte.

Und dabei, natürlich muss es gesagt werden, auf knappstem Raum, klassische Sätze prägte zum Roman, zum Erzählen, zum Unterschied von Roman und Epik. Ich greife nur dies heraus: „Durch jede, noch die schlichteste Erzählung, geht ein großer Luftzug; wir machen uns selten einen Begriff davon, wieviel Freiheit dazu gehört, die kleinste Geschichte zum besten zu geben. Jede Befangenheit raubt dem Erzähler ein Stück seiner Sprachfertigkeit, und nicht nur, wie man meinen möchte, ein Thema.“ Das zielt weit über Graf hinaus und trifft ihn doch. Und ist es nicht ein herrlich schräger Ansatz, den Blick auf „Bolwieser“ mit der, freilich nicht beantworteten, Frage zu beginnen, wie Frank Wedekind das geschrieben hätte? Einmal, viel später, hat Oskar Maria Graf den Versuch gewagt, einen utopischen Roman zu schreiben und der Herausgeber von „Die Erben des Untergangs. Roman einer Zukunft“ im Rahmen der Werkausgabe im Paul List Verlag, Wilfried F. Schoeller, bescheinigte dem Versuch in seiner editorischen Nachbemerkung das Misslingen. Schoellers Argumente bestätigen just das, was Walter Benjamin mit seinen zitierten Sätzen wohl meinte. Der Roman beweist übrigens, das selbst ein freundliches Vorwort von keinem Geringeren als Albert Einstein keinen Erfolg auf dem Buchmarkt sichert. Weil der Roman von Graf selbst als Vermächtnis und Summe gesehen wurde, verdient er dennoch, nicht gänzlich vergessen zu werden.

„Der Mittler“ ist die Geschichte eines Konditors namens Dobler und die Geschichte eines Dorfes in der Zeit der Münchner Räterepublik. Sie beginnt mit der Ankunft dreier Fremder, die sich in einer Villa einmieten, ohne dass jemand erfährt, was sie dort wirklich treiben. Sie werden aufmerksam beobachtet, nur ergebnislos. Um so größer die Bedeutung des Wenigen, was beobachtet wird. Das Winken der Frau, als ein Rotarmistenauto vorbeifährt, beispielsweise reicht aus, um später die weiße Reaktion mordlüstern zu machen, nur sind die Villenbewohner offenbar geflohen und die Mordlust braucht ein anderes Opfer. Da kommt der Konditor eben recht, bei dem die drei Fremden oft zu Gast waren, um Kaffee und Kuchen zu genießen und mit ihm über Bücher zu sprechen. Da sind natürlich Motive aus Grafs eigenem Leben kenntlich, der Vater war Bäcker und die Prügel seines Bruders verdiente er sich, weil er heimlich Bücher las. Auch der Schluss, die Sicht der Mutter des ermordeten Konditors auf die Welt, darf vor dem Hintergrund der eigenen Mutter gesehen werden: „Um Gottswilln hilf ja koan! … Scho in der Stund drauf is er imstand und bringt di selba um!“ Denn letztlich ist es zwar der Hauptmann, der den Dobler in den Kopf schießt, ausgeliefert aber hat ihn Bürgermeister Reglinger, für den der Konditor sich als Mittler einsetzte, als der auf die Roten schoss, die sich seinem Hause näherten und der dann die Flucht ergriff.

Von des Bürgermeisters verborgenen Motiven heißt es: „Zuerst ein Held sein und im nächsten Augenblick das Gegenteil davon werden müssen, besonders wenn alle Leute es sehen, das verwinde ein Mannsbild absolut nicht.“ Der Hauptmann lässt seine Wut zunächst an der Villa aus, ehe er sich dem Konditor zuwendet, dem er das Wort verbietet, dem er einen Stoß ins Gesicht versetzt und ihn allein durch diese sein Opfer zutiefst überraschende Tat zu einer für alle unerwarteten Reaktion provoziert: „Da auf einmal fing der kleine Mensch zerstoßen zu weinen an, so unbegreiflich schmerzhaft heulte er, dass sogar die Soldaten eine Sekunde lang wie gelähmt stehenblieben.“ Es ist nur ein Augenblick, dann hat sich der Kriegsteilnehmer Dobler wieder im Griff. Eine Chance aber bekommt er nicht. Der uniformierte Mob braucht unbedingt ein Opfer, eine Art schnell mobilisierte Bürgerwehr aus dem Dorf wird erst tatenlos, dann fassungslos Zeuge mörderischen Geschehens. Oskar Maria Graf lüftet das Geheimnis nicht, was die Fremden in der Villa wirklich taten, er lüftet auch das Geheimnis nicht, über welche Bücher der Konditor mit seinen Gästen sprach. Die Nachwelt lüftete dagegen Geheimnisse seines Emigrantenlebens, auf deren Kenntnis ich gut verzichten könnte: „Er war besessen von schwarzer Seidenwäsche“ titelte die SÜDDEUTSCHE am 22. Juli 2008, sechs Tage später fand auch Julia Amalia Heyer im SPIEGEL diese Wäsche wichtig.

Graf ist nicht der Mann des dicken Zeigefingers in dieser Kalendergeschichte, der dezente reicht ihm: „Aber damals zeigte sich deutlich, dass Stadt und Land eben doch mehr zusammenhängen, als der Bauer gemeinhin annehmen will.“ Man könnte ihn als Beispiel missbrauchen vorzuführen, warum Feuilletonkritik auch, natürlich nicht nur deswegen, Romane gegenüber Erzählbänden klar bevorzugt. Benjamin erwähnt keine einzige der Geschichten, der Kritiker der NZZ, der sich 1995 den Exilgeschichten zuwandte, Anton Krättli, beschränkte sich auf eine, auf „Der Lehrer Männer“, mit guten Gründen und dennoch letztlich fragwürdig. Denn immer fühlt der jeweilige Betrachter den Zwang, gemeinsame Nenner zu finden. Das würde, einen Vergleich zur Pop History zu ziehen, bedeuten, in jedem Album ein Konzept-Album zu sehen, das in der Mehrzahl aller Fälle doch nur eine einfache Summe von soundso vielen Einzeltiteln darstellt, wie eben die B-Seite einer Single keineswegs zwangsweise einen inneren Bezug zur A-Seite haben muss, der gemeinsame Nenner ist der Autor, der Dichter, der Komponist, hier eben: Oskar Maria Graf. Schon: alle Geschichten spielen im Dorf, im zweiten Band: alle Geschichten spielen in der Stadt, sagt wenig mehr als: der Anschein einer Ordnung ist besser als der willkürlicher Reihung. Wem aber? Die Leser von Geschichten sind in der Lage, Geschichten als solche isoliert zu lesen, die nächste ist eine andere.

Kann ich 2017 über Oskar Maria Graf schreiben, ohne „Verbrennt mich!“ auch nur zu erwähnen? Am 12. Mai 1933 in Wien veröffentlicht, Weltruhm gewinnend? Kann ich der Versuchung widerstehen, eine dreiste Parallele zu ziehen zu einem fiktiven DDR-Schriftsteller, der in Wien via Presse das Ministerium für Staatssicherheit auffordert, ihn endlich mit vielen emsigen Spitzeln zu beobachten? Die Anti-Vergleichs-Front würde umgehend ins Signalhorn pusten. Immerhin, ich las vor einigen Tagen, wie ein Thüringer Kolumnist den Umstand, dass Oskar Maria Graf nach vielen Jahren im amerikanischen Exil angeblich noch immer kein Wort Englisch sprach, für die aktuelle Integrationsdebatte ausschlachtete. Ich stelle mir den Mann vor, der in Lederhose durch New York marschiert, der in Lederhose Gastgeber und Begleiter seiner 1934er Reise in die Sowjetunion irritiert und die Moskauer belustigt: „Der Mann mit dem Hütel“ betitelte 1994 Stefan Berkholz seinen Blick auf den Reisebericht, der erstmals 1974 publiziert wurde, sieben Jahre nach Grafs Tod. Erich Kästner soll sich geweigert haben, eine Laudatio auf Graf zu sprechen, weil der 1958 in München in Lederhose lesen wollte. Auch für einen Teil des Publikums war es ein Skandal. Dabei ist die Lederhose um Längen origineller als das ewige Existenzialisten-Schwarz, die ewigen Drei-Meter-Schals, die ewigen Hütchen und Mützlein, mit denen sich Marken-Menschen vermarkten.

Graf selber wusste eine sehr gute Antwort: „Aber ein Deutscher ohne Hitler ist wie ein Bayer ohne Lederhose.“ Als der Matthes & Seitz Verlag Berlin 2008 unter dem Titel „Manchmal kommt es, dass wir Mörder sein müssen“ einen sage und schreibe 504 Seiten dicken Band mit Gedichten von Oskar Maria Graf veröffentlichte, war niemand erschrocken. Marko Martin nutzte die grundgute Chance, den Band im Deutschlandradio Kultur und im RHEINISCHEN MERKUR heute seligen Angedenkens zu besprechen, zeitversetzt, versteht sich. Er hörte Anklänge an Walt Whitman, Brecht-Sound und Mascha Kaléko, auch Hans Sahls Exillyrik, erkannte ebenso ein lyrisches Repertoire von, ich las das Wort begeistert, „Minor Poets“ wie Immanuel Geibel und Justinus Kerner. Geibel hieß nun dummerweise Emanuel, genauer Franz Emanuel August Geibel, aber das sind die lässlichen Sünden, selbst wenn zwei verantwortliche Redakteure den Fehler ihres Texters nicht bemerken. Genusslektüre für Insider bietet tatsächlich der Reisebericht aus der Sowjetunion. Adam Scharrer kommt aus dem Kakao gar nicht heraus, in den ihn Graf tunkt, Klaus Mann ist dagegen scharf und ziemlich böse konturiert. Ganz hart trifft es Annemarie Schwarzenbach, die heute berühmter ist als je zu Lebzeiten, Erwin Piscator sieht nicht wirklich gut aus. Vielleicht wird mein Blick auf „Der Mittler“ ja ein Mittler neuen Interesses, ich bin jedenfalls neu gewonnen.


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