Richard Billinger: Rauhnacht

Liest man, dass Richard Billinger (20. Juli 1890 – 7. Juni 1965) von Januar bis März 1935 in Haft war wegen seiner Homosexualität und in München nur deshalb einer Verurteilung entging, weil sich Heinrich Himmler persönlich für ihn einsetzte, will sich ein komisches Gefühl nicht unterdrücken lassen: kein halbes Jahr zuvor hatte die SS mit einer SA-Spitze blutig aufgeräumt, in der auch die Homosexualität einen, wenn auch nur nebensächlichen, Anlass geliefert hatte. Billinger fehlt in dem sonst sehr personenreichen Nachschlagewerk „Mann für Mann“ von Bernd-Ulrich Hergemöller völlig, das, wie der Suhrkamp Verlag wirbt, „einen umfassenden und überraschenden Blick“ darauf wirft, „wie Männer seit dem frühen Mittelalter im deutschen Sprachraum mit „mannmännlicher“ Liebe und Sexualität umgegangen sind“. Es kann und soll hier nicht spekuliert werden, was als Grund gesehen werden könnte für den auffälligen weißen Fleck in diesem biographischen Lexikon. Der Bauernsohn aus St. Marienkirchen bei Schärding vermochte ganz sicher seine Neigungen im oberösterreichischen Innviertel sehr viel weniger oder gar nicht auszuleben als in einer großen Stadt wie etwa Berlin. Dorthin führt uns Carl Zuckmayer, wenn er von Billinger zu erzählen beginnt.

So „…hatte ich, zu meinem Staunen, immer noch Geld – mehr, als man in der Tasche tragen konnte. Aber der österreichische Dichter Richard Billinger, von dem damals erst ein dünner Band mit berückend schönen Gedichten „Über die Äcker“ erschienen war, hatte keines. Er saß in Berlin, hatte alle Vorschuss- und Anleihemöglichkeiten erschöpft und mühte sich mit dramatischen Versuchen. So lud ich ihn ein, den Frühling – es war das Jahr 1926 – mit uns auf der Ostseeinsel Hiddensee zu verbringen, wo wir ein kleines Haus in den Dünen gemietet hatten, unweit von Gerhart Hauptmanns damaligem Besitz“. Wir, das war das Ehepaar Zuckmayer, und Billinger, so erfährt der Leser des autobiographischen Rückblicks „Als wär‘s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft“, bedankte sich mit einer Geschichte von einer leer stehenden Mühle im Salzburgischen nahe Henndorf. Die kaufte sich Zuckmayer tatsächlich fast umgehend noch im Jahr 1926 und blieb sicher auch deshalb bei allen eintretenden Schwankungen, deren Gründe vor allem Billinger lieferte, diesem verbunden. Seine Gedichte schätzte er übrigens noch im Alter mehr als die meisten Gedichte der Zeitgenossen. Noch 1936 sah er ein Billinger-Stück in Berlin zugleich mit Goebbels, Goering und Himmler.

Welches Stück es war, in dem Käthe Dorsch die Hauptrolle spielte, verschweigt der rückblickende Zuckmayer leider, dafür erzählt er, dass die Mimin bereit gewesen wäre, bei Goering persönlich für ihn zu weinen, wenn das Regime ihn „gekascht“ hätte. „Rauhnacht“ wird es sicher nicht gewesen sein. Das „Schauspiel in fünf Aufzügen“ erlebte seine Uraufführung am 10. Oktober 1931 in den Münchner Kammerspielen, Regie Otto Falckenberg. Unter den Zuschauern saß Klaus Mann, der lapidar in seinem Tagebuch notierte: „Abends Uraufführung: Richard Billingers „Rauhnacht. Hysterisches Bauernstück mit Lustmord – schwer erträglich.“ Andere Prominente sahen das Stück wohlwollender. So Erich Kästner die Berliner Inszenierung: „Dieses eindrucksvolle Stück vermittelt sehr wenig dramatisches Geschehen, dafür aber um so mehr und in ungewöhnlich suggestiver Weise Stimmung und Atmosphäre des Tiroler Bauerntums. Man erlebt den Zusammenprall heidnischer und christlicher Weihnachtsbräuche, man nimmt teil an den ekstatischen Umzügen der Bauern und Mädchen; ein Mord geschieht, ein Hof brennt ab, die festliche Wildheit weicht dem Alltag. Billingers Figuren wurden von Fehling, diesem besonders deutschen Regisseur, beängstigend lebendig gemacht. Die Aufführung gehört zu den stärksten der letzten Jahre.“

Überflüssig anzumerken, dass für einen in Leipzig schreibenden Dresdner wie Kästner offenbar zwischen Tirol und Oberösterreich keine erwähnenswerten Unterschiede existierten. Ähnlich erkennen noch heute Berliner und alle, die so tun, als seien sie welche, nicht, wann ein Thüringer, wann ein Sachse zu ihnen spricht. Für Klaus Mann dagegen scheint sein Urteil nachgewirkt zu haben: ich fand in meiner langen Reihe von Klaus-Mann-Büchern keinen weiteren Verweis auf Billinger. Dass Entwürfe für Masken, Kostüme und Bühnenbild der Uraufführung in München von Alfred Kubin stammten, ist mehr als nur ein erwähnenswertes Detail. Und Kästners Bemerkung erweiterte Günther Rühle viel später zum verallgemeinerten Fazit, Billinger „schien eine unter den Dramatikern lang entbehrte urwüchsige Natur. … Seine Inszenierung wurde der zweite große Regiewurf Fehlings nach dem „Blauen Boll“… und eine der letzten großen Bühnenleistungen des Theaters in der Republik.“ Jürgen Fehling nahm sich der „Rauhnacht“ an, nachdem der große Mime Werner Krauß die Falckenberg-Inszenierung in München gesehen hatte, Krauß gab dann auch den Simon Kreuzhalter, den in München Ewald Balser spielte. Die Rolle der Kreszenz, Käthe Gold in München, übernahm in Berlin Luise Ullrich, deren Namen ich, wann immer, gern hinschreibe.

Carl Zuckmayer, Obmann für die Vergabe des renommierten Kleist-Preises für das Jahr 1931, hätte dem Freunde Billinger diesen Preis zugesprochen, wie er später schrieb, entschied sich dann aber doch lieber für Ödön von Horvath. Seine Begründung: „Ich glaube, er hatte kein Verhältnis zu seiner Zeit – kein politisches, kein gedankliches, nicht einmal ein emotionelles. Daraus ergab sich für seine Dichtung eine schöne Zeitlosigkeit, für seine Persönlichkeit und seinen Charakter etwas Ungewisses, Verschwommenes.“ Den Kleist-Preis bekam Billinger dann doch noch, nur ein Jahr später: für die Vergabe war jetzt Erich Ziegel zuständig, der in der deutschen Theatergeschichte eine überragende Rolle gespielt hat und mit 18 Jahren, dies für Lokalpatrioten, in Meiningen debütierte. Er war es, der unter anderem Gustav Gründgens entdeckte und ihm den Weg ebnete, was dieser ihm später vergalt, indem er ihn an das nun von ihm geleitete Preußische Staatstheater holte und ihn dort erfolgreich schützte vor den Gefahren, die Ziegel wegen seiner jüdischen Gattin Mirjam Horwitz bedrohten. Ziegel und Gattin überlebten das Dritte Reich, er starb 1950, sie 1967, beider Grab ist in Hamburg-Ohlsdorf zu finden, man muss wie immer dort nur etwas Zeit zum Suchen mitbringen.

Dass Erich Ziegel den Preis teilte, eine Hälfte für die „Rauhnacht“, die andere für das bis dahin vorliegende Lebenswerk von Else Lasker-Schüler, entwertet die Vergabe natürlich nicht. Oskar Maurus Fontana sah 1932 eine Inszenierung in Wien: „Richard Billingers „Rauhnacht“ ist eine szenische Ballade. Sie kommt aus dem Lyrischen und mündet immer wieder in dieses Lauschen auf die innere Musik von Menschen, Geschehnissen und Schicksalen. Daneben ist in Billinger wirksam eine scharfe Beobachtung und Profilierung kleiner menschlicher Einzelzüge, wunderlicher Individuen und grausamer Wirklichkeiten.“ Liest man das Stück heute, fällt es schwer, mir auf alle Fälle, sich vorzustellen, dass solch eine Geschichte allen Ernstes in der Zeit spielen soll, die nicht ganz exakt benannt wird, aber sich ungefähr datieren lässt: die beiden Söhne der Dorfkrämerin mit dem seltsamen Namen Waldhör sind am Tag, der in die Rauhnacht mündet, genau zwölf Jahre tot, gefallen im Weltkrieg. Das kann frühestens 1914, spätestens 1917 gewesen sein, also schreiben wir eines der Jahre von 1926 bis 1929. Ins namenlose Dorf im Innviertel ist Simon Kreuzhalter aus Afrika zurückgekehrt, wo er missionarisch tätig war. Im Dorf betrachtet man ihn voller Distanz, teilweise wie den Teufel selbst, er bewohnt ein Bauernhaus mit einer Haushälterin aus Wien.

Im Dorf verbringt auch eine junge Dame ihre Ferien, die sich sonst im Stift der englischen Fräulein befindet und dort ihre Ausbildung erfährt. Wäre sie eine Katze, ein Gedanke, den der Feminist nicht einmal denken darf natürlich, dann würde man ihren Zustand am Tag der Rauhnacht als „rollig“ bezeichnen. „Diese Menschen sind uns fremd, aber plötzlich sprechen sie einige Sätze, die uns eben das Menschliche dieser Menschen nahebringen. Hier deckt sich manchmal Gestaltungskraft mit Milieutreue.“ Schrieb der Kritiker Rolf Nürnberg im Berliner „12-Uhr-Blatt“, den ich schon deshalb gern zitiere, weil er der einzige mir bekannte Theaterkritiker war, der zugleich neben dem Ressort Theater dem Sport vorstand und mit einem Buch über Max Schmeling hervortrat. Kreszenz also, Tochter der Frau Waldhör, Schwester des im Kriege verstümmelten Bruders Alexander Waldhör, will unbedingt die Rauhnacht erleben, sie bibbert geradezu vor Aufregung und ist bereit, die Stimme ihrer Mutter zu ignorieren, die wegen des Gedenkens an die toten Söhne/Brüder jede Teilnahme an dieser Lustbarkeit verbietet. Richard Billinger hat eine gewaltige Personnage für sein Spiel vorgesehen, manche der Rollen sind nur ganz winzig, ein Frage, eine Antwort, mehr nicht.

Aus heutiger Sicht besonders auffallend: die Zahl der Frauenrollen, die ihren Darstellerinnen gute Gelegenheit boten, sich auszuzeichnen. Zeitgenössische Kritiken reflektieren das indirekt, indem sie zuerst und zum Teil sehr ausführlich, zum Teil sogar ausschließlich diese Rollen besprachen. 90 Jahre nach dem großen Bühnenerfolg der „Rauhnacht“ ist dennoch Carl Zuckmayer zuzustimmen, der nach Billingers Tod schrieb: „Ich fürchte, es wird schwer sein, ihn heute wieder zu spielen oder zu lesen – obwohl seine Gedichte schöner sind und bleiben als die meisten heutigen. Aber für reine Naivität gibt es heute kein aufnehmendes oder gleichgestimmtes Organ, weder in der Literatur noch beim Theater, auch nicht die gleichgestimmten Schauspieler“. Es sei immerhin festgehalten, dass bezüglich der Lyrik Zuckmayer keineswegs allein stand mit seiner Hochschätzung, auch der ganz anders geartete Hermann Hesse war des Lobes voll. Für die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb er Ende 1929: „Und im gleichen Inselverlag ist ein erstaunliches neues Gedichtbuch erschienen, Richard Billingers Gedichte, darin stehen beglückende Sachen. Dieser neue Dichter ist bald ein Kind, bald ein Weiser, bald ein oberösterreichischer Hirtenbub, bald ein Grieche“. Im März 1931 legte er für „Der Bücherwurm“ sogar noch einmal nach, kannte da auch schon die „Rauhnacht“.

„Billingers Gedichte, das kräftigste, rassigste neue Gedichtbuch, das ich seit Jahren kennengelernt habe, sind schon in dritter Auflage erschienen. … In der Welt dieses bäurischen Dichters, in der es oft so vollkommen antik klingt, geht es wunderlich lebendig, verzaubert und unterirdisch bewegt zu, es rauscht Blut durch Halm und Stamm, es blutet der Heiland unter vielen Symbolen, es sind Boden, Himmel, Gewächs, Gerät und Menschenerlebnisse brüderlich beieinander.“ Zu den Dramen „Rosse“ und „Rauhnacht“ erlegt sich Hesse jedoch Zurückhaltung auf: „Die Dramen kann ich nicht auf ihren Theaterwert hin prüfen, ich verstehe nichts davon, wohl aber verstehe ich die Bildkraft und Phantasie, die auch in ihnen schafft, und liebe sie sehr. Gedichte von Billinger sind für mich nicht bloß ein Stück Natur, sondern ebenso sehr ein Stück alter deutscher Kultur, heidnischer, christlicher, bäurischer und zuweilen, in einzelnen Versen, tönt es groß und würdig, dass man an die Griechen und auch an Hölderlin denkt.“ Ob man diesem hochgreifenden Vergleich folgen mag oder nicht, Hesses Wertschätzung hat mit dem Namen Hölderlin eine Dimension bekommen. Wovon er angeblich nichts verstand, ist nachzulesen in „Hermann Hesse und das Theater“ von Peter Huber.

Was im Schlafzimmer des Bauernhauses von Simon Kreuzhalter am Ende des dritten Aktes geschieht, überlässt Richard Billinger der Phantasie seiner Leser und Zuschauer. Von Kreszenz liest man: „Geht, einem Opferlamme gleichend, einer Märtyrerin, in die Schlafkammer“. Eine hohe Hürde für die Darstellerin, das vorausdeutend zu zeigen. Von Simon Kreuzhalter heißt es zu Beginn des vierten Aufzuges: „schreitet aus der Schlafkammer; er scheint fast herauszutorkeln. Er hält sich mühsam aufrecht. Ächzt. Er taumelt.“ Auch hier eine hohe Hürde für den Darsteller, wenn es nicht in melodramatisches Moritaten-Gehabe kippen will. Denn zwischen beiden Beschreibungen des Regietextes liegt ein Mord: Lustmord, liest man allenthalben in den zeitgenössischen Darstellungen. Das Wort Lustmord ist, zu Recht, aus der Mode gekommen, denn Fälle dieser Art stehen heute und wohl für immer in Zusammenhängen für den Täter, die Täterin (sehr seltener Fall), die mit dem enden, was man dauernde Sicherheitsverwahrung nennt bei mehr oder minder klar eingeschränkter Schuldfähigkeit des Täters. Darum scheint es sich bei diesem seltsam getriebenen Mörder aber gerade nicht zu handeln. Nach dem erkennbaren Willen seines Schöpfers Billinger jedenfalls nicht.

Der nimmt es dann mit der weiteren Logik des Geschehens nicht sehr genau: einer, der gar nichts sehen konnte, weiß von hundert Messerstichen. Die Rauhnachtler treiben den Mörder in den Inn, es gibt also schließlich zwei Tote und wieder Gerüchte, der Simon sei es gar nicht, erst Polizist Knapil bestätigt es endgültig. Der Küchenpsychologe wird vielleicht ins Feld führen, dass die Begeisterung für diese Art nicht-intellektuellen Urtalentes inmitten überhitzter Intellektualität in Berlin oder München ausschließlich zeitgeistig war. Übersättigungen führen mit schöner Regelmäßigkeit zu neuen Hungrigkeiten. „Es gibt Stücke und Aufführungen, an denen sich plötzlich die Zeit zu erkennen gibt.“ Wusste Günther Rühle und man kann ihm zustimmen, wenn man die Zeit der endenden Weimarer Republik in ihrer vielfältigen Widersprüchlichkeit sieht: nicht auf eine oder zwei Strömungen reduziert. In der Akademie tobte der Kampf, in den Medien, damals noch vor allem den Zeitungen, in den Theatern. Billinger verkörpert eine Linie, die dann in den Jahren 1933 bis 1945 zu missverständlicher Blüte gelangte: Blut und Boden sind die Stichworte, die eher in die Irre führen als erhellen. Die Nazis jedenfalls mochten Richard Billinger, das bleibt unbestreitbar.

„Der Schriftsteller hatte sich festgelegt: Die Welt der Bauern und der Dörfler blieb, bis auf wenige Ausnahmen, sein Thema.“ Resümierten Hans Sarkowicz und Alf Mentzer in ihrem Buch „Literatur in Nazi-Deutschland“. In der DDR war Billinger weitestgehend eine Unperson. Das in einer recht hohen Auflage erschienene Nachschlagewerk „Deutschsprachige Literatur im Überblick“ deutet nur auf „antikommunistischen Schwachsinn“ seiner „Donauballade“ aus den späteren 50ern. Die allerdings auch von den selbst durchaus antikommunistischen Großkritikern Österreichs, von Friedrich Torberg und Hans Weigel, in Bausch und Bogen verrissen wurde. Weigel ging sogar noch weiter und weitete sein Urteil in eine Anklage des Zeitgeistes in seinem Lande aus: „Warum bemüht man sich hierzulande immer wieder, als Mitwelt und selbst als Nachwelt, um die Unrechten?! Warum echauffieren sich die guten Linzer und Oberösterreicher um den peinlichen Billinger und den fatalen Bahr, statt die unbehauste große Stifter-Gesamtausgabe endlich würdig zu betreuen?“ 2020 kann es keine Aufgabe sein, den guten Linzern und Oberösterreichern weltliche Absolution zu erteilen. Billinger würde es ohnehin nicht mehr helfen. Aber „Rauhnacht“ war einst ein Ereignis.


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