Fontane sieht "Minna von Barnhelm"
Am 15. August 1870 trat Theodor Fontane sein Amt als ständiger Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“ an. Fast zwanzig Jahre lang füllte er es auf seine Weise aus, war ein eifriger Theatergänger, und ausschließlich für das Königliche Schauspiel zuständig. Als er Ende 1889 aufhörte, weit mehr als sechshundert Kritiken waren in all den Jahren entstanden, hinterließ er quasi im Nebeneffekt auch etwas wie eine subjektive Chronik des Hauses, in dem ihm der Platz mit der Nummer 23 reserviert war. Am 17. August 1870 sah er Schillers „Wilhelm Tell“, die erste in der langen Reihe seiner Arbeiten stand zwei Tage später im Blatt. Am 22. August sah er „Colberg“ seines Freundes Paul Heyse, der 1910 den Nobelpreis für Literatur erhielt und nicht weniger als 68 Bühnenwerke hinterließ. Auch hier stand die Kritik zwei Tage später im Blatt. Die Dokumentation „Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse“ präsentiert 154 Briefe der beiden aneinander, dazu einige Briefes Heyses an die Familie Fontane, und nicht weniger als zwanzig Besprechungen, die der Kritiker Fontane über Werke Heyses schrieb, darunter zwei über „Colberg“. Am 27. August 1870 sah Fontane „Minna von Barnhelm“, die Kritik stand am 30. August im Blatt.
Mit der neuen vierbändigen Sammlung der Theaterkritiken Fontanes im Rahmen der „Großen Brandenburger Ausgabe“, Titel „Theaterkritik 1870 – 1894“, die alle vorherigen Ausgaben, vor allem natürlich die oft arg willkürlich zusammengestellten Best-of-Auswahlen mit ihren zum Teil ärgerlichen Kürzungen im Text ersetzt, wird ein Überblick möglich, der neuartige Einblicke selbst für Fachleser ermöglicht. Der Genuss beim Lesen seiner Kritiken ist dabei schon vorausgesetzt. Die Herausgeberinnen Debora Helmer und Gabriele Radecke haben in Zusammenarbeit mit der Theodor-Fontane-Arbeitsstelle der Universität Göttingen ganze Arbeit geleistet, die ihren konzentriertesten Ausdruck natürlich im Band 4 findet, einem 900 Seiten starken Kommentar-Band, der - für mich - keinen Wunsch offen lässt. Die Namen von Darstellern, die hier nicht ermittelt werden konnten, sind wahrscheinlich nicht ermittelbar, die extreme Fülle an interessanten Zusatz-Informationen, für die man natürlich ein Interesse aufbringen muss, spricht für höchste Akribie. „Minna von Barnhelm“ sah und las Theodor Fontane auch schon lange vor seiner Tätigkeit als Kritiker, eine exakte Zahl hierzu ist nicht zu geben. Ganz exakt aber lässt sich sagen, dass er acht Kritiken verfasste zu Lessings Lustspiel, die letzte 18 Jahre nach der ersten: am 26. April 1888.
Eine erste gravierende Auffälligkeit seiner Besprechungen: Fontane schreibt nie über das Stück und seine Handlung, Fontane schreibt nie gar über den Autor Lessing, Streichfassungen scheint es damals nicht gegeben zu haben, er gibt jedenfalls keinerlei Hinweise darauf. Auch die beiden Hauptrollen Tellheim und Minna kommen nahezu nur in Randbemerkungen vor. Wer also gewöhnt ist, zunächst des langen und mehr oder minder breiten zu erfahren, worum es im Stück eigentlich geht, ist bei diesem Fontane an der falschen Adresse. Dass er andernorts anders verfährt, sagt vor allem eines: er setzte bei seinen Lesern, also denen der „Vossischen Zeitung“, schlicht voraus, dass sie wussten, wovon „Minna von Barnhelm“ handelt. Eine zweite, mit der ersten natürlich eng zusammenhängende Auffälligkeit: Fontane schafft es, ganze Kritiken einer einzigen Darstellerin oder einem einzigen Darsteller zu widmen (Frauen öfter!). Das tut er vor allem dann, wenn eine Rolle neu besetzt wurde, wenn es ein Gastspiel gibt. Und genau dann wird auch offenbar, wie oft er „Minna von Barnhelm“ gesehen haben muss, ohne dass daraus eine Theaterkritik wurde: er erinnert sich dann anderer Rollenauffassungen sowohl namentlich genannter als auch nicht genannter Mimen und gewinnt daraus bisweilen überraschende Aussagen, die auch als Credo zu lesen sind.
Als Fontane am 15. Januar 1856 aus London einen langen Brief an Gattin Emilie schreibt, um sie auf die Reise zu ihm vorzubereiten (von Berlin über Köln, Aachen, Oostende nach Dover), hängt er auch eine Bücher-Wunschliste an, die von Lessing nur „die drei berühmten Stücke“ erbittet. Am 29. November 1869 teilt er der Gattin mit, den Sohn Theo (3. November 1856 bis 16. Mai 1933) soeben ins Theater geschickt zu haben: in „Minna von Barnhelm“. Ein dritter Brief im Ehebriefwechsel der Fontanes, geschrieben am 21. September 1887, lenkt im Zusammenhang mit einem der bereits erwähnten Gastspiele den Blick auf etwas, was bei Fontane nur in privaten Schriftstücken klarer hervortritt: antisemitische Vorurteile, die spätestens seit dem 1998 erschienenen Buch von Michael Fleischer „Kommen Sie, Cohn.“ Fontane und die Judenfrage“ auch Gegenstand der Fontane-Literatur geworden sind. Hier vertraut Fontane seiner Frau an: „Heute Fräulein Lenau aus Wien; ich wette, dass nur die erste Sylbe richtig ist und dass sie Lewy heißt; sie spielt die Franziska, was der kl. Conrad einen Stich ins Herz geben wird, denn sie (die Lenau) soll ganz gut sein“. Diese Passage im Hinterkopf, versteht man besser, warum der Kritiker sich eine blonde Zofe Franziska wünscht.
So heißt es schon in der zweiten der acht Kritiken, gedruckt am 13. Mai 1875: „Die Franziskas, wenn sie ihre höchsten Triumphe feiern wollen, müssen typisch-germanisch sein.“ Am 2. Oktober 1885 las der Theaterfreund über diese Rolle: „Ich habe Franziskas gesehen, die mit dem gnädigen Fräulein in Haltung und Fräuleinschaft concurrirten, und andere, die nichts waren als das kokette Zöfchen aus der italienischen Komödie. Beides aber ist unthunlich.“ Anlässlich des Gastspiels der aus Frankfurt am Main gekommenen Marie Gündel schrieb Fontane (26. November 1887): „Sie vertritt äußerlich und innerlich den dunklen Rassentypus, der jetzt überall fast die Bühne beherrscht, … Denn die meisten und jedenfalls die dankbarsten und glänzendsten Rollen: Ophelia, Clärchen, Gretchen, Luise, zu denen sich auch Minna von Barnhelm gesellt, sind auf das blond Germanische gestellt und jede dunklere Künstlerin muss ein bestimmtes Plus von Talent mitbringen, lediglich um zunächst diese Dunkelheit zu balanzieren.“ Ehe man angesichts solcher Aussagen auf ein höheres Ross steigt, rufe man sich die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis: in Hollywood-Filmen Amerikas wie in Sowjet-Filmen mindestens bis zur Stalin-Zeit waren Helden und Heldinnen blond, die Bösen schwarzhaarig, oft mit in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen.
Aus heutiger Sicht bemerkenswert an Fontanes Minna-Kritiken ist auch die Zurückhaltung, die sie sich hinsichtlich von Aktualitätswerten des Lustspieles auferlegen. In der ersten Besprechung verwundert er sich noch, dass der eben noch nicht mehr als vier Wochen im Gang sich befindende deutsch-französische Krieg (19. Juli 1870 – 10. Mai 1871) keine Ressentiments wecken konnte: „Es war keine einzige Szene, die über ihre sonstige Wirkung hinaus, durch Tages-Stichworte die Herzen getroffen hätte.“ Und er lobt die Darsteller ausdrücklich dafür, dass sie keinerlei Öl ins Feuer gossen, die vielleicht schon versteckt glühten: „Man kann von den letztern füglich behaupten, dass sie, in erregter Zeit wie die gegenwärtige, es an mehr als einer Stelle in der Hand haben, den Beifall zu erzwingen, und es zeugt von künstlerischem Takt, sich dieses Vorrechts, dieser Machtstellung zu begeben.“ Bis heute gibt es Darsteller/innen, die, sicher nicht ohne Billigung der Regie, mit den allerplattesten Aktualitäten Beifall erzwingen wollen und das keineswegs nur im Sommertheater. Natürlich wusste Fontane: „Alles, was in hervorragendem Maße ein Zeitbild ist, ist auch immer in Gefahr, mit eben derselben Zeit, der es in eminenter Weise Ausdruck gab, vom Schauplatz abtreten zu müssen, und keine Klassizität der Sprache, keine Wahrheit der Charaktere, kein Glanz der Farbengebung sind imstande darüber ganz hinwegzuhelfen.“ Die Einschränkung „ganz“ ist wichtig.
Für die, siehe oben, in den acht Kritiken selten ausführlicher bedachte Titelrolle der Minna - „Die Rolle ist außerordentlich schwer“ - macht Fontane eine interessante Forderung auf: „Das Spiel hat hier der Dichtung nachzuhelfen und in Ton und Mienenspiel vieles zur Erscheinung zu bringen, was nur zwischen den Zeilen steht.“ Was Schwierigkeit, aber auch Dankbarkeit der Rollen in Lessings Lustspiel betrifft, hat Fontane klare Urteile. Etwa zum Riccaut: „Es ist eine dankbare, aber auch sehr schwierige Rolle, und eminent geeignet, einen erkennen zu lassen, was ein Künstler kann und nicht kann.“ Mit der Ergänzung: „Es wird sich aus der Rolle selbst schwerlich das ausschließliche oder auch nur das größere Recht der einen oder andern Auffassung beweisen lassen.“ Für solche Fälle ermahnt sich der Kritiker auch selbst, falls eine Rollenauffassung seinem Gefühl nicht entspricht: „Aber darüber hinaus darf man nicht gehen und aus einem blos abweichenden Geschmacke nicht das Recht zum Tadel herleiten wollen. Ein verbrannter Eierkuchen ist allemal zu tadeln, aber ob mit Zimt oder Muskatblüth überstreut, ist schließlich eine stets offen bleibende Frage.“ Wobei das kritische Bekenntnis zum Zimt durchaus nicht geheimgehalten werden muss.
Überhaupt betreibt Theodor Fontane, sein Tun betreffend, keine Versteckspiel. Im Anschluss an eine unterbliebene Schauspielschulaufführung der „Minna von Barnhelm“, die am 8. November 1878 hätte über die Bühne gehen sollen, schrieb er: „Wie der Dichter, ist auch der Kritiker von Stimmungen abhängig, und ohne der Mann der Ungerechtigkeiten oder gar Böswilligkeiten zu sein, kann er heute strenger urtheilen als morgen und umgekehrt.“ Das gehört ins Stammbuch aller Leser, die überhaupt Theaterkritiken wahrnehmen und des Köhlerglaubens sind, ein Kritiker müsse, weil er im Fall A milde blieb, nun auch im Fall B dieselbe Milde walten lassen. Nein, muss er nicht. Und das nicht nur wegen der auch stückabhängigen und theaterabhängigen Variabilität von Maßstäben, die Fontane natürlich zutiefst vertraut war. So hielt er am 13. Dezember 1888 für sich fest: „Ich muss für Lustspiele von Oskar Justinus (der übrigens inzwischen in Wien unter die altrömischen Klassiker versetzt wurde) andere Worte der Anerkennung haben, wie für Lessing's „Minna von Barnhelm“oder Kleist's „Zerbrochenen Krug“...“. Oskar Justinus, eigentlich Oskar Justinus Cohn (21. Februar 1839 – 6. August 1893) landete mit „Der Vereinsheld“ schon mit 22 Jahren einen ersten Bühnenerfolg in Breslau. Man achte auf „andere Worte“. Das ist keine Geschmacksfrage.
Immer wieder ist mir in meiner journalistischen Laufbahn aufgefallen, dass lokale Sportberichte über die Kreisliga gern Vokabular über die höchsten Spielklassen benutzen. Und das ist gar nicht anders, als wenn sich Premierenbesucher auf dem Heimweg aus einer provinziellen Kleinbühne mitteilen: „Der Horst“ habe heute wieder toll gespielt. In Wirklichkeit hat der Horst äußerst mäßig gespielt, er hat auch da, wie Fontane sagen würde, „outriert“ (übertrieben), wo es nicht geschehen sollte. Und dennoch würde einem solchen Darsteller gegenüber der Kritiker Fontane nie unerbittlich sein. Als er über das Gastspiel der aus Hamburg nach Berlin gekommenen Carola Bartoscheck als Franziska schrieb, hielt er ihr zugute, „dass ihr auf ihrem Entwicklungsgange die höheren Vorbilder oder, was eben so wichtig ist, die höher gestellten Ansprüche seitens eines kunstsinnigen und an ein Bestes gewöhntes Publikum gefehlt haben.“ Wer, mit anderen Worten, stets nur die Horste sieht, dem fehlen Maßstäbe, die er hätte, sähe er, heutige Namen zu nennen, bisweilen einen Ulrich Matthes, einen Klaus-Maria Brandauer oder einen Lars Eidinger. Fontane konnte sich sogar trauen (am 14. März 1882) seinen Lesern zu verraten, er habe nur den vierten Akt gesehen. Was heute gar nicht mehr ginge, weil Theater die Aktstruktur (inklusive Zwischenvorhänge) schlicht ignorieren.
In seiner fünften „Minna“-Kritik, am 2. Oktober 1885 gedruckt, registrierte Fontane, dass der Darsteller des Just, Ernst Krause, stark an Theodor Döring, einen früheren Just-Darsteller erinnerte und knüpfte daran eine, wie ich finde, höchst bemerkenswerte Verallgemeinerung: „Es ist damit wie mit dem Herübernehmen von Citaten. Ist etwas unübertrefflich gut gesagt, so muss man Abstand davon nehmen, es übertreffen zu wollen. Entlehnung kann Armut sein, aber auch feineres Kunstverständnis.“ Ich wiederhole das sehr gern: Entlehnung kann auch feineres Kunstverständnis sein! Also entlehnt auch Fontane, wenngleich nicht bei anderen Autoren in Falle der „Minna von Barnhelm“, wohl aber bei sich selbst, wenn er etwa die Wichtigkeit des ersten Eindrucks hinweist, auf der Bühne wie im Leben: die erste Rolle während eines Gastspiels beeinflusst das Urteil über die folgenden, ein unpassendes Kostüm während der ersten Gastrolle verschafft einem passenderen am zweiten Abend mehr Aufmerksamkeit. Lessings Minna begegnete Fontane auch bei anderen Gelegenheiten: in einem lebenden Bild, das anlässlich des hundertsten Jahrestages der Berliner Erstaufführung von „Emilia Galotti“ auf die Bühne gestellt wurde, in einem Prolog, den Julius Wolff (16. September 1834 – 3. Juni 1910) zum hundertsten Todestag Lessing ebenfalls für eine Aufführung von „Emilia Galotti“ dichtete. Zunächst nahm er sich den Prolog als Form vor.
„Das gewöhnliche Schicksal der Prologe zählt nicht zu den beneidenswerthen; in dem Gelärme Zuspätkommender gehen Form, Inhalt und Interesse gleichmäßig unter.“ Um dann gleich seinen immer wieder feinen Humor auf den Inhalt des Wolff-Textes zu wenden: „Der Dichter bezeichnet Minna von Barnhelm als des 7jährigen Krieges „schönste Beute“. So schön Minna v. Barnhelm ist, so zieh ich' doch Schlesien vor.“ Man kann, noch eine Perle aus den Minna-Kritiken, einen „Charakter übercharaktern“. Es kann passieren, dass sich „Darstellerin und Rolle auf halbem Wege entgegen“ kommen. „Herrn Grube's Riccaut gehört zu den besten, die ich gesehen, aber nicht zu den eindrucksvollsten, und das Bild seines Glücksritters wird meinem Gedächtniß über kurz oder lang wieder entschwinden.“ Es liegt zwar auf der Hand, dass das Eindrucksvollste keineswegs mit Selbstverständlichkeit auch das Beste ist, es hilft aber trotzdem, gelegentlich wieder darauf hingewiesen zu werden. Otto Brahm, den Fontane kannte und schätzte, sah Anfang Oktober 1883 eine „Minna von Barnhelm“, die nicht vom Platz 23 aus gesehen und besprochen wurde. Seine Sichtweise kann hier nicht Gegenstand sein, sie bestätigt aber, wie unkokett Fontanes Aussage war, in Brahm den kompetenteren Fachmann zu sehen. Was eben gerade nicht gegen Fontane spricht.
Fontane schrieb am 2. Mai 1873, nach knapp drei Jahren Kritiker-Erfahrung, an den Schauspieler Maximilian Ludwig: „Meine Berechtigung zu meinem Metier ruht auf einem, was mir der Himmel mit in die Wiege gelegt hat: Feinfühligkeit künstlerischen Dingen gegenüber. An diese meine Eigenschaft hab' ich einen festen Glauben; hätt' ich ihn nicht, so legte ich heute noch meine Feder als Kritiker nieder.“ Von seinem Platz 23, der alles andere als ein privilegierter war, lesen wir aus der genannten Feder: „Für den Eitlen war Nummer 23 ein kurilischer Stuhl, für den weniger Eitlen ein Armesünderbänkchen. Denn man bilde sich nur nicht ein, dass ein Theaterkritiker ein Richter ist, weit öfter ist er ein Angeklagter. „Da sitzt dieses Scheusal wieder“, habe ich sehr oft auf den Gesichtern gelesen“. Es hat ihn nicht gehindert, viele Stücke wieder und wieder zu sehen. An manche wird man überhaupt erst wieder erinnert, wenn man in den Sammelbänden blättert oder auch systematisch sucht. Was Lessing betrifft, kam die „Minna von Barnhelm“ für Theodor Fontane nur auf Platz 2 ein. Die „Emilia Galotti“ sah er öfter und schrieb nicht weniger als vierzehnmal über das bürgerliche Trauerspiel, das bis heute nicht aus den Spielplänen verschwunden ist. Zum Glück.