Ödön von Horváth: Rund um den Kongress

Vierzig Jahre brauchte es, bis Ödön von Horváths Posse „Rund um den Kongress“ aus dem Jahr 1929 erstmals auf einer Bühne zu sehen war. Die späte Uraufführung, der Autor war bereits seit 30 Jahren tot, gab es am 5. März 1969 im Theater im Belvedere in Wien, die Regie lag in den Händen von Irimbert Ganser. Es wurde eine bearbeitete Fassung gespielt, mit wenig Erfolg. Erstaufführung der Originalfassung war am 29. Januar 1970 am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden, Regie Horst Siede. Trotz schon beginnender „Horváth-Renaissance“, wie sie später genannt wurde: eine verspätete Bühnenkarriere, gar ein Siegeslauf der Posse folgte nicht. Bis heute wird sie sehr selten gespielt und wenn, dann nicht in dem, was man erste Häuser nennt. Am 11. Juni 1988 etwa hatte eine Inszenierung von Burkhart Siedhoff in Stuttgart Premiere, Theater tri-bühne. Und wie es der Zufall so will, bringt das Studierendentheater „Vogelfrei“ in Heidelberg die Posse Ende des Monats (Premiere ist am 29. Juni) neu in einer Freilichtaufführung. „Hinter allem steht die Frage: Wer profitiert von wessen Not und wer kann es sich leisten über die Dinge zu entscheiden, die ihn nicht betreffen?“ Gut möglich, dass mit genau dieser Fragestellung ein Zugang zum Stück gefunden wird, der auf der Basis der wenigen verbreiteten Interpretationen mir sonst nur schwer vorstellbar scheint.
 
Namen sind im Personenverzeichnis dieser „Posse in fünf Bildern“ rar, es gibt Männer mit einem Vornamen: Alfred und Ferdinand, sie sind Brüder. Es gibt einen Mann namens Schminke, kein Vorname, er ist Journalist und erscheint auch in anderen Horváth-Werken, ohne mit den anderen deckungsgleich zu sein. Es gibt Luise Gift mit Vor- und Nachnamen und das war es dann auch schon. Ein Fräulein spielt eine wichtige Rolle, sie ähnelt manchem Fräulein in Horváths Stücken, bleibt hier aber Fräulein und mehr nicht. Sonst treten auf: ein Kellner, der Generalsekretär, ein Hauptmann, ein Polizist, ein Präsident, die Vorsitzende, der Sanitätsrat, der Studienrat, einige Delegierte und zum Schluss: der Vertreter des Publikums. Der Kongress, von dem schon der Possen-Titel kündet, will, wie der Kellner sagt, „die Bekämpfung der Prostitution international organisieren mit besonderer Berücksichtigung des internationalen Mädchenhandels“. Die seltsame Zielstellung könnte man hier noch der möglicherweise ungelenken oder nur teilweise informierten Sprechweise des Kellners zuschreiben, der sonst meist danach fragt, ob jemand eine Tasse oder ein Kännchen Kaffee haben möchte. Wenig später aber, zu Beginn des dritten Bildes, kommt, nachdem aus dem Saal schon begeisterter Applaus erscholl, erstmals der Generalsekretär zu Wort.
 
Er spricht den Journalisten Schminke an: „Ich bin der Generalsekretär des internationalen Kongresses für internationale Bekämpfung der internationalen Prostitution und habe enorm zu tun.“ Schon der unmögliche Name des Kongresses ist nicht einmal mehr vielsagend, er ist allessagend. Und trotzdem (kleiner Hinweis: es handelt sich um eine Posse!) wird der Herr noch deutlicher: „So hat der Kongress bereits bis heute zwölf Unterausschüsse eingesetzt, die die Reihenfolge der zur Diskussion stehenden Programmpunkte bestimmen sollen.“ Kann danach noch irgendjemand annehmen, hier werde mit allem sozialkritischen Ernst, mit höchster politischer Klarheit etwas wie die Systemfrage verhandelt? Die Frage beantwortet sich von selbst, möchte man meinen. Und doch sind in Kommentaren zum Stück seltsamste Thesen aufgestellt worden, beginnend schon mit der Beschreibung, worum es im Text im Kern geht. Axel Fritz („Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit“, München 1973) blickt auf die Zusammensetzung des Kongresses, der „lässt in seiner Zusammensetzung und Gesinnung keine Zweifel über seine Natur aufkommen: die Vertretung kapitalistischer Interessen in enger Verbindung mit politischen unter dem Deckmantel eines scheinbaren Idealismus und in der Ausdrucksweise nichtssagender Verlautbarungen.“ Ist das so?
 
Wir erfahren in der Posse, wenn wir ehrlich sind, nichts über die tatsächliche „Zusammensetzung“ des Kongresses, einzelne Personen treten auf, von denen anzunehmen ist, dass Horváth sie nicht ohne Absicht aus der anonymen Delegierten/Teilnehmer-Menge herausgriff. Es sind exponierte Teilnehmer mit dem Potential, im Präsidium zu sitzen. Das besagt über die Teilnehmer in den hinteren Reihen nichts, die vielleicht vor allem an der schönen Reise mit kompletter Reisekosten-Rückerstattung  interessiert waren, die, falls sie, wie heute bei Großkongressen üblich, von allen Kontinenten kommen, möglicherweise ebenso gut zu einem internationalen Kongress zur internationalen Bekämpfung des internationalen Analphabetismus hätten reisen können (oder zu eine Welt-Klima-Konferenz??). Dann wäre die Aussage von Fritz nahezu prophetisch: „Horvath beweist in dieser Szene seinen Spürsinn für Problemkomplexe, die erst nach seinem Tode voll zur Auswirkung kamen.“ Noch zu Beginn der 90er Jahre erlebte ich Versammlungen, wo nach zwei Stunden weder die Tagesordnung noch die Geschäftsordnung ausdiskutiert waren, für beisitzende Journalisten, die gar nicht zwingend Schminke heißen müssen, der pure Berichterstatter-Albtraum. Ein solcher Kongress ist es, um den es „rund“ geht, die Posse heißt nicht „Mitten im Kongress“.
 
Zu Beginn erleben wir Ferdinand, der in der Kongress-Stadt fremd zu sein scheint, jedenfalls sucht er seinen Bruder Alfred, fragt sich irgendwie durch. Der Bruder scheint einen irgendwie dubiosen Ruf zu haben, jedenfalls hört Ferdinand kryptische Andeutungen und rätselhafte Auskünfte. Aber es werden Sätze geredet wie dieser von Luise Gift, die gleich nach Schminke ihren ersten Auftritt hat, Schminke ist schon als „schlechter Mensch“ benannt, bevor man irgendetwas von ihm weiß: „Ich trau mich oft nicht vors Haus. Besonders wenn alles beflaggt ist.“ Diese Luise kennt Alfred, nennt ihn einen Schuft, weil er sein Ehrenwort brach. Und was war das für eines? „Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er es niemandem sagen wird, dass ich mein Ehrenwort gebrochen habe.“ Und weiter: „Aber er will mich nicht ärgern, es ist ja bekannt, dass man sein Ehrenwort nicht halten kann.“ Und nun antwortet Ferdinand: „Ich erinner mich gern, weil ich gern melancholisch werd. Es wird so angenehm ruhig, wenn man an sein erstes gebrochenes Ehrenwort denkt.“ Und Luise gibt zurück: „Ich glaub, Sie sind ein guter Mensch.“ Das ist der Horváth-Ton, der unvergleichliche: die scheinbar abrupten Gedankensprünge, nicht zu Ende gesprochene Sätze, dieser Stilzug  ist mit „Pingpong-Spiel“ verglichen worden. Wird hier tatsächlich das Ethos des Ehrenworts verhandelt?
 
Zitieren wir noch einmal Axel Fritz: „Die Prostitution und ihre gesellschaftlichen Ursachen als Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Kapitalismus diskutiert Horvath in der Posse „Rund um den Kongress“, die ungefähr gleichzeitig mit dem „Ewigen Spießer“ 1929 entstanden ist.“ Diese Behauptung fußt einzig auf der stark fragwürdigen Annahme, der Journalist Schminke sei Marxist. Schwer zu sagen, was man früher in der Alt-Bundesrepublik schon für Marxismus hielt, obwohl es nur eine halb verdaute Phrase aus dem Klippschul-Wissen für Anfänger war, die da in den Dialog rutschte. Schminke fragt, das ist richtig, nach den gesellschaftlichen Ursachen der Prostitution, weniger wagt heute bei beliebigen gesellschaftlichen Phänomenen niemand mehr zu fragen, will er nicht als kompletter Depp dastehen, ist er aber deshalb ein Marxist, weil er so fragt? Dann wäre jeder Nachrichtentext, jeder SPIEGEL-Bericht ja marxistisch, der nicht das blinde Schicksal oder den sehenden lieben Gott für alles verantwortlich macht, was sich nicht gleich von selbst erklärt. Schminke ist also kein guter Zeuge, außerdem hat ihn Horváth gleich zu Beginn ja einen schlechten Menschen nennen lassen. Es wäre ein Seitenthema, kommentierende Vermutungen über Schminke zu untersuchen, der auch in anderen Horváth-Werken vorkommt.
 
Abermals Axel Fritz dazu, weil der zugleich auf andere Deutungen Bezug nimmt: „Die Figur des Schminke ist in ihrer Relation zum Autor nicht so einfach zu deuten. Die Berechtigung der Kritik am Kapitalismus ist nicht von der Hand zu weisen und dürfte die Kritik des Autors widerspiegeln. Schminkes zweideutiges Verhalten lässt aber auch auf eine Kritik des Autors an dieser Figur schließen. Außer seinem Mangel an Teilnahme für das Einzelschicksal kann man in seinem Handeln Spuren eben jener Mentalität sehen, die er angreift.“ Wie soll man diese Beschreibung der Figur Schminke deuten: „Er schreibt einen Aufklärungsartikel über die Prostitution für 18 Pfennig pro Zeile, der auf Gratis-Informationen von  Ferdinands inzwischen zugrunde gegangener Schwester beruht. Nach der Umfunktionierung des Stückschlusses in eine kleinbürgerliche Idylle interessiert er sich nur noch für den Börsenteil der Zeitung.“ War man 1973 in der alten Bundesrepublik der Meinung, Schreiben gegen Zeilenhonorar sei unmoralisch? War man gar der Meinung, das Nutzen unbezahlter Informationen aus privaten Quellen sei unmoralisch? Dann wäre das Kritische an diesem Schminke ja, dass er keinen Scheckbuch-Journalismus pflegte, was wiederum bei einem benannten Zeilenhonorar von 18 Pfennig nur vollkommen Ahnungslose denkbar finden könnten.
 
Schließlich, es tut mir leid, das sagen zu müssen, heißt der Mann Schminke. Vielleicht hätte er auch Schmock heißen können, mit aller literaturgeschichtlichen Last freilich, die am Namen hängt seit Gustav Freytags „Die Journalisten“. Die Frau, auf die Ferdinand unmittelbar nach Schminke im ersten Bild trifft, heißt Luise Gift. An welche Luisen mag Horváth gedacht haben, um seine mit diesem seltenen und doch wohl trotzdem sprechenden Familiennamen zu kombinieren? Ist das gar vollkommen aus meiner Luft gegriffen? Gift ist Gift, im Englischen aber Geschenk. Zwei Doktor-Arbeiten zieht Axel Fritz heran, eine aus Wien 1962, eine aus Frankfurt am Main 1970. Ohne dass man auch nur eine Zeile daraus gelesen haben muss, kann man sagen, dass beide Doktoranden, Gabriele Reuther und Wolfgang Boelke, schrieben, als von der Neuentdeckung Horváths noch nicht oder eben von ersten Anfängen zu reden war. Wenn sich also Gabriele Reuther tatsächlich dagegen verwahrt, dass Schminke als „Vertreter der kommunistischen Idee“ gedacht war, dann hat sie wohl recht. Zu vermuten, es liege Schminkes Verhalten „auch eine Kritik des Autors an einem gerade um diese Zeit durch Brechts Lehrstücke aktualisierten ideologischen Grundsatz des Marxismus zugrunde: nämlich dem Vorrang des Klassenschicksals vor dem Einzelschicksal“, geht in die Irre.
 
Bertolt Brecht war keiner, der ideologische Grundsätze des Marxismus aufstellte oder auch nur aktualisierte. Man kann, ohne die Geschichte zu stark zu vereinfachen, wohl sagen, dass in der genannten Zeit Brecht wie auch andere aus dem bürgerlichen Milieu sich parteipolitisch kommunistischen Positionen annähernde Schriftsteller oder Künstler einen demonstrativen Eifer an den Tag legten, weil ihnen immer das pseudoproletarische Misstrauen begegnete, das zu entkräften war. Brecht war, was längst bekannt ist, an purer Theorie so gut wie gar nicht interessiert, seine tatsächlichen Textkenntnisse an Marx, Engels, Lenin, Stalin hielten sich in engen Grenzen. Einen Grundsatz des Marxismus vom „Vorrang des Klassenschicksals vor dem Einzelschicksal“ hat es in der Theorie meines Wissens bei keinem „Klassiker“ je gegeben. Wenn die politische Praxis in Russland oder später in den Staaten des „real existierenden Sozialismus“ darauf hinauslief, war das so grundsatzfern wie unsere deutsche Realität heute vom Grundsatz, dass die Menschenwürde unantastbar sei. Ich halte es eher für denkbar, dass Horváth, sollte er je mit kommunistischen Grundsätzen geflirtet haben, von der Praxis der späten 20er und frühen 30er Jahre enttäuscht war, denn Horváth war sehr früh sehr klar Antifaschist, die Kommunisten aber sahen, Stalin folgend, den Kampf gegen der „Sozialfaschismus“ der SPD als zielführender und wichtiger an. Mit Folgen.
 
Doch zurück zur Posse. In der nämlich ist Ferdinands Bruder ein Mädchenhändler. Seit ich die Posse kenne, sehe ich den Mädchenhandel mit freundlicheren Augen. Denn dieser Alfred ist eher jener Strizzi, den man von Horváth kennt, in manchem sogar deren Urbild, denn nachweislich hat der Autor sogar wortwörtlich manches aus „Rund um den Kongress“ in andere Bühnen-Texte übernommen, auch in die sehr erfolgreichen und bis heute in den Spielplänen sich haltenden „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Nichts da mit jenen osteuropäischen Schwerverbrechern, die Mädchen aus den Ländern des alten Ostblocks in die Bordelle des freien Westeuropa exportieren in bestem geschäftlichen Einvernehmen mit hiesigen Rotlicht-Partnern. Bei Horváth geht es launig und gemütlich zu im Mädchenhandel, das Fräulein geht in vollem Bewusstsein und freiwillig und ohne Spuren ausgedrückter Zigaretten auf der Haut nach Südamerika. Man darf sogar fragen, was für ein Handel es sein soll, der nach dem Verkauf des einzigen Objektes notgedrungen sofort zum Erliegen käme. Von frühen Aktivitäten Alfreds erfahren wir wenig, von künftigen sogar gar nichts.
 
Bevor alles dem Höhepunkt zustrebt, der irgendwie keiner ist, immer wieder aberwitzige Sätze und knappe Dialoge: „Du sprichst so gewählt.“ „Das kommt wahrscheinlich daher, weil ich viel Romane gelesen hab.“ „Viel lesen ist ungesund.“ „Ich kannte mal einen, der schrieb Romane. In einem hübschen Blockhaus.“ „Man sieht jetzt sehr hübsche Blockhäuser.“ „In der Nähe liegt ein See.“ So geht es zu in dieser Posse, hier eben zwischen Luise Gift und dem Fräulein. Auch die Brüder reden so, Alfred zu Luise Gift: „Ich bin nur zufällig sein Bruder, er ist nämlich ein  Trottel.“ Alfred zum Fräulein, das er verkaufen will: „Wie kann man vor mir Angst haben? Ich hab ja vor mir selbst keine Angst!“ Und dann sagt Luise Gift auch einen Satz, den Horváth-Kenner natürlich im Ohr haben: „Ich bin ja ganz anders, aber ich komme so selten dazu.“ Ja, in „Zur schönen Aussicht“ wird er gesprochen, nur eben dort als Übernahme von hier, was seinerzeit niemand wissen konnte. Der Dialog, der Interpretenherzen höher schlagen lässt, findet sich im zweiten Bild: Ferdinand verrät seinem Bruder: „Mit hat nämlich der liebe Gott geholfen.“ Darauf Alfred: „Was verstehst du unter lieber Gott?“ Die berühmte Antwort: „Zweitausend Mark“. Darauf unschlagbar der Vorschlag: „Du könntest deinen lieben Gott verdoppeln.“ Im Mädchenhandel-Profit, heißt das.
 
Der Journalist Schminke wird mitten im dritten Bild nach vorheriger Bedrohung und Verwarnung standrechtlich erschossen, der Generalsekretär zitiert, ohne dessen Namen zu nennen, Franz Werfels Novellentitel: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ aus dem Jahr 1920, und kommentiert: „… auch sone Literatenerfindung!“ Welche noch? Kaum ist Schminke erschossen, beginnt er ein Gespräch mit dem kommandierenden Hauptmann. In Stücken, die Marxismus und Kapitalismus gegeneinander antreten lassen (angeblich), geht so etwas natürlich gar nicht, in einer Posse sehr wohl. In einer Posse ist es auch keineswegs windig, wenn sich eine Person aus dem Publikum in das Geschehen auf der Bühne mischt, denn in der alten Posse aus den Zeiten von Johann Nepomuk Nestroy war normaler Bühnenalltag, was später als V-Effekt in den 20er-Brecht-Jahren so tat, als wäre es der allerletzte Schrei. Da redete man von der Bühne her schon mal mit denen im Parkett, die antworteten und niemand ahnte, dass man so einfache Dinge später Interaktion mit dem Publikum nennen und Aufhebens davon machen würde. Wirklich dumm wird es erst dann, wenn aus solchen Wendungen wie der mit Schminke eine ideologisch-politische Unsicherheit des Autors gefolgert wird oder gar seine Ahnungslosigkeit, was eine Posse sei und was auf keinen Fall.
 
Wer vorsichtshalber einmal zwei bis drei Theaterlexika zu Rate zieht, was denn eine Posse sei, der findet viel, nur eine halbwegs klare Bestimmung nicht, dafür aber Aufzählungen von Arten und deren Vertreter, Verwandtschaftsaussagen, doch nicht einmal eine sprachliche Herleitung des Wortes Posse selbst. Das muss man nicht ausgerechnet Ödön von Horváth in die Schuhe schieben, dessen bewusster Rückbezug auf Nestroy zudem alles andere als ein Geheimnis ist. Alfred zu seinem Bruder: „Als kleiner Kaufmann erwürgt dich die Konkurrenz, aber schon mit einem halben lieben Gott in der Tasche kann man an die Gründung des Konzerns“, der Satz bricht ab. Das Thema „Horvath und der liebe Gott“ muss man sich nicht per Titelschutz sichern, es liegt auf der Hand. Gegen Ende des vierten Bildes verkündet der Generalsekretär: „Der Kongress hat soeben einstimmig beschlossen, Damen und Herren aus dem Personenkreise der Prostitution über die Prostitution zu befragen, um die Prostitution wirklich bekämpfen zu können.“ Und Ferdinand verrät seinem Bruder Alfred: „Das Fräulein war mal nämlich meine Frau.“ Für das fünfte und letzte Bild schreibt Horváth vor: „Der Kongress beim Bankett mit diskreter Tafelmusik von Mozart. Fressen und Saufen.“ Noch drei weitere Male folgt die lakonische Regieanweisung „Fressen und Saufen“.
 
Und schließlich mündet das Kongressgeschehen in die seltsame Befragung des Fräuleins vor ihrer Abreise nach Südamerika. Die Begründung für die Befragung ist lächerlich, die Fragen an das Fräulein sind läppisch und ihre Antworten belanglos. Der Kongress führt sich selbst ad absurdum, obwohl er längst absurd war. Der Hauptmann bringt mit seiner Vermutung, der erschossene und so weiter lebende Journalist Schminke könnte eine Jude sein, auch noch die zeitgenössische Probe an Antisemitismus ins Stück, der Präsident greift den Hinweis fast dankbar auf. Und plötzlich ist Schminke nicht nur eine Jude, sondern auch ein Bolschewist. Die Vorsitzende empört sich: „Alles auf das Materielle zurückzuführen, das hieße doch die Seele leugnen.“ Und als hätte Horváth das kommende Jahrhundert gleich mit vorausgesehen, lässt einen vierten Delegierten sagen: „Der Kongress lässt sich nicht nehmen, an der Zusammenarbeit der Völker symbolisch mitzuwirken.“ Solche Kongresse sind, schmerzliche Altbotschaft an heutige Kongress-Touristen aus aller Welt, Symbolpolitik, nicht Politik. Schminke greift das Stichwort des Dialogs zwischen Ferdinand und Alfred auf: „Man müsste den lieben Gott besser organisieren.“ Fast unvermeidlich, dass sich das Fräulein schließlich nicht vom Ex-Gatten Ferdinand aus dem Mädchenhandel retten lassen will.
 
Einen Fragebogen, mit dessen Hilfe der Kongress allen Ernstes 5000 Experten aus dem Bereich Mädchenhandel um Auskünfte bitten will, findet eine wiederum sehr bezeichnende Würdigung in der Aussage des Fräuleins: „Diese ganzen Fragen haben doch gar keinen Sinn – was man den Leuten antwortet, das glauben sie ja nicht.“ Und wieder stößt Horváth, richtig gelesen, hinein in eine Problematik, siehe oben, die erst nach seinem Tode zum Tragen kam: Umfragen werden nicht gemacht, um Meinungen zu erfahren, sondern sie zu bestätigen. Man muss nur die Fragen richtig formulieren, die Antworten kommen in einer Folgerichtigkeit, dass einem die Tränen in die Augen steigen müssen. Der Vertreter des Publikums will entweder sein Geld zurück oder einen richtigen Possen-Schluss: „Betrug ist eine Posse anzukündigen und derweil mit einem tragischen Klamauk zu enden.“ Für Kurt Bartsch bedeutet das: „Durch das gewaltsam erzwungene Schlusstableau mit unvermeidlicher Eheschließung werden sowohl die Erwartungshaltung des Publikums als auch die Gattungstradition ironisch thematisiert“. Dieter Hildebrandt resümiert: „Das Stück endet also mit der Desillusionierung der Illusion. Es war für Horváth ein lehrreicher Versuch.“ Das Publikum von heute müsste sich entscheiden, nicht an den falschen Stellen zu lachen, das bekäme Horváth gut.


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