Daniil Granin: Die eigene Meinung

Der junge Ingenieur Olchowski hat einen Artikel geschrieben, in dem er nachweist, dass ein von Akademiemitglied Strojew konstruierter Motor zu einem Mehrverbrauch von Tausenden Tonnen Brennstoff führen würde. Diesen Artikel hat Minajew auf dem Tisch, der darauf wartet, zum Direktor berufen zu werden und Olchowskis Vorgesetzter ist. Minajew will den jungen Mann überreden, alle Anspielungen auf das Akademiemitglied aus dem Text zu tilgen und auch sonst den kritischen Teil zu überarbeiten. Der junge Mann weigert sich, er findet solche Forderungen und ihre Umsetzung, wenn sie erfolgen würde, prinzipienlos. Minajew gibt ihm nicht nur innerlich recht, er fühlt sich auch an seine eigene Jugend erinnert, als er noch das Komsomol-Abzeichen am Revers trug. Dennoch will er den Druck des Artikels auf alle Fälle verhindern, weil er genau weiß, welche Schwierigkeiten daraus für den Autor wie für ihn selbst erwachsen können und erwachsen werden. Die kurze Geschichte erzählt nun diesen konkreten Fall von Unterdrückung einer gewichtigen Wahrheit berichtend und beschreibend, nie kommentierend oder wertend, und erzielt so den Effekt, ein komplettes System sich selbst entlarven zu lassen. Hier entspricht Mikrostruktur in einer Weise Makrostruktur, dass man literaturhistorisch von einem Glücksfall für den Dichter sprechen darf.

„Die eigene Meinung“ ist auf deutsch zuerst 1956 erschienen, in der DDR natürlich, im Heft 7/8 der Berliner Zeitschrift „Freundschaft in Aktion“. Leider ist es mir nicht gelungen, zu dieser Zeitschrift auch nur die geringste Information ausfindig zu machen. Im Nachhinein ließe sich der kurze Text, der natürlich mit der so genannten Tauwetter-Literatur in Verbindung gebracht werden muss, für die DDR als die berühmte Schwalbe sehen, die allerdings nicht nur noch keinen Frühling macht, die sogar voller Furcht gesehen wird: ihr möge alles, nur kein Frühling folgen. Nur jene einseitigen, blinden, letztlich vor allem dummen Westsichten auf sowjetische Literatur, die ausschließlich Dissidenten und Systemkritiker als Schriftsteller und Dichter akzeptierten, wenn diese das Gulag-System mehr oder minder, meist minder, literarisch anprangerten, hatten kein Gespür dafür, dass man Fundamentalkritik am Sowjetsystem, am Sozialismus generell in seiner Ausprägung seit dem Oktober 1917 auch in ganz anderen Geschichten formulieren konnte: schlicht erzählend. Daniil Granin hat mit dieser kleinen, stofflich scheinbar sehr eng begrenzten Geschichte mehr als dreißig Jahre vor dem Ende des sozialistischen Weltsystems gezeigt, warum es nicht funktionierte und, was wichtiger ist, auch nicht funktionieren konnte. Personen bedeuten hier zugleich immer Strukturen.

Mir will es nicht als zufällig erscheinen, wenn im Feuilleton von NEUES DEUTSCHLAND heute Karlheinz Kasper (über den das Internet auch nicht die kleinste persönlich-biographische Information hergibt, was mich, ich gestehe es gern, immer erst nervös und dann misstrauisch macht) „Die eigene Meinung“ gewissermaßen kleinredet. Die Erzählung, so Kasper, „fokussiert den Mut des Wissenschaftlers, seine Überzeugungen gegen Widerstände zu verteidigen. Die parteinahe Kritik sah in dem Text ein unliebsames Produkt der „Tauwetterliteratur“.“ Mal abgesehen davon, dass es im real existierenden Sozialismus eine andere als parteinahe Kritik gar nicht gab, jedenfalls nicht als veröffentlichte Kritik, dass im Gegenteil sogar über Kritik aktiv manipulative Politik betrieben wurde seitens literaturferner Entscheider in diversen Parteiebenen und -gremien, nicht zuletzt auch im berüchtigten Ministerium für Staatssicherheit: selbst wenn es Granin tatsächlich nur um Mut bei Wissenschaftlern gegangen wäre: der in der DDR und ihren Bruderländern so sehr beliebte Balzac-Effekt, bisweilen auch an Fontane verifiziert, hätte ihn verführt und gezwungen, mehr und tiefer zu sehen und zu zeigen. Pars pro toto nannte das der längst aus der Mode gekommene Lateiner, ein literarisches Urprinzip, Teil steht für Ganzes, Einzelnes für Allgemeines.

Minajew ist es, der nicht das Haben, wohl aber das öffentliche Vertreten einer eigenen Meinung vor sich herschiebt, von immer wieder neuen Voraussetzungen abhängig macht mit dem immer gleichen Effekt: er lässt den jungen Olchowski hängen, beobachtet dessen Schwierigkeiten, toleriert die miesen Machenschaften kleiner und kleinster Funktionäre. Der Leser erlebt vorauseilenden Gehorsam in wundersamer Blüte. Schriftsteller und Künstler kannten das Phänomen in seiner Ausprägung als „Schere im Kopf“, sie schrieben gar nicht erst, was unerwünscht war. Funktionäre und kleine Leiter kannten das Phänomen und hatten es verinnerlicht, weil die Struktur des so genannten demokratischen Zentralismus ständig dafür sorgte, dass von oben nach unten hinein regiert, hinein entschieden wurde. Oben wurde entschieden, wer überhaupt zur Wahl kandidieren durfte, oben wurde entschieden, wer eine Funktion antreten sollte, oben wurde entschieden, wer eine Auszeichnung bekommen durfte, die selten nach Verdienst, oft nach vorgefassten Kriterien verteilt wurde. Wenn, beispielsweise, eine verdiente Lehrerin des Volkes gebraucht wurde, die Mitglied einer Blockpartei war, drei oder mehr Kinder hatte und sie allein erzog, dann gab es vielleicht nur eine im Bezirk, die bekam dann denn Orden, falls sie keine Westverwandtschaft hatte.

Zitieren wir ein wenig: „Eine Meinung zu haben allein genügt eben nicht, man braucht auch die entsprechende Stellung“. „In Gegenwart von Petrischtschew bekam Minajew stets das unerklärliche und beschämende Gefühl irgendeiner Schuld.“ „Minajew wusste, dass der Referent so redete, weil er annahm, Minajew wünsche, dass er so rede“. „Wir richten den Jungen zugrunde, nur weil er sein Recht so ungeschickt verteidigt.“ „... er berücksichtigte lediglich nicht, dass Loktew gerade wegen seiner Talentlosigkeit kein einziges gegen ihn gerichtetes Vorgehen ungestraft ließ.“ „Ich schreibe so, wie Sie es wünschen, damit ich später einmal schreiben kann, wie ich es für richtig halte.“ „Er schwor sich, alles zu ertragen. Er redete stupiden Dummköpfen nach dem Mund.“ „Das Schweigen ist die bequemste Form der Lüge.“ „Er wird immer Entschuldigungen bereit halten. Er wird immer bemüht sein, ehrlich zu sein ab morgen“. „Das einzige, was blieb, war ein Gefühl der Erwartung, ihm schien, als seien alle diese Jahre angefüllt gewesen mit endloser Erwartung.“ Drei Jahre war ich alt, als „Die eigene Meinung“ in der DDR erschien. Und doch habe ich, Satz für Satz, alles erlebt, was in dieser Geschichte steht, alles in der DDR, nichts in der Sowjetunion. Was für Granin spricht. Es ist Realität drinnen, von der er, als er schrieb, vielleicht nicht einmal ahnte, dass sie drin sei.

Noch heute kann man gewissermaßen nachträglich erschrecken, liest man von der Macht eines völlig bedeutungslosen Instrukteurs eines völlig untergeordneten Parteikomitees. Noch heute erinnere ich mich der Verklärung von meist kinnbärtigen uralten Akademie-Mitgliedern in sowjetischen Filmen, erinnere mich an dezente Informationen über die Veröffentlichungspflichten solcher „Akademiks“, wie sie genannt wurden und ihre tatsächlichen Veröffentlichungszahlen. Der stellvertretende Minister erkundigt sich bei Granin nach dem Inhalt eines Schreibens, es ist also unüblich, selbst zu lesen: wie viel Macht haben da Handlanger, Zuträger, Schleimspurkriecher im System. Der volkswirtschaftliche Nutzen, den die Wahrheit des jungen Ingenieurs verkörpert, gerät völlig aus dem Blickfeld. Für westlicher Leser ist sicher allein die Tatsache abschreckend, dass sich Literatur überhaupt mit solchen Stoffen befasst, man erfand vor 60 und mehr Jahren den Begriff „Literatur der Arbeitswelt“, um sie, wenn es sie schon gab, von der richtigen Literatur abzugrenzen. Man kann freilich weite Teile der Literatur des sozialistischen Ostens als Literatur der Arbeitswelt abtun, denn im Westen wird bis heute in Buch und Film selten gearbeitet, es sei denn, kreativ. In der DDR hat später Helga Königsdorf akademisch-wissenschaftliche Arbeit eindrucksvoll thematisiert.

Richard Christ (30. Dezember 1931 – 15. März 2013) hat in einem 1979 erschienenen Büchlein mit dem Titel „Schriftsteller über Weltliteratur“ zu Daniil Granin geschrieben. Erwähnt hat er den ganz frühen Roman „Bahnbrecher“ und, auffällig genug, die Reisebücher des Russen über Australien und Japan. Er hat, erfahren genug aus da schon dreißig DDR-Jahren, Sätze über Granin formuliert, bei denen man ahnen kann, was gemeint sein sollte: „Je mehr Vergleichsmöglichkeiten, desto stärker der intellektuelle Reiz, sich zu bekennen oder zu distanzieren“. Nicht einmal jenen DDR-Autor, den Granin nicht verstehen konnte, hat er namentlich erwähnt. Kollegialität, falsch verstanden? Bei einem doch wohl nachlesbaren Interview (das ich nicht kenne)? Der wirklichen Bedeutung Granins ist Christ bei allem Lob auffällig spürbar aus dem Weg gegangen. Noch einmal Granin selbst: „Er sprach Worte, an die er nicht glaubte. Er lobte, was zu tadeln war. Wenn es ganz unerträglich wurde, schwieg er. Das Schweigen ist die bequemste Form der Lüge.“ Das darf zweimal zitiert werden, wegen unseres: „Reden ist Silber, Schweigen Gold.“ Nur einmal hat Granin dann doch zu dick aufgetragen: bei der äußeren Charakterisierung des Referenten. Doch man soll über Tote nichts Schlechtes reden. Noch weniger, wenn sie fast 100 Jahre alt wurden wie Daniil Granin.


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